Adam Karrillon
Die Mühle zu Husterloh
Adam Karrillon

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16. Kapitel

Bis zur zwölften Stunde des Sonntags hatten Hansens solide Grundsätze erfolgreich das Eindringen einer leichteren Lebensauffassung abgewehrt. Nun kam die Wendung. Man machte einen Ausflug nach einer im Waldesschatten versteckten Burgruine. Rechts und links vom Wege standen hundertjährige Kiefern, schwenkten die dunkelgrünen Äste im säuselnden Winde, beugten die hohen Wipfel und raunten mit flüsternden Tönen die wundersame Märe von der Liebe Freud und Leid in längst verklungenen Tagen. Das junge Volk der Studenten schien dafür kein Ohr zu haben, aber Gefühl genug, um der harten Straße auszuweichen und den Moosteppich des Waldes zu benutzen, der den Füßen sein Fließ bot, weich und mollig wie der Rücken eines Angoraschafes. In Gruppen aufgelöst, so wie man sich voneinander angezogen und abgestoßen fühlte, irrte die liebe Jugend auf pfadloser Bahn der Schloßruine zu, deren hohe Mauerreste traumverloren hinausschauten über dunkel bewaldete Bergesrücken, hellgrüne Saaten, blühende Wiesen und über das Silberband des Stromes, den man hier und da in weiter Ferne zwischen breit hingebetteten 146 Dörfern hervorblitzen sah. Im grasbewachsenen Schloßhof und auf den abbröckelnden Mauern, sonst so still und verträumt, war das Sonntagsleben erwacht, und aus den Öffnungen des niedrigen Kellergewölbes klang verheißungsvoll der Klang des Schlegels, der an alten Fässern klopfte.

Kunz Josehans, der Kastellan, führte die Woche über das Leben eines Einsiedlers, und mehr Wein, als er selber trank und seine durstige Gattin, gurgelte nicht aus den Krahnen seiner Fässer. Aber am Samstag schon, da begann in der alten Ordenskomturei ein gewaltiges Leben. Der Hausherr klebte mit Eiweiß unrechte Etiketten auf unrechte Flaschen, und wenn es wahr wäre, daß zwei Verneinungen eine starke Bejahung gäben, so hätte er seinen Gästen einen rechten Wein vorsetzen können. Die Hausfrau hantierte vor dem Backofen und half diesem, Streuseltorten und Natronkuchen zur Welt bringen; ersteren für gewöhnliche Menschen, den letzteren für die feinere Gesellschaft, die der Sonntag heraufführen konnte. Zu der bevorzugten Klasse gehörten die Förster und Apotheker der Nachbarschaft, mehrere Ärzte und Richter, ein Kommerzienrat, vor allem aber eine erkleckliche Anzahl von Witwen, denen ihre Männer außer einigen hochtrabenden Titeln und einigen heiratsfähigen Töchtern zumeist nur wenig hinterlassen hatten. Diese Herrschaften kannten sich gegenseitig und ihre Lebensgewohnheiten aufs genauste. Sie wußten, bei welchen Gelegenheiten man ohne große Ausgaben nach was aussehen, billig essen und trinken und doch hernach mit Ruhmredigkeit erzählen konnte, was alles man am letzten Sonntag sich wieder geleistet habe.

147 So kam's, daß diese Herrschaften ohne eine Spur von Verabredung sich auch immer wieder trafen, und dann gab's nichts Ergötzlicheres, als die ehrliche Verwunderung mit anzusehen über das Schicksal, das es gerade so und nicht anders gefügt hatte, daß man sich gerade hier und nicht wo anders treffen mußte.

Eine solche Gesellschaft saß an dem Sonntag, den meine freundlichen Leser in Begleitung der Gelbkappen etwa bis zur vierten Nachmittagsstunde durchlebt haben, im Burghof um einen sauber gedeckten Tisch. Über ihren Häuptern wiegte eine Gruppe von Birken ihre hellgrünen Zweige im sonnigen Südwind, und neugieriger Goldregen, der aus den Ritzen der Mauer herausstrebte, neigte sich über den Tisch, als ob er einmal sehen wollte, wieviel Zucker die Herrschaften noch in der vernickelten Dose übrig gelassen hätten. Denn der Kaffee war bereits getrunken. Die Damen hatten mit zierlichen Servietten die Kuchenkrümel vom Tische in die Hohlhand gekehrt und dem Hauptimbisse nachgeschickt. Auf dem Pflaster des Burghofes stritten sich einige dreiste Meisen um das, was daneben gefallen war.

Während die Herren die Weinkarte musterten, aber nichts bestellten, die Zigarrenspitzen abschnitten, ohne anzuzünden und die Damen nach Handarbeiten in ihren Arbeitsbeuteln suchten, sahen die Mädchen mit gespannter Aufmerksamkeit nach dem alten Ausfalltor der Burg und seinem Fallgatter, als ob sie von dorther irgend etwas erwarteten, was dem langweiligen Gespräche über 148 Pfarrgehälter und Beförderungsaussichten der Forstassessoren den Hals brechen könnte. Richtig, da mit einem Male kam's wie eine Erscheinung aus einer besseren Welt. – Holofernes, der riesige Neufundländer, gestreift fast wie ein Zebra, setzte mit einem kühnen Sprunge durch das Tor, kam an den Tisch, machte seine Reverenz erst vor der Gesellschaft im Ganzen, dann vor jedem einzelnen Mitglied und sah zuweilen nach dem Tore hin, als ob er sagen wollte: »Lange werden sie nicht mehr bleiben, eigentlich könnten sie schon da sein,« und dann reckte er sich, wie so die warmen, zarten Mädchenhände dankbar schmeichelnd über seinen Rücken fuhren, und als gar die ersten seiner vielen Herren durchs Tor traten, bellte er zornig Wau – Wau – und seine herausfordernde Haltung erklärte bestimmt: »Ich weiß schon, daß ihr hier Eigentumsrechte erwerben könnt, aber vorläufig habe ich den Nießbrauch.«

Die Gelbkappen kamen einzeln und truppweise, wie es sich gerade gab, dem Tische näher, nahmen die Mützen ab, verbeugten sich grüßend vor den Herrschaften und begaben sich dann nach einem anderen Tische, der gleichfalls sauber gedeckt und auf Gäste wartend im Hofe stand. Holofernes pflanzte sich stolz zwischen den Mädchen auf und nahm alle diese Verbeugungen seiner Gebieter als eine ihm dargebrachte Huldigung mit Würde und Selbstverständlichkeit entgegen. Als aber nach den Burschen gar die Füchse kamen, drehte er sich um und warf abwechselnd mit dem rechten und linken Hinterbein etwas Sand nach ihnen, 149 um anzudeuten, daß sie sich setzen könnten und daß er hiermit die Zeremonie der Vorstellung für beendet ansehe.

Jetzt wo das junge Volk der Studenten da war, wurde es lebhafter im Burghof. Die Mädchen am Honoratiorentisch sprachen lauter als vordem, und manche, die wußte, daß sie in klangvollen Trillern lachen könne, tat dies, auch wenn die Gelegenheit nicht gerade die geeignetste war. Die Herren hatten jetzt wirklich Wein vor sich stehen, und wenn von den Studenten einer sich und seinen Bierkrug erhob und herüberrief: »Herr Forstrat, ich gestatte mir, Ihr sehr verehrtes Wohlsein,« so rief dieser zurück: »Erlaube mir nachzukommen, prosit!« und trank dann in der Tat ein wenig.

»Ihr sehr verehrtes Wohlsein,« repetierte Hans Höhrle im stillen und: »Erlaube mir nachzukommen. Prosit.« Er hatte die Empfindung, daß er sich diese beiden Sätze merken müsse, daß es ohne sie nicht gehe, und er begann ja schon an der Vervollkommnung seines inneren und äußeren Menschen rüstig zu arbeiten. Er paßte auf wie ein Haftenmacher, und als sich späterhin einer der Burschen mit seinem Glase gegen eine Pfarrerswitwe verneigte und verbindlich flüsterte: »Meine Gnädige, darf ich mir erlauben, auf ihr Spezielles zu trinken,« so prägte er auch diese Formel gewissenhaft seinem Geiste ein.

Nach einer weiteren Stunde, als schon das Überreichen einiger Blumensträußchen einen Notsteg zwischen den beiden Tischen geschlagen hatte, avancierten die älteren Semester kühn gegen die Jungfernfeste, und bald schwang sich 150 die liebe Jugend paarweise im Tanze auf dem Rasen. Hans hätte für sein Leben gern mitgemacht, aber er hatte in die Kunstfertigkeit seiner Beine kein so rechtes Vertrauen, und eine schickliche Anrede der Tänzerin stand ihm, so sehr er auch sein Hirn zermarterte, nicht zur Verfügung. Daß er mit der Formel: »Is scho' g'frägt? Nau? Häng en!« in jenem schon von Seume verhöhnten Dialekt des Mainzerlandes hier nichts anfangen könne, war ihm klar. Lernbegierig wie er war, drückte er sich deshalb ein wenig hinten herum, und erlauschte bald: »Gnädiges Fräulein, darf ich mir die Ehre geben?«

Mit diesem Brocken, den er eben aufgelesen hatte, zog er sich ein wenig zurück und wiederholte ihn ein paarmal laut vor sich hin, um auch im Tonfall die richtige Sicherheit und Leichtigkeit der Aussprache zu gewinnen. Holofernes, dessen Rolle ausgespielt war, und der jetzt nirgends mehr Beachtung fand, gesellte sich dem Einsamen zu, ging einige Schritte mit ihm vorwärts, wendete rechtzeitig und marschierte dann wieder mit ihm zurück. Dabei sah er dem unerfahrenen Füchslein manchmal so treuherzig ins Gesicht, als ob er ihm sagen wollte: »Greif doch frisch zu, ein Kerl wie du! Die Damen sehen alle etwas prüder aus, als sie sind.«

Und Hans faßte sich ein Herz, griff zu, und bald wirbelte er zwischen den anderen Paaren auf dem Rasen herum. Anfangs hielt er seine Dame, aus Schüchternheit und Furcht, das zarte Wesen könne zerbrechen, nur lose im Arm. Doch die rosig glühende Kleine schmiegte sich 151 enger an ihn. Sein Arm, anfangs zu weit für ihre Taille, folgte, so wuchsen zwei Körper schier zu einem Wesen zusammen, ihre Bewegungen gewannen mehr Takt und Sicherheit. Immer kühner wurden ihre Schwenkungen, immer mehr zog das Paar die bewundernden Blicke derer auf sich, die aus Bequemlichkeit oder ihres Alters wegen die Weinflaschen hüteten, die sich, unerschöpflich wie das Krüglein der Witwe zu Sarepta, immer noch nicht verblutet hatten.

Auch Holofernes, der sich nun völlig vernachlässigt fühlte, sah eine Zeitlang dem tollen Treiben der Menschen zu, dann aber legte er sich als vernünftiger Hund auf den Rasen, kreuzte die Vorderläufe wie zum Abendgebete, legte seine Schnauze darauf, schnappte ein paarmal nach Fliegen, die seine Nase umschwärmten, und schlief ein. Als er wieder erwachte, hörte er, wie die Menschen zueinander »Mahlzeit« sagten und folgerte daraus, daß das Essen vorbei, und daß von der kalten Platte für ihn einige Wursthäute übrig geblieben sein könnten. Deshalb bemühte er sich an die Tafel, hob seinen Kopf über die Tischkante und orientierte sich mit einem Blicke, wo noch kleine Restchen auf den Tellern geblieben waren und wo nicht. Da die Herrschaften sich bereits erhoben hatten, und einer dem anderen in die Kleider half, so konnte er ungestört seine Nachlese halten und er tat dies auch mit Gründlichkeit und ohne Gewissensbisse darüber, ob er den Wirt um ein Montagsfrühstück brachte oder nicht.

Auch Hans hatte das Wort »Mahlzeit« gehört, und dem Ohre des Odenwälder Bauernsohnes klang es wie 152 eine geradezu phänomenale Albernheit, aber da alle die würdigen Herren und Damen es mit einer Art Ehrfurcht, fast wie ein Gebet aussprachen, so kalkulierte er, daß es in den notwendigen Wortschatz eines Kulturmenschen gehöre und nahm sich vor, es demnächst bei passender Gelegenheit zu verwenden, mochte es auch noch so schwer den Weg über seine Lippen finden.

Man war aufgebrochen. Abenddämmerung und Waldesdunkel lösten die Gesellschaft in Paare auf, und obwohl jede Henne mit Späheraugen über ihr Küchlein wachte und schließlich der Himmel mit tausend Augen über allen, so ist es doch unsicher, ob nicht hie und da aus Amors reichen Schätzen eine Kleinigkeit entwendet wurde. Ganz sicher ist, daß mancher Backfisch sich in dieser Stunde um dreißig Minuten betrogen glaubte, als des Lichts gesellige Flamme aus der städtischen Gasbeleuchtung den Mond ablöste und die Herde wieder zusammentrieb.

Noch ein kleines Ständchen an den Vorgärten der Häuser, bis der dienende Geist herbeigeklingelt war, ein gegenseitiges Verneigen und: »Es war mir ein großes Vergnügen, meine Gnädige,« und all die lustigen Backfische waren eingetan, und die Studenten wieder unter sich.

Hans war noch zu fremd, er hatte keinen Anschluß an eine Dame gefunden und trottete neben Holofernes her, der sich von ihm beim Halsband nehmen ließ. Jetzt, wo jede weibliche Attraktion ausgeschaltet war, erinnerte man sich des Füchsleins wieder und lud ihn ein, den Abend auf dem Burschenhause zu verbringen. Gerne nahm er es an. 153 Man ging durch eine Allee, wo die breiten Blätter im Schnitt gehaltener Platanen das Laternenlicht auffingen, so daß am Boden die Finsternis dick und schwer sich ablagerte und alles Gegenständliche mit dem Straßenkot in einen schwarzen Brei zusammenrührte. Da mit einem Male, als man um die Ecke bog, schlug unserem Neuling die feurige Glut mächtiger Wappenfenster ins Auge, über denen ein steiles Dach seine Erker und Giebel in den Nachthimmel hineinhob. Das war das Burschenhaus. Hans war von seinem Anblick mächtig ergriffen. Ihm erschien diese Graalsburg eine Herberge aller männlichen Tugenden, und er kannte keinen sehnlicheren Wunsch, als eintreten zu dürfen in einen Bund, der seinen Mitgliedern so Glänzendes zu bieten vermochte. Die Treppen, der Vorraum, alles machte einen so warmen wohnlichen Eindruck, und das Kneipzimmer gar, gefüllt mit Studenten in buntverschnürten Jacken, das Cerevis auf dem Kopfe, erschien ihm wie ein prangender Blumengarten.

Hans nahm Platz, aber er kam nicht zur Ruhe. Seine Augen suchten die Wände ab, von denen Leute auf ihn herniedersahen, die vor Dezennien hier gehaust und die nun auf akademischen Lehrstühlen saßen und auf Ministersesseln. Er fühlte, wie ihm die eigene Kraft wachsen würde in einer größeren Gemeinschaft, merkte, daß der Umgang mit anderen ihn stützen und erziehen müsse. So dauerte sein Schwanken zwischen den von Hause mitgebrachten Anschauungen und dem Neuen nicht lange, Hans verschwand ins Konventszimmer, legte in 154 die Hand des ersten Chargierten das Versprechen ab, jetzt ein braver Bursche und einst dem Vaterland ein tüchtiger Bürger zu sein, und kehrte wieder, die Brust geschmückt mit dem Burschenbande.

So weit haben wir den Helden unserer Geschichte glücklich geführt. Nachdem wir nun sicher sind, daß sämtliche Pensionsdamen mit uns die gleiche Ansicht haben: Dieses Odenwälder Milchkälbchen werde sich zu einem Salonlöwen erster Güte entwickeln, verlassen wir ihn einstweilen und sehen uns nach seiner Heimat und den Seinen um. 155

 


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