Adam Karrillon
Die Mühle zu Husterloh
Adam Karrillon

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22. Kapitel

Dort, wo der Eiterbach seine Wasser aus rotem Sandstein in einer Mulde hoch oben am Hardtberg sammelt, um sie der Steinach zuzuführen, liegt weltverloren Siedelsbrunn. Einst herrschte hier der Krummstab der Äbte von Lorsch, und aus »Sub sigillo Brunonis« leiten gelehrte Köpfe den Namen des Dorfes her. Wo einst die Mönche, die Hüter der kleinen Wallfahrtskirche Klingenhof, die Waldespfade in gottversunkener Betrachtung hinschritten, schreitet heute der Steinhauergeselle. Der Bruch gibt ihm Brot und leider Gottes auch mit jedem Atemzug seinen gefährlichen Steinstaub, der unter dem Meißel aufsteigt und die Lunge des Arbeiters füllt. So sterben die Männer früh. Gar manche Mutter sieht drei, vier Söhne ins Grab sinken und schickt doch den fünften in den Bruch. Was geschehen soll, geschieht. Niemand entrinnt dem harten Griff des Todes.

Neben dieser fatalistischen Weltanschauung oder vielleicht durch sie bedingt, läuft nun unwiderstehlich ein Hang nach Genuß um jeden Preis. »Das Leben ist kurz, also holt von der Ernte der Freude, die draußen steht, die Garben 218 heim, sobald sie nur eben zu reifen beginnen.« So geht das Mädchen lange vor dem Evangelium zum Opfer und lebt dann einige Monate als Schenkamme in einem reichen Hause zu Frankfurt oder Mannheim in Hülle und Fülle. Der Bursche spielt Kegel, trinkt und singt so lange, bis kleine tuberkulöse Geschwüre anfangen, seine Stimmbänder zu zernagen und ihn heiser machen. Gesegnet sei die Atmosphäre von Leichtsinn, die über der Talmulde lagert und diesen Armen das Leben erträglich macht.

Heute ist's ein schöner Sonntagmorgen, der erste seit langen Regentagen.

»Du könntest unser Korn wenden, das der Platzregen halb in den Boden geschlagen hat,« sagt die Frau zum Mann.

»Du sollst den Sabbat heiligen,« gibt der zurück und ist froh, daß ihm die Kirchengebote eine so gute Ausrede zur Verfügung stellen.

Die Frau schweigt. Das ist ihm erwünscht, und er putzt ruhig an seiner Flinte weiter. Heute mittag ist Scheibenschießen. Der Wirt hat hinterm Anger eine Scheibe aufgestellt und einen Hanswurst eingegraben, der aufspringt, wenn eine Kugel ins Schwarze schlägt. Der Abend bringt Tanz und dann jene traumverlorenen Gänge zu zweien hinter den Scheunen her nach dem Walde und wieder zurück nach dem Tanzboden, bis das Übermaß des Weingenusses dies Wandern zu zweien reizlos, wenn nicht unmöglich macht.

Das war's, wozu man sich rüstete, worauf man sich freute.

219 Auch von anderer Seite hatte man Vorbereitungen zum Feste getroffen. Klaus Priester in Husterloh, der Musikant, begann sich eigenhändig zu rasieren und streckte eben den eingeseiften Kopf zum Fenster hinaus, zu sehen, ob seine Genossen von Olfen her noch nicht die Kirchhohl herunterkämen. Richtig, da waren sie ja an der Treppe. Veit Streichgut, die Baßgeige auf dem Rücken, Franz Blasauf mit dem Schnitzbuckel und der hinkende Bote, Bastel Fiedele, an dessen Seite sein Sohn die große Trommel schleppte. Klaus Priester fuhr mit dem eingeseiften Kopfe zurück und arbeitete fleißig in den wüsten Stoppelfeldern seiner Backen.

Ein Klumpen Seifenschaum mit Haaren untermischt fuhr zum Fenster hinaus und dem Fiedele ins Gesicht.

»Nun bleibt er nicht mehr lange,« sagte der und wischte sich die Schnauze mit dem Ärmel rein.

»Ich stecke nur meine Gelberübe ein,« rief es von oben, »nehmt einstweilen Platz auf den Treppenstufen.«

Die Musikanten lehnten sich, ohne abzulegen, nur ein wenig an, setzten sich aber nicht fest. Sie wußten, daß ihr Chef im Nu erscheinen werde. Keine Minute, und er war schon da. Aus der Tasche sah ihm die Klarinette, und in der Rechten trug er einen Ziegenhainer mit so weitem Hirschzinken, daß man zweifelnd fragen konnte, ob er seinen Stock auch am richtigen Ende angefaßt habe.

Der Meister wurde in allen Ehren empfangen und in die Mitte genommen. So ging die kleine Künstlertruppe an der Kirche vorbei, als eben der Pfarrer die Epistel sang. 220 Ach ja, da fiel ihnen ein, sie hätten als gute Christen ja auch im Hochamt sein sollen, aber sie waren ja Musikanten. Mit denen konnte es der liebe Gott nicht so genau nehmen, da mußte er ein Auge zudrücken, und sie drückten selber jeder ein Auge zu und gingen weiter.

Als sie am Gasthaus ›Zum Hirschen‹ vorübergingen, sahen sie in dem niederen Fensterrahmen eine befremdliche Erscheinung. Eine weiße Pikeeweste, über die eine schwere, goldene Uhrkette gespannt war, lagerte wie ein ferner Gletscherspiegel hinter den Scheiben. Nicht, daß sie stehen geblieben wären, um die Erscheinung anzuglotzen. Nein, dazu waren die Künstler weltmännisch genug erzogen. Sie gingen nur ein wenig langsamer und ließen ihre Blicke verstohlen nach der feudalen Weste hinüberschweifen. Als sich aber das Fenster öffnete, und ein Kopf zum Vorschein kam, der auf den Schultern eines ungarischen Magnaten eine noch imponierende Erscheinung gewesen wäre, standen sie stramm wie Soldaten. Der Herr sah so vornehm aus, daß unsere Musikanten fast erschraken, als er sie anredete und sie fragte:

»Wohin des Weges, ihr Herren, die ihr euer Futter von Notenblättern pickt, wie Hühner den Hafer von der Tenne?«

Klaus Priester trat vor und sagte:

»Mit Verlaub zu melden, Euer Gnaden, nach Siedelsbrunn zum Scheibenschießen.«

»Und was hat jeder von euch morgen früh in der Tasche, vorausgesetzt, daß euch nicht die Steinbrecher den Schädel eingeschlagen haben?«

221 »Euer Gnaden kennen sicher, was Künstler wert sind, und werden sich nicht sehr verschätzt haben, wenn Sie morgen für jeden von uns zwei Gulden mehr bieten als heute.«

»Das ist geringer Verdienst für Leute, die eine Nachtschicht arbeiten. Bleibt bei mir, und ich garantiere jedem drei Gulden und freie Zeche.«

So lockte der Fremde.

Das war ein gar zu duftiger Speck für Leute, die wie die Kirchenmäuse von magerer Kost leben müssen.

»Auf eine Stunde kommt's nicht an,« so dachten sie und traten mit ihren Instrumenten ein in die Gaststube zum Hirschen.

Nur Veit Streichgut, der die Baßgeige schleppte, und der Knabe mit der Trommel gedachten der sechsten Bitte des Vaterunsers. Sie hatten dem Ochsenwirt versprochen, beim Scheibenschießen Musik zu machen, und sie ließen sich nicht in Versuchung führen.

So gingen die zwei Getreuen allein weiter, einer dunklen Stunde entgegen, während die anderen von dem Fremden bewirtet, im Sonnenschein weiter lebten, als ob es Groschen geschneit und Dreibatzenstücke gehagelt hätte. Im Dunste, der vom perlenden Rotwein in die Köpfe stieg, war bald das ganze Siedelsbrunner Schießen verblaßt. Klaus Priester trillerte wie eine Lerche auf seiner Klarinette, ja, er tat ein übriges und schuhplattelte nach dem Takte des Reimes:

»Und der Kreuzjuckeljuckeltant
Und der Musikant 222
Und die sieben Seppel
Und die scheel' Grethel
Und der Hanswurst
Mit sei'm Durst« . . .

daß die Diele krachte und die Zinnteller auf den Paneelbrettern zu klappern begannen.

Bald war es im ganzen Dorfe bekannt: »Im Hirschen ist was los, da macht Klaus Priester das Kalb.« Den Männern wurde die Zeit lang, bis die Abendstunde kam, wo man mit Schicklichkeit ausgehen konnte. Mancher wartete sein Vesperbrot nicht ab und wich durch die Hintertür den vorwurfsvollen Blicken seiner Gattin aus.

»Im Hirschen ist einer, der den ganzen Ort freihält. Es muß ein Fürst sein, er ist in einer Chaise angefahren.« So lief eine zweite Depesche der ersten nach und machte selbst die sonst so stillen Frauen, die am Herde standen und für Mensch und Vieh die Abendmahlzeit kochten, unruhig.

Auch zu Mutter Lulay war die aufregende Neuigkeit gedrungen, im Wortlaut nur ein wenig erweitert. »Und einen Zylinder hat er auf dem Kopf.« »Einen Zylinder sagst du, ist es sicher, einen Zylinder?« rief sie, ihre Erregung nicht mehr beherrschend, und warf den Holzlöffel zu dem Pfannkuchenteig, der in dem Steingutteller über dem Herdfeuer dunstete. Mag beides miteinander verbrennen, der Mutter Lulay war es einerlei. Kein andrer als ihr Backnickel war heimgekehrt. Wer außer ihm konnte auf den drolligen Einfall kommen, in einem Zylinderhut das 223 entlegene Bergdorf aufzusuchen, um morgen mit Glacéhandschuhen bekleidet die Geiß am Strick zur Weide zu führen? An diesen Schrullen gerade erkannte sie ihn; so war er, und das hatte er von seinem Vater selig.

Mutter Lulay riß ihren Luftsack vom Nagel und schlüpfte in die Ärmel. Wohl hatte sie die Vorstellung, daß er am Halse nicht recht schließe, aber sie kam doch nicht so weit zur Besinnung, daß sie merkte, sie habe das Taillenband um den Hals und den Kragen um die Taille. So erschien sie übel gemustert im Hirschen.

»Wo ist er?« schrie sie und drängte sich in fliegender Eile an Klaus Priester vorbei nach dem Herrenstübchen. Der Luftsack blähte sich im Winde, die hagere Gestalt glich dem Ofenwischer eines Bäckers. Ihr war alles einerlei, sie stürmte vorwärts, bis sie endlich vor der vornehm kühlen Erscheinung des Fremden stand. Da, plötzlich war sie wie niedergedonnert. Diese kalte, gefrorene Exzellenz war doch nicht ihr Nickel. Nein, so sehr konnte er sich nicht verändert haben. Es mußte noch andere Narren geben, die den schnurrigen Einfall hatten, Zylinder zu tragen. Und doch, dies Gesicht war ihr auch nicht ganz fremd. Aus diesen Blicken redete sie etwas so bekannt an, als ob es mit ihr plaudern wolle von verstrichenen Jahrzehnten und von Menschen, die längst verweht, verschwunden sind. Nur noch einen Augenblick kramte sie in ihren Erinnerungen, dann fuhr es wenig zeremoniell wie aus einer Kanone geschossen aus ihr heraus:

»Du bist der Gänseschrot von Gadern!«

224 Der Fremde reichte ihr etwas betreten die Hand und sah ihr schmunzelnd ins Gesicht.

»Der Gänseschrot!« Dies packte im Nu jeden der zahlreichen Erschienenen und schüttelte wie in einem Kaleidoskop Erinnerungsbilder heraus, die vor dreißig und mehr Jahren einmal vor ihrer aller Seele gestanden hatten. Ja, ja, das war der arme Junge, der niemals Vater noch Mutter kannte und mit den Gänsen aufwuchs, die vor dem Dorfe im schlammigen Lehmboden unzählige Male die Form ihrer Füße verewigten. Einst war er fortgegangen mit einer Akrobatentruppe, nun war er wieder da. Das war's, was man wußte. Was zwischen beiden Daten lag, das hoffte man bei passender Gelegenheit von ihm selber zu hören. Die Hauptsache war, daß er nicht als ausgehungerter Schnurrer kam und daß er Geld mitgebracht hatte, viel Geld, so viel, daß er alle seine Landsleute mit Rotwein traktieren konnte. Diese ließen sich vor den vollen Gläsern nicht übermäßig nötigen, und bald herrschte in jedem Winkel des Hauses ein Treiben, wie man es noch nicht gesehen hatte. Leute, die draußen vorübergingen, horchten, blieben stehen und versuchten hereinzudringen. Es war nicht möglich. So ergriff man das erste beste von irgend einer Seite dargereichte Glas, schüttete seinen Inhalt herunter und geduldete sich, bis Fortuna auf ihrem Rundgange abermals mit dem roten Füllhorn erschien.

So voll auch Gänge und Zimmer gepfropft waren, zwei, die jetzt kamen, fanden doch noch Platz, obwohl sie weit mehr den Insassen eines Pfründnerhauses glichen 225 als Festgästen. Der eine hatte sein Taschentuch über das rechte Auge gebunden und wischte nun notgedrungen mit dem linken Rockärmel von Zeit zu Zeit etwas Blut aus dem Gesicht, das von der Nase niederrann. Der andere schien am Stern seines Schiffes Havarie erlitten zu haben, denn er steuerte sein Fahrzeug so, daß man immer nur den Bugspriet sah und etwas von der Backbordseite, während die Rückseite, an der Wand hinrutschend, ein Trockendock zu suchen schien. So kamen denn die beiden nicht in bester Laune bei Klaus Priester an.

»Lump, miserabler,« schrie Veit Streichgut den feisten Falstaff an, »warum hast du uns sitzen lassen?«

»Ihr brauchtet euch ja nur zu stellen, so war dem Übel abgeholfen.«

»Haben wir getan, da warf mich einer von den groben Steinschlegeln in meine Baßgeige hinein, daß ich drin hängen blieb, wie der Stiel im Hammer. Dann griffen vier Kerle nach dem Geigenhals, und so schleuderten sie mich wie auf einem Karussell im Saale herum, bis die Baßgeig' durchgerutscht war und meine Hose dazu. Ich bin durchgerissen wie ein Schurzfell aus Schafleder.«

»Steck' einige Steine in die Hintertaschen deines Rockes, und jedermann hält dich für ganz. Sieh, blutiger Streichgut, so flickt der Musikant seine Beinkleider,« tröstete Klaus Priester.

»Du brauchst noch zu witzeln, fettiger Sauschnüffel. Da guck den Jungen an. Erst ging's noch, als er bloß zu trommeln brauchte, wenn der Hanswurst aufsprang. 226 Wie aber der Abend kam, und wir zwei zum Tanz aufspielen sollten, da wurden die Lümmel grob. Sie trieben dem armen Bengel die Trommel in den Kopf, daß er im Saale wie ein blindes Hinkel herumhüpfte und die Tür suchte.«

An dieser Stelle seines Vortrags hielt Veit Streichgut inne, um den Trommlerjungen vorzustellen, der immer noch mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht wischte und aussah wie ein Bauernhandtuch am Tage des großen Schweineschlachtens.

»Fang an zu sammeln!« schrie Klaus Priester. »Die Beschreibung haben wir ja, das Bild wollen wir dir schenken.«

Er drückte den Veit Streichgut auf einen Stuhl nieder und hielt ihm ein volles Glas Rotwein unter die Nase. Welches Musikantenherz vermöchte solcher Lockung zu widerstehen? Bald retouchierte der Geist des Weines das tragische Ereignis des Unglückstages so sehr, daß es fast wie eine lustige Episode erschien, und Veit Streichgut fing an zu singen, und die Menge half ihm:

»Holt der Teufel auch die Welt,
Lustigsein ist Trumpf;
Und so lang der Stiefel hält,
Braucht man keinen Strumpf.«

So endete die Heimkehr des verlorenen Sohnes Michel Schrot mit einem ausgelassenen Freudenfeste in den Morgenstunden eines blauen Montags, und niemand ahnte noch, wie viele Tränen das Erscheinen dieses Glückspilzes die Gegend kosten würde. 227

 


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