Adam Karrillon
Die Mühle zu Husterloh
Adam Karrillon

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8. Kapitel

Während Hans seine Abschiedsbesuche machte, hatte sich in der Mühle ein bisher ganz unerhörtes Ereignis vollzogen. Mutter Höhrle, die den Abgang ihres Einzigen zu einem Tage gestalten wollte, der in der Erinnerung aller Dorfbewohner haften sollte, hatte den Auftrag gegeben, die Pferde vor den Viktoriawagen zu spannen. Diesem Ansinnen widersetzte sich Suse mit der Bemerkung: ›Die Pferde seien beim Umbau der Mühle unentbehrlich, und Hans und seine Sachen könnten recht gut mit einer Gelegenheitsfuhre nach der Bahnstation gebracht werden.‹

Mutter Höhrle war zunächst starr vor Staunen über die Kühnheit ihrer Tochter und fiel dann in eine ihrer komfortabelen Ohnmachten, die sie allmählich recht täuschend herzustellen gelernt hatte. Aber als sie erwachte und sah, daß dieses letzte Mittel, ihren Willen durchzusetzen, niemand erschüttert hatte, geriet sie in Wut, und eine Lawine von Schmähungen ergoß sich über das tapfere Mädchen. Suse aber stand kaum bewegt wie eine Tanne im Föhn, schüttelte sich nur ein wenig und erklärte ihrer Mutter, daß von jetzt ab sich vieles ändern müsse. Sie kenne die Lage des 64 Vaters und werde an seiner Seite stehen, und was die Pferde angehe, so sollten sich diese ihr Futter verdienen; lange vor Tag habe sie dieselben in den Wald geschickt, um Steine für den Wasserbau zu holen. Hansens Koffer sei dem Frachtfuhrmann übergeben, und wenn er selber zeitig zurückkäme, so könne er mit der gleichen Gelegenheit auf seinen Sachen sitzend bequem genug die Bahnstation erreichen.

Hans aber verspätete sich, und als er endlich das Elternhaus erreichte, war der Frachtwagen mit seinem auf Reifen gespannten Zelttuch schwankenden Ganges längst über alle Berge. Also mußte der Junge laufen. Suse befestigte die Strickleiter, die er ja nun nicht mehr entbehren konnte, an einem Riemen und hing diesen mit manchem Worte ernster Ermahnung über seine Schulter. Derweilen stopfte Liese die Taschen des Bruders mit hart gesottenen Eiern und Butterbrot. Reisefertig bot er Vater und Mutter die Hand, den Schwestern die Lippen zum Kuß, und rüstig wanderte er einsam am Bache hin, der ihm wichtige Dinge erzählte aus den Kindertagen: Vom Dompfaffen, der im Strauch der wilden Rose sein Nest hatte, und vom Eichhorn, das vom Baume hinter der Scheune die Nüsse stahl.

Bald bog der Pfad vom Bache nach aufwärts ab und erreichte einen mit Erlen bestandenen Klingen. Die Sonne brannte heiß vom Himmel nieder, und der Riemen, der die Strickleiter zusammenhielt, hatte auf den Schultern des Knaben brennendrote Furchen eingegraben. Hans warf die Last ab, setzte sich darauf und sah sich um. Unten lag, von dem langen Morgenschatten des Berges noch teilweise 65 überdeckt, sein Heimatdorf schöner, als er es je gesehen hatte, und vor der reizvollen Wirklichkeit im Tale verblaßten hier zum ersten Male die Illusionen, die er sich von der großen Welt gemacht und die seine Kinderseele mit jubelndem Entzücken erfüllt hatten. Tiefe Trauer um die Gewißheiten, die er verließ, und Furcht vor dem Unbekannten, dem er entgegen ging, quälten ihn und drückten die frohe Zuversicht auf eine glänzende Zukunft merklich herab. Hans wurde unsicher.

Der Winkel eines Kranichzuges, der gleich ihm in die Fremde steuerte, gab ihm neue Zuversicht, und bald wieder machte er einen Schritt nach dem anderen, der Stadt entgegen, die ihm Geist und Körper umgestalten sollte.

Um ihn war eine unendliche Stille ausgebreitet, die in seinem Inneren ein Gefühl der Verlassenheit erzeugte. Er sehnte sich nach einem Begleiter, und seine Blicke kehrten oftmals den Weg zurück, den seine Füße soeben gegangen waren, um auszuschauen, ob nicht irgend einer des Weges käme. Er sah nichts, aber er hörte mit einem Male den stolpernden Hufschlag eines Pferdes aus dem Tannendickicht. Hans, der seine Strickleiter, die ihn in die Höhe führen sollte, aber zunächst nur niederdrückte, gern losgeworden wäre, sah mit Freude vor der grünen Wand des Waldes ein ungeschlachtes, fast viereckiges Pferd, das bei jedem Schritt mit dem Kopfe nickte und hinter sich einen Wagen nachzog, auf dem man einen blauen Fuhrmannskittel unterscheiden konnte. Auch der Fuhrmann nickte, als ob ein verbindender Draht seinen und des Pferdes Kopf zu der gleichen Bewegung 66 nötigte. Er schlief den Schlaf des Gerechten. Der Knabe faßte sich ein Herz und rief dem Schlummernden an. Schlaftrunken, war der Geweckte über die Störung seiner Ruhe aufgebracht, fluchte und schien viel eher Lust zu haben, den kleinen Wanderer durchzuhauen, als mitzunehmen. Hans lief neben dem Wagen her, weil er hoffte, daß nach dem Zorne vielleicht doch ein menschlich Rühren in die harte Fuhrmannsseele sich einnisten könne, und er hatte sich nicht verrechnet. Der Mann rief mit einem Male: »Oha!« und das Pferd machte so bereitwillig halt, daß ihm das Kummet über den Ohren saß.

.,Was zahlst du, wenn ich dich mitnehme, mein Goliath, du Riesenkerl, du?«

»Einen Groschen und vielleicht noch etwas darüber.«

»Sitz auf,« ermunterte der Fuhrmann und musterte Hansens Pakete mit neugierigen Blicken. Der Knabe kroch gewandt wie eine Katze von hinten auf den Wagen und machte es sich auf dem Futtersack bequem.

»Kaust du auch, Dreikäsehoch?« fragte nach einiger Zeit bedächtigen Nachdenkens der Fuhrmann, der kein Auge von den beiden Paketen verwendet hatte.

»Ja,« sagte Hans, »alles, was ich ungekaut nicht schlucken kann.«

»So war's nicht gemeint, mein Tausendsassa, aber du rauchst doch?«

»Nein!«

»So hast du es doch wohl gern, wenn andere rauchen und dir ein wenig den Duft unter die Nase blasen?«

67 Hans bemerkte, daß er dagegen nichts einzuwenden habe. Nun griff der Fuhrmann zutraulich nach dem einen der Pakete und riß das graue Katzenpapier herunter. Als er aber nicht fand, was er erwartet hatte, schob er enttäuscht seine Schirmkappe ins Genick, faßte den armen Jungen erbarmungslos am Kragen, hob ihn über den Leiterbaum und ließ ihn fallen. Im nächsten Augenblick bereits lag der fahrende Scholar in der sehr schätzenswerten Gesellschaft des großen Georges auf der Straße. Der Fuhrmann fuhr weiter, verärgert und gekränkt darüber, daß hinter einem so kleinen Knirpse und seinem Bündel so viel Lug und Trug verborgen sein könne.

Hans erhob sich und suchte seine Kleider und den großen Georges, der beschmutzt und übel zugerichtet war, wieder zu restaurieren. Er dachte an den Pfarrherrn, der ihm dies Liebespfand anvertraut hatte, und mitleidig an die noch ungeborenen Generationen, denen es auf der sozialen Leiter in die Höhe helfen sollte. Ihm hatte es seither wenig gedient. Eine Zigarrenkiste mit dem minderwertigsten Inhalt hätte ihn sicher weiter gebracht, wie all die papierne Weisheit. Noch war der Wanderer kaum eine Stunde aus dem Elternhaus, und bereits war er mit den Realitäten des Lebens arg aneinander geraten. Er war traurig, aber ein wilder Trotz erwachte in seiner Kinderseele. Er wollte den Kampf aufnehmen, und wenn er zermalmt werden sollte.

Resolut warf er den Riemen, an dem der große Georges baumelte, über seine Schulter und folgte, der Chaussee mit 68 ihren unfreundlichen Gesellen ausweichend, einem kleinen Seitenpfade, der ihn durch Waldesschatten in ein quellendurchrauschtes Wiesental führte. Buchen wechselten mit Wallnüssen und der Pfad mit einem tiefgeleisigen Feldweg, der die weit im Tale verstreuten Bauernhöfe aufsuchte und bald auf-, bald abstieg. Die Leute sah man in den Feldern hinterm Pflug oder in den Wiesen hinter dem Wetterleuchten der geschwungenen Sensen. Die Höfe schienen leer, den Hühnern überlassen, die fleißig im Miste scharrten, und der Wachsamkeit der Hofhunde. Einer nach dem anderen dieser zottigen Wächter kam dem Knaben vorsichtig näher, beschnupperte mißtrauisch den großen Georges und warf im Fortgehen mit den Hinterpfoten etwas Schmutz nach dem Lexikon und seinem Träger. So feierlich dieser Vorgang an sich war, so wurde er durch die öftere Wiederholung dem Reisenden doch schließlich langweilig, und als eben gerade ein struppiger Bullenbeißer die Zeremonie vollzog, hob er seinerseits das Bein auf, um ihm einen Tritt zu geben. Doch da kam er übel an. Im Nu hatte das Tier mit den Zähnen seine Hose erfaßt, und es lag Hans und der große Georges zum zweiten Male an diesem ereignisreichen Tage an der Erde. Hart waren sie nicht gebettet, aber etwas feucht, denn sie lagen in einer breiten Rinne, die den Extrakt des Dunghaufens der Wiese zuführte.

Als sie sich aus der Niedrigkeit erhoben, waren sie in einer Verfassung, daß sie ohne gründliche Reinigung nicht gut in die menschliche Gesellschaft zurückkehren konnten. Die Sonne nahm sich jedoch ihrer an und trocknete sie, allein 69 sie vermochte nicht die beiden von einem Dufte zu befreien, der ihnen nachging wie ihr Schatten und ihren Kredit herunterdrückte. So kamen sie in übler Verfassung an die Bahn.

Der Umstand, daß bei der Fahrt Bäume und Kirchtürme lustig tanzten, unterhielt den Knaben und verscheuchte die Trauer über die schlimmen Erlebnisse. Bald stahl sich der Zug leise wie auf Gummischuhen mit einer gewissen Ängstlichkeit, die sich auch den Reisenden mitteilte, über das Gitterwerk der Rheinbrücke, schoß wie vom Teufel gehetzt durch das Dunkel der Festungswälle und hielt vor einem schmutzigen Bahnhof. »Station Mainz,« riefen die Schaffner, die Trittbretter krachten, und ein mit allerlei Gepäck beladener Menschenknäuel wälzte sich durch ein eisernes Gittertor einem kleinen Zollhäuschen zu. Hans hatte den großen Georges wieder über die Schulter geworfen und schaute entzückt ins Abendrot, das Kirchtürme, Häusergiebel und auch das Zollhäuschen in einen zarten Rosaschleier kleidete. Ganz ins Schauen verloren lief er wie ein Träumender nur immer geradeaus und kam an der Oktroibude vorüber, als er hinter sich die unfreundlichen Worte hörte:

»Wirst du dich wohl hierherbemühen, du da mit deiner Heringskiste auf dem Rücken,« und eine polternde Faust schlug ungestüm gegen ein gelbes Messingblech, das einen kleinen Holzrahmen füllte. Hans sah sich um, und als sich aus der Faust ein Finger loslöste, der ihm zu winken schien, näherte er sich dem Zollhäuschen, aus dessen Fenster ihn 70 das bärbeißige Gesicht eines Affenpinschers mit folgender Liebenswürdigkeit traktierte:

»Denkst du Galgenvogel, daß du hier schmuggeln kannst?«

»Ha, da läuft man so für sich hin, als ob es keine Aufsichtsbehörde gäbe; übersieht großherzogliche Beamten und betrügt die Stadt um die Konsumsteuer.«

»Ja, so sind sie alle, diese Harmlosen vom Lande! Sie wissen von nichts, aber Gensdarmen müßte es wochenlang regnen, wenn man all' die Spitzbuben einsperren wollte, die hier vor der Zollbude ihr Gewissen mit Todsünden belasten.«

»Her mit deinem Bündel,« rief der Zöllner, und seine Faust, grob wie ein Steinschlegel, griff nach dem Riemen und zerrte den großen Georges pietätlos in das Innere der Zollbude.

Hans erbebte, als ob er vor dem Rachen eines Krokodiles stände. Er war starr, aber nicht lange, denn als die unselige Strickleiter ihm gleich darauf vor die Füße flog, raffte er sie schleunigst auf und machte, daß er aus der gefährlichen Gegend fortkam. Er eilte der Stadt zu, die eine enge Gasse mit schmalen Häusergiebeln vor ihm auftat. Er war müde und gedrückt, und nur wenn er jemand kommen sah, der mühselig und beladen war wie er selber, so wagte er, ihn anzusprechen und fragte sich zurecht nach dem bischöflichen Konvikte. So borgt die Niedrigkeit von der Niedrigkeit und Armut beschenkt die Armut.

Endlich fand er das gesuchte Asyl auf dem Marienplatze. Es war ein stattliches, aber nüchtern und pedantisch aussehendes Haus, an dessen Fensterscheiben weiße 71 Kattunvorhänge niederhingen und die spießbürgerliche Wahrheit verkündeten: »Fein braucht man nicht zu sein, wenn man nur sauber ist.«

An dem Äußeren hatte der Junge sich bald satt sehen, nun wollte er ins Innere. Das war schwieriger zu bewerkstelligen, als man denken sollte, denn die Türe hatte nach außen keine Klinke. Hans verstand. Das wollte ungefähr heißen: ›Hier geht niemand ein, er ruft mich denn zuvor‹. Also streckte er sich, um den Schellenzug zu erreichen. Dies gelang nicht, er war zu klein. Da der große Georges im Lauf des Tages viel von seiner Ehrwürdigkeit eingebüßt hatte, stellte er sich mit den Füßen darauf und zog an der Schelle. Das Geräusch schlürfender Tritte von Innen verkündete, daß er gehört worden sei. In den Angeln knarrte die Tür, und Hans stand vor einem geistlichen Herrn mit gewaltigem Kahlkopf.

»Du bist Hans Höhrle?« war die kurze Anrede.

»Ja,« sagte der Knabe.

»Du hast die Nummer 28. Im Studiersaal findest du dein Pult, im Schlafsaal dein Bett und deinen Stuhl, am Tisch deinen Teller, alles mit der Nummer 28.« Damit ging der geistliche Herr durch eine Seitentür und bedeutete der Nummer 28, sie möge die Treppe emporsteigen.

Hans tat es. An den Wänden hinauf hingen Haussegen, Herzjesubilder und Kruzifixe, verdorrte Kränze und Weihwasserkessel, ach so viel aufdringliche Frömmigkeit, daß es dem Knaben angst und bange wurde. Auch quälte ihn der Gedanke, daß er von einer Persönlichkeit zu einer Zahl 72 heruntergesunken war, er fühlte den Abstand von gestern auf heute, war niedergeschlagen und wünschte nichts sehnlicher als sein Bett aufsuchen zu können. Das Essen berührte er kaum. Verschlafen machte er das Abendgebet mit. Die Responsorien schlugen aus endlosen Fernen an sein Ohr. Schweigend trabte die Herde der Schüler dem Schlafsaal zu. Hans riß das Fenster seiner Zelle auf. Sein Auge suchte die Weiten der Welt, gierig folgte er dem Zug der Wolken, dem Monde, der in der blauen Nacht wie ein goldenes Schiff nach fernen Gestaden schwamm.

Ach die enge Zelle mit der Nummer 28, dem Bette, dem Nachttisch und einem Stuhl ohne Lehne. O, wie wenig Raum für einen, der gewohnt war, dem Hirsche gleich ziellos durch Wald und Flur zu streichen. Der Knabe setzte sich und stützte das müde gedankenschwere Haupt mit den Händen. Ach, wäre er doch noch einmal zu Hause! Mit wieviel Bereitwilligkeit hätte er auf all die hohen Ehren verzichtet, zu denen die Strickleiter ihn führen sollte.

Mitten hinein in das grübelnde Suchen seiner Gedanken schlug der Ton einer kleinen Glocke. Hans wußte, daß es das Zeichen war, das Licht auszulöschen. Er tat es, aber er ärgerte sich über diese anmaßende Schelle, die sich herausnahm, sein ganzes Leben zu regeln, sein Wachen, sein Schlafen, seine Arbeit, seine Erholung, ja sogar sein Gebet. Aber er folgte, legte sein Haupt aufs Kissen und schlief ein. 73

 


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