Adam Karrillon
Die Mühle zu Husterloh
Adam Karrillon

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25. Kapitel

Am nächsten Tage sah man sich gelegentlich wieder in dem Jahrmarkttreiben der Straße; zwischen Buden mit Wachsstöcken, menschlichen Gliedern und ganzen Kindern von Wachs, zwischen Kruzifixen aus Holz, Gips, Zucker und Lebkuchenteig, zwischen allen Heiligen, die im Kalender stehen, und einigen anderen, zwischen Rauchfässern, Monstranzen und Kirchenfahnen, zwischen zuckernen Herzen für Liebende und Geliebte. Aber finden sich da nicht auch Stände mit künstlichen Gliedern, Bruchbändern, Krücken und Brillen? O, über den Wagemut dieser Kaufherrn von Walldürn, die vor der Wunderkonkurrenz nicht zurückschrecken und ihre Existenz auf den Handel mit jenen armseligen Hilfsmitteln stellen, die wir brauchen, den zerfallenden Bau der Gesundheit zu stützen! O, über die Blicke, die sie unter die Menge und die sie einander zuwerfen! Nur wer diese gesehen hat, kann abschätzen, was der Prophet in seinem Vaterlande gilt. O, über die Gedankenarmut der Menge, die keine Schlüsse zu ziehen vermag aus diesen Blicken, aus dem Vorhandensein all dieser optischen und orthopädischen Notbehelfe!!

252 Die Glocke ruft zum Hochamt. Es leert sich der Markt, und die Schiffe der Kirche füllen sich. Kopf an Kopf steht die Menge, die Leiber dunsten, und unter den breitgespannten romanischen Bogen breitet sich ein Duft aus von Menschenleibern, den die schweren Weihrauchwolken, die im Chore aufsteigen, nur mühsam übertäuben. Orgelklänge wälzen sich von Gewölbegurt zu Gewölbegurt, die Schellen klingen vom Altare her. Immer neue Weihrauchwolken steigen auf, die Kerzen blinzeln nur noch so durch den rauchverdunkelten Raum. Engbrüstige Greise fangen an zu husten, und hier und da sucht einer sich durch die Menge zu drängen, um draußen reine Luft zu atmen. Die Kirchentüren knarren in ihren Angeln und fallen mit störendem Geräusch ins Schloß. Jetzt der letzte Segen mit der Monstranz über tausend Menschenrücken, deren Auge das Heiligste nicht zu schauen wagt. Dann: »Großer Gott wir loben dich,« und der Vormittag ist vorüber. Die Andächtigen streben ihren Kosthäusern zu.

Am Nachmittag stagniert in allen Gassen Walldürns die Angst eines Schwurgerichtssaales, ein wahres Armesündergefühl. Dicke Patres, die Hände in den Ärmeln ihrer Kutten vergraben, sieht man über die Straßen laufen, hinter den Kirchentüren verschwinden und die Beichtstühle mit der Fülle wohlgenährter Leiber belegen. Ein großes Bußgericht hat seinen Anfang genommen. Keck und nicht ohne Grazie treten die Frauen vor den Beichtstuhl. Sie sind sicher, daß ihre Fehler Verständnis und Nachsicht finden vor den Richtern aus dem anderen 253 Geschlecht. Zagend und fast tölpelhaft kommen die Männer näher. Verlegen drehen sie an dem Rosenkranz in den harten ausgeschafften Händen. Nicht einer, der nicht an der kleinen Fußbank gestolpert wäre, auf die er knieen soll. Manche nehmen einen Anlauf nach einem Beichtstuhl hin, werden unschlüssig und weichen seitlich aus.

Aufgepaßt! Läuft da nicht Peter Hintenlang von Siedelsbrunn, der Mann mit den krummgeschworenen Fingern? Er sucht etwas. Ah, nun hat er, was er braucht; da kommt eben Hans Rubenschuh, der Kreuzträger, er, der sich auskennt am Gnadenorte wie ein Geheimpolizist. Ein leises Flüstern erst, dann lauter von Seiten des Rubenschuh: »Dort hinaus, hinter der sechsten Säule rechts an der Wand, Pater Cyprian, der schwerhörig ist.«

Das war's, was Hintenlang brauchte, und er gewann Zuversicht. Eine halbe Stunde später ging er mit fünf Litaneien Buße von der Drillage des Beichtstuhls weg. »Absolviert ist absolviert,« beruhigte er sein Gewissen, »bin ich etwa schuld, daß er schlecht hört?« Und er ging zum Altare, der das Gnadenbild barg, um seine Litaneien zu beten.

Da rutschten viele auf den Knieen umher, denen das »Ego te absolvo« des Priesters die Ruhe des Gewissens wiedergegeben hatte. Einige wollten ihre Kniee strafen, weil sie ihnen auf bösen Wegen gedient hatten, andere ihre Hände, die sie betend nach dem Himmel streckten.

Da, hinter mehreren Männern mit Armesündergesichtern her, kam eben auch die Rumpelbäuerin gerutscht, während Vater Höhrle an einer Säule lehnte. Seine 254 Zwei-Vaterunser-Buße hatte er abgebetet. Mehr hatte ihm der Richter im Gnadengericht nicht auferlegt, und das war zu viel für einen, dessen einziger Fehler darin bestand, daß er zu wenig in seinen Sack gemoltert hatte, als seine Steine noch fremdes Korn zerdrückten. Er war müßiger Zuschauer, wenn ihn nicht etwa die Neugier hertrieb, aus dem gekrümmten Rücken der Rumpelbäuerin zu erfahren, wie groß die Last gewesen sein könne, die sie abgeworfen hatte.

Nachdem er sich einmal an den Gedanken gewöhnt hatte, der eigenen und der Kinder Not durch eine reiche Heirat zu steuern, hatte er ein begreifliches Interesse daran, einiges aus dem Seelenleben seiner Zukünftigen zu erfahren oder zu erraten. So stand er denn und sah unter der Hülle eines seidenen Umhängetuches zwei Zentner Menschenfleisch im Marschtempo einer Schildkröte dem Gnadenaltare nahe rücken. Das Gesicht war der Erde zugekehrt und stak zu vierfünfteln zwischen den Blättern eines Gebetbuches. Herzerhebend war der Anblick gerade nicht; aber Vater Höhrle war ja auch kein Adonis mehr und hatte außer einer von der Sorge solide gegerbten Gesichtshaut wenig Reize in die zukünftige Gemeinschaft hineinzutragen. Deshalb freute er sich, als die dicke Büßerin endlich am Altare angelangt unendliche Zärtlichkeitsbeweise an einen marmornen Engelskopf verschwendete, dem die Küsse und Liebkosungen all der Millionen Waller die Nase gekostet hatten, so daß er aussah wie ein Karpfen. Mit dem konnte Vater Höhrle die Schönheitskonkurrenz noch aufnehmen. Das beruhigte ihn einigermaßen, als er sah, wie andere Gaffer 255 die mächtig hervortretenden Schenkel seiner Zukünftigen mit lüsternen Augen musterten.

So stand er zwischen Furcht und Hoffen da und addierte und subtrahierte gewissenhaft an den Schätzen herum, die er auf dem Altare der Venus noch zu opfern hatte, als ihm jemand auf die Schultern klopfte. Es war Franz Hartnagel von Vökelsbach, der Mann mit dem eingedrückten Nasenbein. Offenbar hatte er, ein zweiter Cumberland, in der Gedankenwelt des stillen Beobachters sich orientiert, denn er fuhr dort zu reden fort, wo Vater Höhrle eben zu denken aufgehört hatte.

»Bette sie nie in die Höhe über dich, dich schlägt sie tot, wenn sie herunterfällt.« So lautete der wohlgemeinte Rat, den er vorbrachte, während Zeige- und Mittelfinger seiner beiden Hände seine Nase so zu formen suchten, daß sie sich, ohne einen Volksauflauf zu veranlassen, in einem Menschenantlitz sehen lassen konnte.

Mittlerweile war die Rumpelbäuerin in dem Paternosterwerk, in dem sie weitergeschoben wurde, hinter dem Gnadenaltar verschwunden. Sobald sie auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kam, mußte sie ihr Gesicht den beiden zuwenden und sie erkennen. Das wollten diese vermeiden. Sie verließen deshalb die Kirche, schlenderten zwischen den Krämerbuden herum, kauften kleine Andenken ein für die Lieben in der Heimat und stießen schließlich mit dem Kreuzträger Rubenschuh zusammen, der einen Arm voll künstlicher Blumen eingekauft hatte, um das Kruzifix damit zu schmücken.

256 »Im Auftrage der Rumpelbäuerin und mit deren Gelde,« sagte er. »Sie will, daß es ein Ansehen habe, wenn es wieder zu Hause steht an der Kommunionbank.« So rüstete man schon wieder zur Heimkehr. Bald war die Nacht herum. Noch eine stille Messe in der Morgenfrühe, und die Gnadenzeit war vorüber.

Wer niemals hinter dem grünen Vorhänglein eines Beichtstuhles sich aus den Knieen erhoben hat, der gebe sich keine Mühe, er wird doch keine Vorstellung erringen von der beseligenden Leichtigkeit, mit der unsere Waller am nächsten Tage aus dem Tore Walldürns hinausschritten in das Frührot des jungen Tages. So mag's dem Schmetterling sein, wenn er aus der Raupenhülse steigt. Rechts und links vom Wege wogten die reifenden Kornfelder. Sie achteten ihrer nicht. Sie schwebten mehr als sie gingen in der kühlen Morgenbrise. Ihre Blicke hafteten da hinten an der roten Sammetportiere des Firmaments, in der sich ein Loch finden mußte, durch das sie mit ihren wallenden Standarten in den Himmel einziehen konnten.

Seid gesegnet all ihr frommen Täuschungen, die der Glaube uns vermittelt, gesegnet auch von uns, die wir den Zwang seiner Dogmen von uns schüttelten und uns doch nur ungern trennen von dem Trost, den seine Symbolik uns vermittelt. Selig, ja selig sind die Armen im Geiste, die ohne Gedankenblässe das Manna aufnehmen, wie es vom Himmel fällt, und sich daraus ein Hochzeitsmahl zu bereiten verstehn. Wie hob sich so frei der Blick unserer Waller zum Äther empor, der für ihr Auge von Engeln 257 wimmelt und seligen Geistern. Wie mischte sich ihr Sang mit dem Lied der Lerche und stieg gen Himmel empor wie weiland Abels Opferrauch.

In der Tat, an diesem Morgen kam sich die Prozession vor wie eine wandelnde Apostelschar, freilich nicht länger als bis der Druck eines Schuhes oder das Stechen eines Leichdornes den und jenen erinnerte, daß er mit der Erde und nicht eben sehr bequem, verbunden sei. Auch die Sonne die das Morgenrot verdrängte und einen funkelnden Strahlenregen niedersandte, trug viel dazu bei, unsere Waller zu ernüchtern. Die Blicke wichen der brutalen Helle der Junisonne aus und suchten an der Erde. Kam man an einem Wasserlauf vorbei, so tauchte der und jener sein Taschentuch in die feuchte Kühle und barg es unter seinem Hute. Auch der Hunger klopfte hier und da verstohlen auf eine Eierschale, und ein unstillbares Konversationsbedürfnis unterbrach die Minuten stiller Einkehr oder lauten Betens.

Was hatte doch der Kaplan gepredigt gestern, und vorgestern der hohe Kirchenfürst in der veilchenblauen Sutane? Ach! Wie ihm die weißen Locken um das noch jugendfrische Gesicht hingen, und wie sich das abhob von der Krause des Chorhemdes und von der goldgestickten Stola. Zu Hause hatte man ja auch einen Pfarrer, aber man war an seinen grobgeschnittenen Bauernschädel gewöhnt und an seinen polternden Faustschlag auf die Kanzel. Welch' überzeugender Liebreiz lag doch in den abgezirkelten Bewegungen der wohlgepflegten Hand, über die eine Spitzenarbeit ihre vornehmen Muster warf. O, diese Leute, sie 258 verstanden zu beobachten, und sie hatten auch herausgebracht, daß die Hölle, die sein beredter Mund erwähnte, eine viel erträglichere Temperatur aufwies, als die des Fastenpredigers auf der heimischen Kanzel.

Vom Pfarrer kam man auf den Meßner, vom Meßner auf die Chorknaben, von diesen auf den Klingelbeutel. Alles, rein alles war bemerkt worden und wurde einer kritischen Besprechung unterworfen, denn von manchem auch war man enttäuscht. Man hatte den Holzenbein von Hülsenhain mitgebracht, dem die Revolution des Jahres Achtundvierzig einen Schenkel mitgenommen hatte. Auf einer Stelze war er nach Walldürn gehinkt, und alle Welt hegte die stille Hoffnung, daß vor dem Gnadenaltare das Glied wieder anwachsen könne. Was war da Großes dabei? Hatten Krebsscheeren und Eidechsenschwänze wirklich etwas voraus vor menschlichen Gliedmaßen? Warum konnte nicht auch einmal ein Wunder sich vollziehen, das jeden Zweifel ausschloß? Gehende Lahme, sehende Blinde, redende Stumme, man trifft sie in den Vorhöfen aller Moscheen, an heiligen Wassern, auf der Schwelle jedes quacksalbernden Schäfers. Warum geschah nicht einmal ein Wunder, das jeden Fetzen von Gautamas heiligem Rocke legitimieren mußte und jede Franse von Muhameds grüner Fahne? Warum war dem Holzenbein kein heiler Schenkel zugewachsen? Gerne hätte man ihm eine neue Hose angeschafft und einen Schuh, den er ja dann benötigte, schon um des Ruhmes willen, der auf jeden Zeugen einer solchen Gnadenoffenbarung gefallen wäre. Und der Triumph, wenn man mit dem Geheilten durch 259 die Dörfer gezogen wäre. Doch was half's? Das Holzenbein hinkte hinterher, und mit dem Geschnacke konnte man sich nur die Seele beflecken, denn der Herr wird Rechenschaft verlangen, von jedem unnötigen Worte, das über die Lippen geht.

Adam Gutenrath hatte sich an der Debatte über das Wunder nicht beteiligt, obwohl er der einzige war, der verdiente, gehört zu werden, denn er hatte ein Wunder erlebt. Er hatte einen guten Menschen gefunden und einen Priester nach Gottes Herzen obendrein. Eine schwere Schuld schleppte er herauf zum Gnadenorte, die hatte ihm ein Heiliger abgenommen. Adam Gutenrath hatte eine Protestantin geheiratet, und ob dieser Sünde hatte sein Pfarrer ihn ausgeschlossen vom Liebesmahle am Tische des Herrn. So war er zum Gnadenorte gewallt in der stillen Hoffnung, daß ihm ein Zeichen werde, daß Gott barmherzig sei. Und es war ihm geworden.

Was seine Seele drückte, hatte er ausgeschüttet vor dem Priester, vor dem mit dem feinen Aristokratengesicht und mit den sprechenden Händen, und er, der Diener am Worte des Herrn, hatte ihm gesagt, daß Gott die Pfade seiner Kinder oft wundersam verwirre, aber alle so führe, daß sie vor seinem Throne zusammenlaufen könnten. Nun war der gequälte Sünder ruhig. Er und sein Käthchen konnten die Erdenpilgerfahrt zusammen machen und einst im Vaterhaus gemeinsam leben. Sie mit dem Strickstrumpf neben ihm, die Starenhälse im Käfig über sich, wenn er an seiner Werkbank schaffte und Fenster flickte, die der Sturm 260 beschädigt hatte, am himmlischen Vaterhaus. Daß er dies umsonst besorgen werde, war selbstverständlich. Doch halt, nicht ganz umsonst. Die Kost mußte der liebe Herrgott stellen, nämlich für sein Weib, die Starenhälse und ihn. O, das war eine herrliche Perspektive, die sich da vor seinen Blicken auftat und zwar für eine ganze Ewigkeit. Berauscht vom Glück war Adam Gutenrath durch die Hitze des Mittags gegangen und jetzt, wo der Abend niedersank und eine schläfrige Müdigkeit bleischwer auf den anderen lastete, war er noch munter und guter Dinge. Ja, er machte sogar einen vertrackten Sprung in die Luft, wie ein junges Kalb, als der Ton einer Trompete an sein Ohr klang. Alles hatte den Klang gehört, und von Mund zu Mund ging es: »In Gittersbach ist Kirchweih, das trifft sich gut, nun kann Vater Höhrle mit der Rumpelbäuerin den Brauttanz wagen.«

Jetzt jagte ein Witz den anderen, und eine Polkaweise, die übers Tal herüberklang, lockte die ganze ehrwürdige Prozession in Sprungschritten dem Dorfe zu. Anfangs erregte die Frage, wie man die Waller für die Nacht unterbringen könne, in der Festgemeinde einige Besorgnis. Bald aber hatte jedermann die Sicherheit erlangt, daß es ihm über Nacht nicht in die Nasenlöcher regnen würde. Man freundete sich ein wenig an bei seinem Gastgeber, bekam ein Paar bequeme Schuhe geliehen und schlich damit dem Tanzboden zu. Anfangs stand man in den Ecken umher, dann setzte man sich, bestellte ein Glas Wein, das von Mund zu Munde die genußreiche Runde machte. Der 261 Geist, der aus dem Glase stieg, erweckte die Lust, diese den Mut, und ein geringes Zureden von Seiten der Gittersbacher reifte den Entschluß zum Tanzen.

Hans Rubenschuh hatte den Herrgott unter der Toreinfahrt ins Trockene gestellt und trat an mit der Rumpelbäuerin. Der Boden wiegte sich in elastischen Wellen unter dem Gewicht der Tanzenden. Die Gläser klirrten auf den Tischen widereinander und rutschten dem Rande zu, und selbst die Menschen, die saßen, fühlten sich im Takte gehoben und wieder gesenkt. Auch wer nicht wollte, nahm in dieser Art am Tanze Anteil. Niemand und nichts konnte sich ausschließen. Es tanzte die Lampe am Durchzug und der Weihwasserkessel neben der Türe. Höher und höher stieg der Taumel. Der Rhythmus der Instrumente wurde unterbrochen durch Extrazugaben besonders geschickter Paare. Der hob sein Mädel hoch und ließ sie elastisch wieder auf die Füße fallen. Jener stampfte mit den Absätzen einen Trommelwirbel mitten hinein zwischen das Getriller der Klarinette und das Gebrumm der Baßgeige.

Gab es eine Pause, so ließen sich die schnaufenden Tänzerinnen ermattet auf den Schoß der Burschen fallen, trockneten die Gesichter mit dem Schürzenzipfel und warteten auf einen kühlen Trunk. Heimliche, versengende Blicke wurden über den Rand des Glases getauscht. Inniger, schwerer lasteten die Leiber aufeinander, und deutlicher wurden die Abdrücke der Hände rückwärts auf den hellen Blusen der Tänzerinnen. Und draußen lauerte die kuppelnde Nacht und zimmerte mit Finsternis ein Chambre separée neben das andere.

262 »Tu draußen den Herrgott weg,« flüsterte Adam Gutenrath dem Hans Rubenschuh ins Ohr, »er braucht nicht alles zu sehen, was vorgeht.«

Der Glaser hatte richtig beobachtet, obwohl man kein Hellseher zu sein nötig hatte, um zu erraten, was vorging. Hans trug das Kreuz in den Nebenbau. Der Tanzsaal wurde leerer, als der Alkohol die Köpfe füllte. Öfter noch traten die glühenden Paare hinaus ins kühle Dunkel und fanden Beruhigung. Gruppen von Mädchen, die keinen Anschluß gefunden hatten, verschwanden gleichfalls aus den Saalecken. Draußen lösten sie sich auf wie eine Kompagnie Soldaten, die den Aufklärungsdienst besorgt. Nach einer Weile kamen sie wieder, legten sich über den Nacken der Freundinnen und flüsterten diesen den interessantesten Rapport mit lachendem Munde zum Ohre.

Vater Höhrle hatte als stummer Teilnehmer seither dem Kirchweihtreiben zugeschaut. Er sah, wie der volle Busen der Rumpelbäuerin in den Armen junger Burschen schwappte, sah die Sinnlichkeit aus ihren Augen glühen, hörte ihr einladendes Lachen, das wie die Ouvertüre einem größeren Werke vorauszugehen schien. Der gute Eindruck, den sie vor dem Gnadenaltare zu Walldürn auf ihn gemacht hatte, war im Schwinden.

»Ich glaub', die Rumpelbäuerin zählt die Sterne am Himmel,« sagte Franz Hartnagel, »du solltest dies Geschäft mit ihr teilen, Vater Höhrle.«

Der Müller ging in der Tat quer über den Saal und verließ durch die Hintertür das Haus. Er tastete sich 263 eine alte ausgetretene Klötzelstiege hinunter, dann über den Hof mit seinen Reisigbündeln und seinen umherliegenden Strohseilen, die seine Füße zu fesseln suchten. Ja, da war er nun an dem Nebenbau. Hier fühlte er einen kleinen Stallladen, und daneben mußte hinter einer Tür die Treppe sein, die zum zweiten Stock hinaufführte, wo man ihm ein Lager bereitet hatte. Vater Höhrle fand die Tür und öffnete sie, aber dahinter war keine Treppe, die aufwärts leitete. Im Gegenteil, der vorsichtig tastende Fuß geriet tiefer und tiefer, ohne im Dunkeln einen Halt zu finden. »Wo der Teufel bin ich denn,« dachte der Suchende, zog das Knie hoch und entzündete auf seinem Schenkel ein Streichholz. Erst der übliche Gestank, dann ein fades, spukendes Licht, und zuletzt ein erträglicher Schimmer, der eben genügte, einen Holzstall zu beleuchten und darinnen ein Menschenpaar in innigster Liebesumarmung.

Im nächsten Augenblick war der Müller und die ungebetene Helle, die er verbreitete, über den Haufen gerannt, und vier Füße stürmten über ihn weg ins Freie. Das war für des Mannes Vorderseite kein angenehmes Gefühl, aber auch der Rückseite war wenig Gutes beschieden. Vater Höhrle war ins Nasse gefallen, und eine kühle Feuchtigkeit kroch ihm langsam vom Gesäße den Rücken hinauf. Weich lag er, aber wenig reinlich, wenigstens dann nicht, wenn die Unterlage das war, was ein übler Geruch ihr nachsagte. Vater Höhrle hatte es deshalb eilig, aus dem Wagrechten ins Senkrechte zu kommen.

Jetzt war er orientiert. Das Streichholz hatte ihm 264 verraten, wer im Holzstall war, und hatte ihm den Weg gezeigt zu seinem Ranzen, dessen Riemen er über die Schulter warf, entschlossen, einsam in die Nacht hinauszuwandeln und einsam durchs Leben.

Wie er so im Dunkeln den Hausflur durchtappte, zischelte es zu seiner Seite geheimnisvoll, wie wenn der Zaunkönig durchs Rauschgold der Totenkränze schlüpft. Vater Höhrle tastete ein wenig und entdeckte das Kreuzbild des Heilandes, das man aus dem Sündentreiben da unten hier heraufgetragen hatte. Ein inniges Mitleid erfaßte ihn mit dem Vereinsamten aus Nazareth.

»Ach, daß du dich nicht losmachen kannst von der Gesellschaft der Narren und Heuchler,« sprach er zu ihm, »aber warte, ich will dich wenigstens befreien von dem lausigen Tand, der in ›ihrem‹ Auftrag und von ›ihrem‹ Gelde bezahlt, um dich geschlungen wurde. Morgen wird die blöde Herde sagen: »Der Teufel war da und hat des Herrn Bild geschändet.«

Damit riß der Marschbereite, der die Worte ›ihr‹ stark betont hatte, den Kranz herunter und streute die Papierfetzen über die Diele.

Bald war Vater Höhrle zum Dorfe hinaus und trat hurtig wie ein Daktylus in die Nacht hinein, und sein Stock im gleichen Versmaß neben ihm her.

»Was werden wir morgen arbeiten?« dachte er, »Gras holen aus der Wiese, die Kühe füttern, dann zu Mittag essen, dann Holz spalten und am Abend zeitig zu Bette gehen. Ich werde müde sein morgen Abend,« so dachte er, 265 »recht müde.« So hielt der nächtliche Wanderer seine Gedanken gewaltsam an die Alltäglichkeit gefesselt, er wollte nicht rückwärts denken und noch weniger weit voraus.

Steigungen wechselten mit Gefällen, der Wald mit Wiesengründen und Kartoffelfeldern. Aus dem Schoße der Nacht wurde die Dämmerung geboren. Vater Höhrle achtete nicht auf all diese Dinge. Als aber von fernher durch das Schweigen des Frühmorgens das Aveläuten ertönte, da schlug er ein Kreuz, um zu beten, aber was er betete, war kein »Gegrüßet seist du Maria,« er betete schlicht und einfach: »Herr Gott, ich danke dir für das Streichholz, das du in meine Westentasche gelegt hast. Ohne sein Licht wäre ich mit Hörnern gleich einem Edelhirsch unter der Sonne herumgelaufen.« Dann schlug er abermals ein Kreuz und stieg den Berg herab seiner Mühle zu, deren Rauch mit dem aufsteigenden Morgennebel sich zu einem langgezogenen grauen Trauerwimpel vereinigte. 266

 


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