Adam Karrillon
Die Mühle zu Husterloh
Adam Karrillon

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24. Kapitel

Es war eines Morgens in der Frühe. Die liebe Sonne drückte auf den Nebel, so daß er sich duckte wie ein Hund und sich am Bache hinschlich wie ein Dieb, als das Tal herauf ein vielstimmiger Chor erklang: »In Gottes Namen fahren wir.« Vater Höhrle öffnete das Fenster und lauschte nach der Straße hinüber. Ei, da hörte man eine hohe selbstgefällige Stimme, die der Melodie allerlei Schnörkel andichtete und über der Komposition schwebte, wie der Geist Gottes über den Gewässern. Das muß sie sein, dachte der Müller, hing den Riemen seines Ranzens über die Schulter, steckte den Rosenkranz in die Tasche und trat vor die Tür. Eben kam Hans Rubenschuh mit dem Herrgott um die Ecke und hinter ihm ein Haufen Männlein und Weiblein mit verstaubten Schuhen und überhitzten Gesichtern, die von Schweiß und frommem Eifer glänzten. Höhrle schloß sich dem Zuge an, als eben der Gesang aufhörte, und ein Vorbeter einen Rosenkranz herunterzuleiern begann. »Und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus,« floß es in monotonem Rhythmus von hundert Lippen herunter und wiederholte sich 238 mit kräftiger Betonung, sobald man an einem der Muttergottesbilder vorüber kam, die in Nischen vor den Häusern standen. Es war, als ob man dem Holz die Fähigkeit zutraute, all die Bitten der Mühseligen und Beladenen weitergeben zu können, zu einem, der sie erfüllen kann.

Als man das Dorf im Rücken hatte, war man der Verpflichtung enthoben, ein gutes Beispiel geben zu müssen. Gesang und Beten hörten auf. Einige setzten sich an den Straßenrand und zogen ihre Schuhe aus. Ein Paar Sohlen konnte der Bittgang ohnedies kosten, aber wenn der Schuster seinen Kredit beim Gerber erschöpft hatte und schlechtes Leder bekam, dann war es fraglich, ob die Sohle überhaupt ausreichte. Also fürsorglich sparen. Hans Rubenschuh machte sich die Sache gleichfalls etwas bequemer. Er hielt das Kreuzbild nicht mehr aufrecht, sondern warf es, wie man eine Flinte trägt, leichthin über die Schulter. Bei diesem Geschäft trieb er dem Hansebauer von Siedelsbrnun, der hinter ihm ging, den Hut ein. Der wurde verdrießlich und sagte: »Paß auf, du Scheeler, Holz ist Holz, auch wenn ein Herrgott daraus geschnitzt ist. Wie leicht ist es geschehen, und du schlägst einem deiner Mitmenschen den Schädel ein.« Rubenschuh sah über die Achsel, zog den Mund etwas krumm und marschierte weiter.

Man war an einer Zündholzfabrik vorübergekommen, dann an einer Mühle. Jetzt wurde das Tal weiter, und im Vorblick lag lang hingestreckt das Dorf Affolterbach. Seine Herrscher waren vordem die Kurfürsten von der Pfalz gewesen, und seine Bewohner waren mit Friedrich 239 dem Bösen zum Protestantismus übergegangen. Seitdem hatten sich die Gesichter dieser Leute geändert. Das bequeme Gottvertrauen war daraus verschwunden, und mutige Energie hatte sich breit hineingelagert, aber auch der heitere Wille, von des Lebens Freuden an sich zu reißen, was möglich wäre.

Auch die Tracht hatte den äußeren Menschen der inneren Stimmung angepaßt. Der Wetterverteiler auf den viereckigen Bauernschädeln hatte dem runden Filzhut den Platz geräumt. Die Frauen fingen mit Umhängen an, sich modisch zu kleiden. Diese kleinen Leute von Affolterbach fühlten sich als Kulturträger inmitten all der Orte, die unter dem Mainzer Krummstab die Reformation katholisch überdauert hatten. Sie waren etwas hochnäsig und geneigt zu witzeln.

Nun kam ein großer Haufe derer, für die ihr gehobenes Selbstgefühl manch scharfes Wort schon geprägt hatte. Sollten sie sich diese Gelegenheit zum Spotten entgehen lassen, dachten die Waller, und sammelten sich am Eingang des Dorfes um den Rubenschuh und seinen Herrgott zu entschlossenem Widerstand. Die Vordersten hatten halt gemacht, und die Nachhut engbrüstiger Weiber und gichtbrüchiger Männer floß in den Haufen herein. So, nun waren sie alle zusammen und hatten Mut; nun sollte einer wagen, ihnen etwas in den Weg zu legen. Einige Hunde, dickköpfige Inkarnationen fanatischen Religionshasses, waren in der Tat mit Gekläffe angerückt. Man hatte ihnen die Absätze mit den krantigen Schuhnägeln 240 gezeigt. Nun waren sie durch die Gartenzäune gekrochen und bellten hinter deren sicherem Schutze. Dagegen war nichts zu machen. Ihr Toben konnte man nur überschreien und zwar mit einem Muttergotteslied, das diesen protestantischen Biestern und ihren Herren ein rechter Greuel sein mußte. Also sang man mutig in die Lüfte hinein: »Maria zu lieben, ist allzeit mein Sinn,« und über dem Stimmengewoge erklangen die Triller der Rumpelbäuerin, der herzhaftesten von allen, die par coeur sang, wie eine Wachtel im Spinat.

Die Leute von Affolterbach, diese aufgeblasenen Leute, liefen an die Fenster. Kinder drängten sich auf den hohen Treppen. Man sah neugierige, spöttische, lächelnde Gesichter, aber sonst geschah nichts. Man hatte sich zur Ehre Gottes und zum Ärger des Nächsten durch diese Ketzergemeinde sehr geordnet, sehr imponierend hindurchgesungen. Nun konnte man sich wieder gehen lassen. Die paar Köter, die, den Grimm des geärgerten Dorfes vorstellend, noch immer schimpfend, aber in klug herausgerechneter Distanz dem Zuge folgten, ignorierte man. Man kam durch einen Wald. Der Schatten der Bäume legte sich über die erhitzten Stirnen und beruhigte allmählich auch jene sensiblen Naturen, die Herzklopfen bekommen hatten, weil sie einen Protestanten anzugucken gezwungen waren. So zog denn wieder Gottesfrieden mit dieser Herde, und in diesem Augenblick hätte vielleicht auch der mit dem Schwarme ziehen können, der einst mit der Samariterin am Jakobsbrunnen über 241 die Arten der Gottesverehrung so verständig gesprochen hatte.

Man war nun an eine Stelle des Waldes gekommen, wo vergilbtes Papier umherlag, zerbröckelte Eierschalen und hie und da die Scherben einer zerbrochenen Flasche. Schon achtundzwanzig Jahre führte Rubenschuh die Prozession nach Walldürn, achtundzwanzigmal schon hatte er an dieser Stelle gerastet, und er stellte auch heute den Herrgott an den borkigen Stamm einer alten Tanne, die der Wind krumm gedrückt hatte. Dann warf er den breiten Lederriemen seines Ranzens über den Kopf und sich selber zwischen die einladenden Früchte der Heidelbeersträucher. Alle Welt folgte willig seinem Beispiel. Bald hörte man die Stopfer schnalzen, die den Mokkasaft der Flaschen hüteten. Messerstiele hämmerten auf Eierschalen. Würste wurden ausgepackt und mit den Därmen, denen sie Form und Gestalt verdankten, sparsam verzehrt. Gaumen und Zunge feierten ein Freudenfest. Wer seinen Hunger gestillt hatte, suchte rund um sich herum in den Heidelbeersträuchern einen billigen Nachtisch. Man mußte doch die Beine noch ein bißchen ruhen lassen. Sie waren am ganzen Körper das am wenigsten sündhafte Glied, und doch mußten sie alle anderen hinaus zum Gnadenorte schleppen. Es war so mollig, sie im weichen Moos liegen zu sehen und den lieben Nächsten ein wenig zu hänseln.

Bruder Joachim kitzelte die Greth vom Stallenkandel, daß diese lachen mußte, und alle anderen lachten mit. Der Röse Ricke wollte ein launiger Geselle einen Maikäfer ins 242 Genick setzen. Sie floh vor dem zappelnden Ungetüme und lehnte sich so an den Stamm einer Birke, daß sie das ganze bunte Zigeunerlager vor Augen hatte. Nun würde irgend eine bedeutende Bemerkung als Honigseim über ihre Lippen fließen, das fühlte jeder, und sie kam auch.

»Seht da,« rief sie verwundert, »da sitzt Vater Höhrle neben der Rumpelbäuerin. Haben die zwei nun die Tauben zusammengetragen oder haben sie selber den Tierchen ein wenig nachgeholfen? Einerlei, die zwei gäben wohl ein schönes Paar.«

Die Rumpelbäuerin ging auf Röse Rickens Anspielung ein, sie schlug den Arm um Vater Höhrle und sagte: »So könnten wir wohl zum Photographen gehen.«

»Auch aufs Standesamt,« rief man lachend von allen Seiten. »Ihr habt beide schon in den sauern Apfel der Ehe gebissen, euch werden die Zähne nicht mehr stumpf, also Glück auf!«

Oft schon hat einer für ein ganzes Volk gedacht; sobald aber viele für einen denken, so geschieht dies weder sehr tief noch nachhaltig. So war auch Vater Höhrles Angelegenheit bereits vergessen, bevor sich die Waller zur Fortsetzung der Fahrt wieder in Marsch gesetzt hatten. Er selber freilich wälzte den Gedanken unruhig bei sich hin und her. Dies Weib mit seinem sinnlich groben Unterkiefer und den hochgezogenen Hüften, flößte ihm wenig Verehrung ein. Auch der schwere Tritt, zu dem man sich unwillkürlich das Klirren von Reitersporen hinzudenken mußte, sprach von impulsiver Energie, unter 243 welcher der gebeugte Rücken Höhrles sich noch tiefer neigen mußte. Von der Sorte hatte er schon mehr als zuviel gehabt, aber sie brachte Geld ins Haus. Geld, das ausreichend war, die Familie auf der Mühle zu erhalten und vor allen Dingen dem Sohne die Möglichkeit zu bieten, seine Studien zu vollenden. Was war daran gelegen, ob Vater Höhrle den Rest seines Lebens mehr oder minder geknickt über die Scholle wanderte, wenn nur die Scholle, das teuere Vermächtnis seiner Ahnen, seinen Kindern erhalten blieb. So suchte sich der verspätete Freier an den Gedanken zu gewöhnen, daß er mit der robusten Frau zum Traualtar schreiten könne, wenn er sich auch eingestehen mochte, daß er neben ihr eine fast klägliche Figur machen müsse.

Die Rumpelbäuerin ihrerseits schritt derweilen, wieder losgelöst von ihrem Verehrer, zwischen einer Anzahl junger Männer ins Wiesental des Dorfes Olfen hinab, und wer die Klangfarbe des Lachens zu deuten verstand, das zuweilen aus dieser Gruppe herüberschallte, der wußte, daß sich ihr Gespräch um andere freudenreiche Geheimnisse drehte, als die des heiligen Rosenkranzes waren.

Es wurde Abend. Die Sonne sah mit halbverdecktem Gesicht über den Berg herüber und warf glühende Pfeile auf einen Taubenflug, der liebesmatt auf dem Strohdach eines Hauses lag. Feine, flimmernde Kragen, die aus Perlmutter gearbeitet schienen, lagen den Tieren um die Hälse und warfen in gebrochen zwinkernden Lichtern alle Farben des Regenbogens in die Abendstimmung des Tales 244 hinaus. Die Schar der Waller ging achtlos an dieser Goldschmiedearbeit des Schöpfers vorüber, aber Adam Gutenrath, der Glaser, der oft beim Lampenlicht in den Diamant geguckt hatte, mit dem er sein Glas schnitt, hob den Kopf und riß die Augen auf.

»Starenhälse,« rief er, »Starenhälse,« und sprang voll Eifer ins Haus.

»Da haben wir's,« sagte der Kreuzträger Rubenschuh, »bis der Narr seinen Handel abgeschlossen hat, wird's eine halbe Stunde dauern. Zwei Zughunde könnte man mitführen und einen Geflügelkäfig statt Fahnen und Kruzifix, wenn jeder dem Federvieh nachlaufen wollte, wie der da,« und er stieß ärgerlich das Kreuz auf den Boden.

In der Tat, schon drohte die Nacht, und man hatte noch eine Stunde zu gehen. Es gab fromme Leute, denen das recht war. Das Dunkel stellte die Marschordnung auf den Kopf. Was alt und gebrechlich war, kam voraus, die Jugend geriet seltsamerweise in die Nachhut und suchte paarweisen Anschluß. In zwei Tagen war man in Walldürn; was verschlug es da dem Beichtvater, ob er mit dem Striegel der Generalbeichte eine Sünde mehr oder weniger herunterkratzte, nachdem die Nacht, die große Kupplerin, eine so unvergleichliche Gelegenheit geschaffen hatte.

Der Mond ging auf und war vielen, nicht allen willkommen. Obwohl er noch tief am Firmamente stand, fielen doch seine Strahlen so, daß der Waldweg, den man jetzt emporstieg, gut beleuchtet und nur an wenig Stellen von Schatten überlagert war. Müde, schleppende Schritte 245 brachten die Waller endlich aus dem Walde auf einen bebauten Bergrücken, dessen Scheitel von einem seltsamen Dreifuß gekrönt war. Das Mondlicht rann an drei gespenstischen Säulen nieder, deren Kapitäle durch Querbalken verbunden waren. Im ersten Moment erweckte das seltsame Bauwerk die wehmütigen Gefühle, die uns beim Anblick alter Tempelreste zitternd durch die Seele ziehen, bis Hans Rubenschuh erklärend ausrief: »Das ist der Galgen!« und nun die Geschichte erzählte, die er schon siebenundzwanzigmal bei der gleichen Gelegenheit erzählt hatte:

»Als noch die Grafen von Erbach ihre eigenen Zentgerichte hatten, damals war mein Großvater Scharfrichter. Gar manchem hat er bei gutem und schlechtem Wetter hier an dem Querbalken in die Höhe geholfen, damit er sich die Gegend noch einmal gründlich betrachten und dann Abschied nehmen könne. So schritt er auch eines Tages neben dem Kaspar Sachs von Kirchbrombach nach dem Hochgericht, denn Kaspar Sachs hatte im gräflichen Revier einen Hirsch geschossen, sah sein Unrecht ein und ging, die Pfeife im Munde, der Ewigkeit gelassenen Schrittes entgegen.

»Lieber Henker,« sagte er unterwegs, »die Pfeife ist unter Brüdern einen Gulden wert und zur Stunde frisch gestopft. Sie soll nach meinem Tode dein Eigen sein, wenn du mir einen kleinen Gefallen tun willst. Sieh' her, ich habe einen Kropf, wie alle Kirchbrombacher. Nun bin ich da unter der garstigen Kohlrübe ein wenig kitzlich, sei drum so gut und lege deine hänferne Halsbinde getrost über des Kropfes größte Wölbung. Die Pfeife wird noch 246 brennen, wenn ich ausgeschnauft habe, 's ist guter Tabak drin, und du kannst sie ruhig weiterrauchen, ohne Feuer zu schlagen.«

Meinem Großvater gefiel der Handel, und er tat, wie verabredet.

Einen Augenblick baumelte Kaspar Sachs, dann rutschte die Schlinge ihm übers Gesicht, drückte ihm die Nase ein wenig platt, und nach dieser Unbequemlichkeit stand der Gehängte mit beiden Stiefeln wieder auf dem Rasen unter dem Galgen.

»Wer einen Hirsch schießt,« sagte der Zentrichter, »der soll gehängt werden, so verlangt es das Gesetz.«

»Gehängt ist Kaspar Sachs, also haben wir mit der Sache nichts mehr zu tun.«

Der Wilddieb bückte sich nach seiner Pfeife. Richtig, sie brannte noch, und nun lief er mit großen Schritten quer übers Feld nach Kirchbrombach zu. Mein Großvater stand grün vor Ärger auf der Leiter und rief dem Davoneilenden nach: »Halunke, ein andermal mach ich den Strick dir unter die Rübe.«

Einige hatte die Furcht um den Erzähler geschart, andere der prickelnde Schauer, den der unheimliche Ort ausdunstete, und so war die Prozession wieder vollzählig beisammen, bevor man Beerfelden erreichte.

In der Herberge zum Lamm hatte man die Diele des Tanzsaales mit Stroh belegt, und nach einem kurzen Abendbrot lag die fromme Herde, jedes Lamm seinen Reisesack unterm Ohre, in geräuschvollem Schlummer. Während 247 der Nacht ereignete sich nichts. Nur war die Rumpelbäuerin, der man als einer Respektsperson ein Lager auf der schmalen Wirtstafel bereitet hatte, heruntergefallen und hatte dem Franz Hartnagel von Vökelsbach das Nasenbein eingedrückt.

Die Sonne des nächsten Morgens fand eine geschwollene, blauschillernde Nase, sonst aber alles bei guter Laune, und mit schallendem Lied und wehenden Fahnen zogen die Waller über den Krähberg nach Schöllenbach hinunter. Von dort gleich hinter der kleinen Kirche, vor der ein breiter Bach mit einem Male aus der Erde bricht, beginnt ein mühsamer Aufstieg. Zwischen Hainbuchen und Haselnußstauden, die sich mit langen dünnen Fingern an dem steinigen Boden festhalten, steigt ein Pfad hinauf, fast senkrecht, als ob er nach dem Monde wolle. Die Waller beantworteten diese Zumutung mit hörbarem Schnaufen, Ächzen, Stöhnen und zuweilen mit dem Stoßseufzer »o, Jesu!« Hans Rubenschuh, der den Herrgott trug, war an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit angekommen und bat seinen Nachbar, ihm den Allmächtigen abnehmen zu wollen. Der weigerte sich entschieden, und auch ein anderer lehnte die Ehre ab. Da fing Rubenschuh an gotteslästerlich zu schimpfen und zu fluchen, worauf sich dann doch ein gutmütiger Simon von Cyrene fand, der ihm das Kreuz abnahm.

Auf dem Moosboden der Bergeshöhe, wo der Wald leichter fort kann, kühlte der Schatten des Blätterdaches wieder die heißen Stirnen, und ein Blick nach der 248 Talsohle hinunter, wo das Schloß Waldleiningen mit seinem roten Sandstein aus saftgrünem Wiesenteppich aufsteigt, dünkte denen, die zum ersten Male die einsame Straße zogen, ein Blick ins Paradies. Man vergaß fast, daß die Wanderung ein Ziel hatte. Niemand wollte mehr weiter. Bald saßen einige am Boden und lehnten den Rücken an die silberschimmernden Buchenstämme. Die Futterkörbe gaben ihren Inhalt her, und es begann nach kurzer Zeit ein kurzweiliges Necken und Hänseln der Satten. Röse Ricke wollte das Taschentuch des Adam Gutenrath verstecken und sagen, die Starenhälse seien davongeflogen. Doch sie vergriff sich und entwickelte aus einem Tuche einen sonderbaren Gegenstand. Es war ein Herz aus fleischfarbigem Wachs. Frau Rauschkolb hatte es dem Stefan Garkoch mitgegeben, daß er es aufhänge am Gnadenaltar, denn sie wünschte, daß ein Wunder das harte Herz ihres Mannes erweichen möchte.

»Den alten Sünder umstimmen,« sagte Röse Ricke, »eher kochst du einen zehnjährigen Gänsert gar. Dem Gaul, auf den er sich gesetzt hat, sei der Himmel gnädig.«

Vater Höhrle zuckte zusammen bei diesen Worten und verfärbte sich, denn er wußte, daß Rauschkolb zwei Hypotheken erworben hatte, die auf seiner Mühle ruhten. Wie konnte das enden? Die Rumpelbäuerin, so dumm sie war, hatte die Gedanken ihres Nachbars auf dessen Gesicht gelesen und rückte näher, so nah, daß Vater Höhrle die Wärme ihrer Schenkel spürte.

»Seid ruhig,« flüsterte sie, »was das Gnadenbild nicht zu vollbringen vermag, bringt vielleicht die Rumpelbäuerin 249 fertig,« und sie drückte dem geängstigten Manne kräftig die Hand.

So wenig Aufsehen erregend dieser Vorgang war, so hatte man ihn doch bemerkt, und als der Zug der Pilger weiterschritt und die Rumpelbäuerin sich gar in den Arm des Vater Höhrle hängte, da sprach Stefan Garkoch zu Adam Gutenrath: »Ich denke, das Wachsherz dem Schuster Zwecke mit nach Hause zu bringen, damit er seinen Draht dran steift. Das Wunder, um das die gute Frau Rauschkolb den Himmel bittet, ist, wie mir scheinen will, unnötig geworden.«

Der fromme Zug der Pilger, Rubenschuh immer voran, hatte den Wald in seinen Rücken gebracht. Vor ihnen erhob sich aus einer Wolke von Obstbäumen der Kirchturm von Mudau, und die eherne Stimme einer Glocke grüßte die Wallenden mit »Aveläuten«. Man betete, schritt aber wacker aus.

Als man sich hinter Mudau dem Gnadenorte immer mehr näherte, lief man mit anderen Prozessionen zusammen, die, wie die Speichen nach der Nabe, alle nach Walldürn zustrebten. Kleinere Ströme flossen in größere hinein, verloren ihre Farbe und ihr spezifisches Gepräge. War auch der Text der Wallfahrtslieder der gleiche, so hatten sich mit den Diöcesangesangbüchern die Melodien geändert, und jeder Versuch, einen gemeinsamen Kantus zusammenzubringen, endete in einem wahren Babel von disharmonischen Mißverständnissen. Man begnügte sich, Litaneien herzubeten, bis ein vielstimmiges Glockengeläute den Wallern 250 entgegenkam und Antiphon und Responsorien mit dumpfem Brüllen verschlang.

So zog man zum Tore hinein, als die Abendsonne den langen Schatten der Gnadenkirche auf die benachbarten Dächer warf und an die fensterlose Wand eines Güterschuppens, wo er höher und höher stieg, bis er über den Dachfirst gekrabbelt war.

Im Städtchen zerstreuten sich alle. Der hatte einen Bekannten, bei dem er Unterkunft zu finden hoffte; jenem war eine billige Herberge empfohlen, die seinen Leib pflegen sollte in der Zeit, wo die Wiedergeburt der Seele sich vollziehen mußte. Kaum einer noch hielt beim andern aus, und als der Wächter die elfte Stunde durch sein Kuhhorn blies, lag der eine da, der andere dort auf Strohhaufen, auf alten Decken, neben Menschen, von denen er bestimmt wußte, daß sie ihm keine Reichtümer stehlen würden, auch dann nicht, wenn sie nicht gleich ehrlich sein sollten wie er selber.

Vater Höhrles Geist verließ, im Gefühle, zu fünfsechstel verlobt zu sein, die Welt der Realitäten und trieb träumend auf hypothekenfreien Wolken hinaus in blaue, lüsterne Weiten. 251

 


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