Adam Karrillon
Die Mühle zu Husterloh
Adam Karrillon

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10. Kapitel

Am Tage nach seiner Ankunft in der Stadt wanderte unser Hans nach dem Gymnasium und nahm als Begrüßung eine Tracht Prügel entgegen, die ihm von Seiten seiner Mitschüler nicht eben kärglich im Schulhof zugemessen wurde. Das war so hier wie wohl auch anderwärts die Art, wie man den Neuling feierlich einweihte, das Heimweih schonend austrieb und in unserem speziellen Falle die Gedanken an eine lichtgrüne Wiese, auf der zwischen buntscheckigem Vieh ein kleines Mädchen herumlief, begehrenswert und lockend wie ein reifer Pfirsich, und doch verehrungswürdig wie eine Heilige. Hans Höhrle hatte schon in früher Stunde noch vor dem Morgengebete an sie gedacht, und als er zur Schule ging, nahm er die Strickleiter mit, weil er das Gefühl hatte, er müsse gleich am ersten Tage für sie und sich einige Sprossen aufwärtssteigen.

Nach ermüdendem Herumstehen auf den Gängen rief ein Glockenzeichen die Jungen in die Klasse. Man setzte sich in die während der Ferien neu gefirnißten Bänke, wie es der Zufall eben wollte. Hans kam zwischen zwei freche Offizierssöhne zu sitzen, die, wie sie sagten, nur 87 eine Nachprüfung abzulegen hatten. Sie machten sich lustig über den etwas unbehilflichen Bauernjungen, fragten ihn, ob es im Odenwald noch Känguruhs gäbe, und als er dies verneinte, meinten sie, sie seien auf diesen Verdacht gekommen, weil er so aussehe, als ob er von einem dieser lieblichen Haustiere abstamme. Hans ärgerte sich und griff dem einen nach dem dünnen, durchsichtigen Hälschen, um ihm Respekt vor seiner Person beizubringen, als die Tür aufging, und ein putziges Männlein in sackgrauer Uniform mit einem Paradedegen an der Seite eintrat. Es sah, was vorging, und packte unseren Hans an der Schulter. »Wie heißt du?« herrschte er ihn an. »Hans Höhrle,« war die Antwort. »Hans Höhrle, Hans Höhrle,« wiederholte der Uniformierte, »eine Konsonanz deines Namens haben wir hier in der Klasse. Paß auf, daß nicht ein Röhrle auf dem Höhrle tanzt.«

Jetzt begriff der Knabe, daß er seinen Klassenführer vor sich habe, und war über dessen kriegerisches Aussehen sehr betreten. Derartig herausgeputzt hatte er noch nie einen Lehrer gesehen, und wozu das kleine Männchen sein Schwert gebrauchen sollte, war ihm nicht minder schleierhaft, wie wahrscheinlich dessen Träger selber.

Übrigens stand der Mann in Waffen alsbald gefangen in einer Art Waschzuber, den man Katheder nannte. Er knetete sein Taschentuch in die Form eines Maiskolbens und sägte damit eine Zeitlang unter seiner Nase her, bevor er mit einem Diktat begann. Es herrschte tiefe Stille, und man hörte nur die Federn mit kratzendem Gang über die blauen 88 Zeilen eilen, um einige gewichtig vorgetragenen Sätze festzuhalten. Hans, der am Morgen mit inbrünstigem Gebet einige Heilige ersucht hatte, ihm beizustehn, ging mit gutem Mut und Gottvertrauen an Übersetzung dieser Sätze, und bevor ein weiteres Glockenzeichen vom Turme erklang, war er fertig und lieferte seine Arbeit ab.

Am nächsten Tage erfuhr er, daß er in die Klasse aufgenommen sei, kam aber an deren Schwanz zu sitzen, wo man gewöhnlich die Neulinge unterzubringen pflegte. Gleich von vornherein machte man mit den Letzten wenig Wesens. Man führte den gallischen Krieg, ohne daß sie Kombattanten stellten, und auch den Akkusativ cum Infinitiv konstruierte man ohne ihre Mithilfe. Dies Stillleben war nach Geschmack manch eines, aber es konnte zu nichts Gutem führen, und dauerte auch nicht lange. Eine neue Probearbeit änderte die Dinge. Hans machte sie unter Zuhilfenahme des großen Georges. Manche Schwierigkeit des Diktates ließ sich leicht überklettern, andere bereiteten Kopfzerbrechen, und der Schüler mußte die Strickleiter zu Hilfe nehmen. Da kam er aber in ein wahres Labyrinth gelehrter Subtilitäten, wurde von einem Buchstaben zum anderen genarrt, verlor den Überblick und die Zeit. So kam's, daß er schwitzend und halbfertig dasaß, als die anderen Schüler bereits das Klassenzimmer verlassen hatten. Der Lehrer wurde ungeduldig, drängte, und Hans gab schließlich ab, was er hatte und wie es war. Mit dem beunruhigenden Gefühle, daß er nicht glänzend abgeschnitten haben könne, verließ er das 89 Schulgebäude. Doch es kam noch schlechter, als er sich vorgestellt hatte. Nach Tagen qualvollen Hangen und Bangens erschien das graue Männlein wieder auf dem Katheder und holte einen Pack weißer Bogen unter seinem Philosophenmäntelchen hervor. Im Nu war die ganze Klasse auf den Beinen. Den Schulranzen unterm Arm, in den Taschen das Frühstück, die Feder hinterm Ohr, das Lineal zwischen den Fingern, so stand die Menge marschbereit da, als ob es sich um eine Mobilmachung handle. Die Ungewißheit, was die nächste Minute bringen werde, lag als weiße Schminke auf allen Gesichtern.

Schon las der Lehrer die Namen derer herunter, die gute Arbeiten geliefert hatten. Die erste Bank hatte sich gefüllt, und es ging an die zweite. Wer gerufen wurde, stürzte mit Geschwindschritten nach seinem Platze, als ob ihm dieser wieder entrissen werden könne. Die Zurückbleibenden traten ungeduldig von einem Bein auf das andere und beneideten jene, die in der Nähe der Kathedersonne einen warmen Platz gefunden hatten. Schon war mehr als die Hälfte aller Plätze besetzt und Hans war nicht aufgerufen. Da brachte ihm der Gedanke, er könne überschlagen sein, einigen Trost, und er hielt diesen Strohhalm der Hoffnung mit Polypenarmen fest und fester, je mehr sich die Zahl seiner Leidensgenossen verringerte. Jetzt waren es schon nicht mehr als die Finger einer Hand. Darüber freute sich Hans, denn es wuchs die Aussicht, daß seine Vermutung Gewißheit werden könne. »Der Vorletzte ist Emmerig,« tönte es vom Katheder, »und bedeutend die 90 letzten sind: Hans Höhrle und Ammelung.« Also war der glimmende Funke von Hoffnung vollends erloschen. Hans wankte nach seinem Platze, aber schon war ihm sein Sozius zuvorgekommen, indem er seine Ansprüche auf den vorletzten Sitz mit dem Einwand stützte, daß er im Alphabet weit vor einem Höhrle komme. Diesen glücklichen Umstand nutzte er aus, und Hans akzeptierte, physisch und moralisch vernichtet, den letzten Platz. Er war schlapp wie die Sünde, legte seine Arme kreuzweise auf die Tischplatte und seinen Kopf drauf. Seine Arbeit, die mit roten Strichen durchschossen war, wie ein Studentengesicht nach der Mensur, wurde ihm von irgend einem unter den Rockärmel geschoben. Er würdigte sie keines Blickes. Seine Gedanken weilten bei Onkel Schütteldich und seinem Ledersofa, und nur zuweilen kehrte Hans in die Gegenwart zurück, um in blinder Wut mit den Füßen auf dem großen Georges herumzutrampeln, der seinen Platz noch unter den beiden am Boden gefunden hatte. Als die zwölfte Stunde schlug, packte ihn der unglückliche Schüler voller Verdrossenheit unter den Arm und schlenderte langsam und nachlässig über den Marktplatz dem Konvikte zu.

Hierher war die Fama von Hansens Mißgeschick bereits vorausgeeilt. Der Rektor empfing den Ultimus mit malitiösem Lächeln und meinte: »Ob sein Vater unter seinen Langohren keinen besseren hätte finden können, um ihn aufs Gymnasium zu schicken.«

Der Konrektor erkundigte sich: »Wann Hansens Retourbillet verfallen wäre,« und nur der Subrektor, ein junger 91 Geistlicher von asketischem Aussehen, hatte Mitleid mit dem verschüchterten Jungen und nahm ihn mit sich auf sein Zimmer. »Nur den Mut nicht verloren,« leitete er seine Rede ein. »Das Schuljahr hat erst begonnen, am Schluß desselben kannst du schon noch in der ersten Hälfte sein.«

Hans, der anfangs nicht übel Lust hatte, einzupacken, zu heiraten und die Wirtschaft ›Zum Weltschirm‹ zu übernehmen, unterdrückte den Gedanken und wälzte vor dem jungen Priester einen großen Teil der Schuld an seinem Mißgeschick auf die unselige Strickleiter. Der Mann Gottes war einsichtig genug, dem Knaben recht zu geben, und verkündete ihm die frohe Botschaft, daß Gott, um arme Gymnasiasten von der Erbsünde des »Großen Georges« zu befreien, den »Kleinen Mühlmann« auf die Welt geschickt habe.

Das Buch wurde antiquarisch gekauft, und während der nächsten Wochen begann in den Abendstunden ein eifriges Übersetzen im Privatzimmer des Subrektors. Der Gute gewann Vertrauen zu dem Knaben, dieser zu ihm und beide zu ihrer Aufgabe, den Forderungen der lateinischen Grammatik zu genügen.

In der Schule spielte Hans zusammen mit seinem Leidensgefährten Ammelung eine traurige Rolle. Sie schienen zur Verzierung da zu sein. An ihr Können und Wissen wurde keine Anforderung gestellt. Der einzige, der sie in Bewegung brachte, war der Winterfrost, der in jenen Tagen seine Kunstwerke auf die Fensterscheiben malte. Wer nicht frieren wollte, mußte dem Ofen mit Holz zureden, daß er ein freundlich Gesicht machte. Diese hohe 92 Mission war der Firma Ammelung und Höhrle übertragen. So machten die beiden Inhaber des Holzgeschäftes öfters kleine Geschäftsreisen nach dem Lagerplatz des Brennmaterials, auf denen sie beliebig lange bleiben und sich unterhalten konnten, wenn nicht der Schuldiener kam und sie mit Ohrfeigen von dannen trieb. Das war grausam, wenn man bedenkt, daß die Ärmsten im Schulsaal keine Rücklehne hatten, und sich deshalb gern im Holzstall räkelten, um ihr Kreuzweh zu kurieren. In den langen Stunden des Vormittags litten sie oft Höllenqualen, aber sobald sich einer streckte, um sich Erleichterung zu verschaffen, hieß es vom Katheder: »Kerl, sitz nicht so herausfordernd da, wie ein Pascha von zwei Roßschweifen.«

Legte einer der Unglücklichen den Oberkörper auf die Bank und suchte hinter dem Rücken seines Vordermannes einige Deckung, so rief es: »Welcher Seehund bäht sich da unten hinter der Klippe?«

Zu allem Unglück war der gute Ammelung zur Unterhaltung wenig tauglich. Er war taub, und ein Gespräch mit ihm mußte jedesmal mit Rippenstößen oder Fußtritten eingeleitet werden. Hans Höhrle besorgte das im allgemeinen mit Mäßigung, aber wenn er sich in Verwendung der Energie um eine Pferdekraft geirrt hatte, dann remonstrierte Ammelung mit einem Aufwand von Flüstertönen, der die ganze Klasse zu Ohrenzeugen ihrer Kontroverse machte. Gemeinsam war beiden die Schuld, die Strafe aber, die den tauben Ammelung nicht treffen konnte, hagelte über Hans Höhrle allein hernieder: »O du Setzkartoffel 93 aus dem Odenwalde! Wie könnte man dich so leicht vermissen! Wärest du doch zu Hause geblieben! Was wärst du für eine Zierde deiner ländlichen Gefilde geworden! Statt dessen kommt dies Knollengewächs hierher und verbittert seinen Lehrern das Leben. Wer dich und deinen Nachbar zu Tode kitzelt, kann sich von der dankbaren Nachwelt ein Denkmal verdienen! Übrigens, wenn ihr nicht sterben solltet, so könnt ihr sicher sein, daß ihr eine Zentenarfeier in der Klasse erlebt, denn an eine Versetzung ist niemals zu denken.«

Die letztere Prophezeiung war laut genug hinausgeschrieen, daß auch Ammelung sie hören konnte, aber mit dem Vertrauen der Jugend auf die Zukunft glaubte er nicht so recht daran, und er fand in der Tat ein Mittel, das Verhängnis zu mildern. 94

 


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