Adam Karrillon
Die Mühle zu Husterloh
Adam Karrillon

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32. Kapitel

Die Ferien waren zu Ende. Hans war mit kleinen Mitteln und einer großen Menge von guten Vorsätzen am Bahnhof der Universitätsstadt angekommen und zwar mit Hilfe eines Billettes vierter Klasse. Um die letztere Tatsache zu verschleiern, drückte er sich zunächst in eine Ecke des Coupés und machte dann, als der Perron von Menschen wimmelte, einige rasche Schritte nach vorne, vor einen Wagen zweiter Klasse. Holofernes, in derart weniger an Rücksichten gebunden als sein Herr, sprang mit einem Satze von der Plattform herunter mitten in einen Schwarm von Studenten hinein. Die Freude des Wiedersehens war von Seiten der Bundesbrüder eine laute und ehrliche, von Seiten des Restaurationspersonals eine ehrfurchtsvolle, fast demütige, und mit den ersten Atemzügen, die Hans in der Luft der akademischen Freiheit tat, regte sich in ihm schon wieder ein stolzeres Selbstbewußtsein; als eine kleine Begebenheit ihn schonungslos wieder von dem erträumten Postamente herunterriß.

Während nämlich Holofernes beim Hauptportale die Schenkel der Droschkengäule beschnupperte und zur 335 Überzeugung kam, daß der Haferpreis ein noch ziemlich unerschwinglicher sein müsse, kam auf seinen Herrn ein Wagenwärter zugegangen, der so schmutzbefleckt aussah, als ob man ihn in Hammerfest über den Fischmarkt geschleift hätte. Auch die Zudringlichkeit und sein kordiales Wesen hatten mit seiner Livree einige Verwandtschaft. Er hielt dem jungen Höhrle die Rechte entgegen und sagte, daß er Grüße bestellen solle von des Herrn Studenten Schwager, der sei ein guter Spezel von ihm und Kollege.

Es war nicht zu überhören gewesen; einige von Hansens Bundesbrüdern hatten über diese Erkennungsszene gelacht. Er selber wurde nachdenklich und suchte den Arm des ernsteren Ignaz Kaufmann.

Viel Erdenschimmer, der ihm einst und jetzt wieder so glänzend ins Auge gestochen, war verblaßt, manche Blüte, die eine goldene Frucht versprach, war niedergeweht. Das Unglück hatte ihn mit rauher Faust aus Träumen aufgerüttelt, die er nur ungern umtauschte gegen Wirklichkeit. Von seinem Lebensbaume hatte der Sturm die goldenen Blätter herniedergeschüttelt, nun stand er kahl und öde da, wie die entlaubten Linden, die mit ihren Gerten peitschend aus den Straßenlaternen magere und unmelodische Töne lockten. Hans war gealtert, nicht in seinem Äußeren, wohl aber in seinem Inneren, er fühlte, daß für ihn die Tage der Sorglosigkeit vorüber seien, und kein Gotteswunder half ihm über den Gedanken hinweg, daß der Inhalt seines Geldbeutels ohne sein Zutun nicht wachsen werde.

Es war nichts Leichtes, an der abgegriffenen 336 Messingklinke der Exkneipe vorüberzukommen, auf die der Schwarm zustürmte, aber Hans brachte es fertig. Er schob den Ignaz Kaufmann die ausgetretene Treppe mit der Bierkaskade hinauf und bog um die Ecke, der Pumpe entgegen, aus der die Mägde mit den drallen Speckarmen ihr Wasser holten zum Abendtee, den alle Welt zu trinken pflegte.

Ausgehungerter, wie sonst wohl, angelten heute nach wochenlangem Entbehren die Blicke unter den Spitzhäubchen hervor nach dem strammen Studenten. Aber Hans dachte: »Später vielleicht,« und grüßte nur obenhin die faltenreichen Stumpfröcke, die dastanden, wie aufgespannte Regenschirme. Der Gedanke übrigens, daß sie ihn gründlich musterten, straffte die Muskeln seines Rückgrates doch ein wenig, und so fuhr die Haustür heftiger ins Schloß, als er beabsichtigte, und er trat auf die erste Treppenstufe so gewichtig, daß das ganze windschiefe Gebäude zu zittern begann.

Die Folge war, daß zu seiner Begrüßung zunächst eine Anzahl Äpfel die Stiege heruntergerollt kamen, und daß dann vier Kattunärmel sich um ihn ringelten wie um Laokoon die Schlangen. Freilich, die klassische Ruhe des Vorbildes erreichte unsere Gruppe nicht. Ein nervenzerreißendes Zischen vielmehr ließ die Worte unterscheiden: »Ei du Strohsack, unser Herr ist da, und sein Zimmer nicht in Ordnung. Seit Philipp der Großmütige die Universität gegründet hat, ist so was noch nicht vorgekommen. Warum muß uns aber auch der Himmel einen Äpfelsegen schicken, daß kein Mensch weiß, wo hinaus damit. Verzeihen Sie, Herr Doktor, verzeihen Sie und nehmen Sie einstweilen vorlieb mit dem, was 337 unser eigenes Zimmer an Bequemlichkeit Ihnen bieten kann.« Ob Hans geneigt war, zu verzeihen oder nicht, können wir der Menschheit nicht verraten. Vielleicht ist er mit sich selber darüber nicht ins Klare gekommen, denn schneller, als er dachte, hatten ihn die vier Arme von Mutter und Tochter ein paar Treppen herunter ins Souterrain geschoben, wo Hans beim Versuche sich gerade zu stellen, seinen Hut in eine Verfassung brachte, daß er ihn ohne spezielle polizeiliche Erlaubnis überhaupt nicht mehr auf der Straße zeigen konnte.

Nach dieser üblen Erfahrung in der Senkrechten, brachte Hans sich nach Möglichkeit in die Horizontale und hinter den Tisch aufs Ledersofa. Die Decke betrachtete er mit berechtigtem Mißtrauen, umsomehr, da von ihr allerlei Töne auf ihn herunterfielen. Bald war es, als ob eine Lederhose mit einem Reibeisen gebürstet würde; bald, als ob einer mit einer nassen Katze Fangball spielte. Dazwischenherein hörte man das Kratzen von Reisigbesen und das Klopfen der Fäuste auf Federbetten. Hans gewöhnte sich rasch an diese Symphonie, so zwar, daß sie ihm die kinematographischen Bilder kaum störte, die rasch an seinem Geiste vorüberzogen.

Da war die Wirtin »zum Weißen Elefanten«, die es verstand, den Gästen den Star zu stechen. Da war der verschwiegene Nachtwächter von Husterloh mit seinen grausamen Enthüllungen. Da war der Brand in jener Schreckensnacht; die Ungewißheit, wie Sebastian Stallmann geendet haben könne. Da war die einsame Kammer unter dem Dache 338 des Mordche Rimbach mit dem Vater darinnen und der guten, so unermüdlichen Schwester. Da war zu guter letzt noch der verdienstvolle Wagenschmierer, seines Schwagers Kollege.

Alle diese Personen und Dinge zusammengedrängt in die niedere Stube der alten Witwe lagen auf unserem Freunde wie ein Alpdrücken. Ein langer Seufzer löste sich aus der Brust und schien zu fragen, ob es je einen Menschen gegeben habe, der gleich unglücklich gewesen wie er?

Um diese Frage der Lösung näher zu bringen, musterte Hans die schwarzen Silhouetten all der Studenten, die von der Lampe notdürftig erhellt in Goldleisten an den verräucherten vier Wänden hingen. Die meisten dieser Herren sahen so aus, als ob sie sich mit Freitischen und Stundengeben ernährt hätten, und brachten unseren Hans den Gedanken bei: »Ich muß auf die eigenen Füße kommen.« Im nächsten Moment schon tat er den ersten Schritt sich selbständig zu machen. Er nahm sein Notizbuch heraus und vertraute ihm mit Bleistift geschrieben folgenden literarischen Entwurf an:

»Ein Student in älteren Semestern wäre geneigt, Klavierstunden zu geben. Näheres durch die Expedition des Täglichen Anzeigers.«

Nach dieser Tat fühlte sich Hans wesentlich erleichtert. Er sehnte den Augenblick herbei, wo die da oben fertig wären. Noch heute wollte er die Reinschrift seines 339 Entwurfes in ein Kuvert stecken und dem Briefkasten anvertrauen. Doch das Scheuern nahm kein Ende. Also mutvoll hinein in das Zwiebel- und Äpfelchaos.

Bis zu seinem Stehpult leisteten Hansens Zehenspitzen die Kunststücke einer Primaballerina. Doch nun war er da, goß etwas abgestandenes Wasser aus dem vorigen Semester auf die eingetrocknete Tinte, schrieb, schloß ein Kuvert, setzte eine Adresse darauf und eilte, einen Briefkasten aufzusuchen.

Als er wiederkam, war ihm die Zeremonie des Gutenachtsagens erspart. Die ehrenwerten Damen aus dem Erdgeschoß waren verschwunden, und an ihrer Statt leuchtete eine Unschlittkerze mit roten Strahlenkränzen durchs Zimmer und auch in den Alkoven hinein, wo Hans sein Bett herausgeputzt fand, als ob es ein Hochzeitspaar aufnehmen sollte. Er schlief denn nun auch recht gut, erwachte aber gleichwohl am nächsten Morgen mit einigen Beklemmungen.

Das Schriftstück, das er der Post anvertraut hatte, war gewiß nach Form und Inhalt eines der bestgemeinten Dinge der Welt, aber welche Macht bürgt dafür, daß dem Guten der Erfolg gesichert sei? Wie groß ungefähr war die Wahrscheinlichkeit, daß das Elaborat vor die richtigen Augen komme? Diese Zweifel und eine infame Angst vor dem Druckfehlerteufel quälten den jungen Autor. Er aß mit wenig Appetit, saß zerstreut im Kolleg, und harrte dem aufgehenden Vollmond entgegen, der das Abendblatt bringen mußte. Richtig, da stand seine Annonce ohne jeden Druckfehler, ohne ein vergessenes Interpunktionszeichen.

340 Eine Sorge war von Hansens Seele genommen. Aber wie wird es nun mit dem Erfolg sein? Kommt herbei ihr Anwälte, die ihr aus euerm Nebenzimmer kommend euer »Von der Reise zurückgekehrt« in die Zeitung setzt. Ihr noch guterhaltenen Junggesellen, die ihr in einer reichen Familie eine Stelle sucht als Schwiegersohn. Ihr angejahrten Jungfrauen, die ihr im Tageblatt nach einem aufziehbaren Mops angelt, der kein Futter braucht, kommt ihr alle, die ihr an der Zeitung Allmacht glaubt, kommt und sagt, ob Hans Höhrle deshalb ein Narr ist, weil ihn seine erregten Nerven wie ein Zirkuspferd in der Manege drei-, viermal in den Anlagen um die Stadt treiben!

Sah er nicht am Abendhimmel sich selber wie ein Sternbild an der Seite irgend einer blondgelockten Range in karierter Bluse auf der Klavierbank vor der »Schönen, blauen Donau«, vor den »Klosterglocken«, dem »Meeresleuchten« oder »Alpenglühen« sitzen? Und wenn dann der Samstag Abend kam und ihm in rosa Seidenpapier gewickelt sein Honorar auf die Klaviatur schneite, dann sollte in ihm der Stolz des Self-made man aufflammen, und er wollte unter den Plafond der Kneipe treten mit dem gehobenen Selbstgefühl eines Lohgerbers, der von der Frankfurter Messe kommt.

Der nächste Morgen änderte an den äußeren Verhältnissen unseres Freundes zunächst noch nichts. Der Pumpenschwengel seufzte und schrie in seinem Scharnier wie alle Tage, die Hühner gackerten vor dem Hause, und die 341 Mägde, die zum Wasserholen kamen, lachten und schäkerten mit den Bäckerjungen, die hausgemachte Melodien pfiffen, anzügliche Witze rissen und ihre Ware in Säckchen an die Haustüren hingen. Der Mittag verging und selbst der Abend, ohne daß auch nur der Schimmer eines Briefträgers in Hansens Wohnung gekommen wäre. Der folgende Tag glich seinem Vorgänger genau an Bedeutungslosigkeit und hoffnungsloser Erwartung. Der dritte Tag brachte über Hans eine trübselige Melancholie ohne einen Ton von Davids oder sonst eines Sängers beruhigender Harfe. Der vierte Tag endlich brachte auf dem Kaffeebrett, begraben unter zwei Semmeln, das langersehnte Rosakuvert aus feinstem Büttenpapier, das die zarten Linien einer weiblichen Handschrift trug. Hans ignorierte den Duft der Kaffeekanne und öffnete mit dem Messer vorsichtig den lang erwarteten Brief. Es war nur eine Karte mit Goldrand, und einem kleinen Wappen in der Ecke, aber ein süßer, fast betäubender Geruch ging von ihr aus und zauberte vor das Auge des jungen Studenten das Bild einer herrlichen Menschenblume. Der Inhalt der Karte war kurz, fast trivial:

»Auf Ihr Gesuch in Nr. 32 des Täglichen Anzeigers hin, werden Sie gebeten, sich in den nächsten Tagen in der Ostanlage Nr. 30 zwischen 11 und 12 des Vormittags vorstellen zu wollen.

Hochachtungsvollst:

Helene de Lerée.«        

342 Möglicherweise war es Schüchternheit, was Hans Höhrle veranlaßte, nicht am gleichen Tage noch seinen Schnurrbart in die Höhe zu quälen, in seinen Bratenrock zu schlüpfen und den erbetenen Besuch bei der duftenden Helene de Lerée abzustatten. Dies alles aber und noch einiges mehr besorgte er am folgenden Tage, und zehn Minuten nach elf Uhr besah er und die Herbstsonne sich am Hause Nr. 30 in den Ostanlagen in einem glänzenden Messingschild mit der Aufschrift: Hermann de Lerée, Kommerzienrat. Ein behandschuhter Finger griff in einen blinkenden Ring. Ein Hebel von innen hob das Schloß. Hans trat ein und ließ die Sonne draußen, die ihm warm auf den Schultern gelegen hatte. Ein Schatten umfing ihn, und eine fröstelnde Kühle, die, von weißen Marmorplatten geboren, an marmorverkleideten Wänden hinlief und ohne sich zu mildern mit ihm eine Marmortreppe emporstieg nach dem zweiten Stockwerk.

Hans sah kein lebendes Wesen, auch hörte er keinen Laut, und nur der Widerhall seiner Tritte fiel aus der Höhe des Stiegenhauses auf ihn nieder. Vor ihm war ein Glasverschlag, dessen Scheiben von innen durch ein feines, cremefarbenes Spitzengewebe geblendet wurden. Dahinter verborgen weilte Helene de Lerée, für ihn das Geheimnis des stillen Hauses. Ein weißer Elfenbeinknopf deutete an, daß niemand überraschend eintreten dürfe, um die Freude nicht zu stören oder auch das Leid, die hier lachten oder auch weinten.

Hans Höhrle fühlte sich bedrückt in dem mürrischen 343 Schweigen dieser hohen Räume. Wie eine Erlösung hätte er das Bellen eines Hundes, oder das Rauschen eines Wasserhahnes empfunden, und doch erschrak er wieder, als er das Anschlagen des kleinen Läutewerkes hörte, das den Druck seines Fingers dem Dornröslein da drinnen meldete. Eine Tür an einer Stelle, wo Hans sie nicht vermutete, öffnete sich geräuschlos, und es erschien der Kopf einer Zofe mit einer Spitzenkrause über das leicht ergrauende Haar des Schädels hin. Das Gesicht unter der Spitze sah aus wie das Rätsel, das einst die Sphinx dem nach Theben reisenden Ödipus aufgegeben hatte und schien eine Tragödie weissagen zu wollen.

»Wen darf ich melden?« fragte das Rätsel.

Hans gab seine Karte ab und konnte eintreten. Jetzt dämpfte ein Teppich das Geräusch der Tritte, und die Stille wurde noch unheimlicher. Wenn nur wenigstens eine Tür geknarrt hätte! Aber auch das geschah nicht, und Hans befand sich allein auf den Pfoten eines Eisbären in einem kleinen Salon. Die Fenster waren dicht verhängt, und doch verstand es die Herbstsonne durch einen kleinen Spalt hereinzugucken und ein gelbes Prisma aufzustellen, in dem Myriaden kleiner Körper tanzten, ein Mikrokosmos, um dessen Einzelexistenzen sich niemand kümmerte, sowenig wie um den jungen Mann, den der Zufall in ihre Nähe gebracht hatte.

Solches und ähnliches dachte Hans, als eine tadellos elegante Frauengestalt vor ihn trat und den rechten Fuß mit dem feinen Saffianpantoffel auf den Kopf des 344 Eisbären stellte. Hans fühlte die Glut zweier Augen auf sich gerichtet, die bis in seine Seele niederbrannten, zu fordern schienen und doch auch wieder so rührend zu sagen wußten:

»Ich habe gelernt, zu entbehren.«

Vielleicht hat Hans ähnlich ausgesehen wie sein vis-à-vis, denn eine weiche Frauenhand streckte sich ihm mitleidsvoll entgegen, und eine einschmeichelnde sympathische Stimme sagte fast flehend:

»Sie sind Herr Höhrle und geneigt, ein wenig Leben in unser stilles Haus zu bringen.«

»Sofern ich Ihren Ansprüchen zu genügen vermag.«

»Kommen Sie und nehmen Sie neben mir Platz, so werde ich prüfen, was Sie meiner Stieftochter zu bieten vermögen,« und sie führte Hans an seinem kleinen Finger zu einem Flügel, der in der Ecke stand, rückte die Klavierbank über den Hinterpfoten des Eisbären zurecht und setzte sich.

Der Probekandidat Höhrle war selbstverständlich über eine Eisbärklaue gestolpert, als er sich von dem Worte: »Stieftochter« ausgehend, den schönen Gedanken klar machte, daß dies blühende Weib unmöglich Mutter sein könne.

Während er sich neben ihr einzurichten suchte, tänzelten ihre schlanken Finger bereits präludierend über die Tasten hin. Ein dutzendmal hatte es den Anschein, als ob sie einem angefangenen Motiv treu bleiben wolle, aber sie sprang ab und irrte unstät in einem wahren Labyrinth von Melodien herum. Es war offenbar, sie suchte irgend etwas, was der Stimmung gerecht werden konnte, von der sie augenblicklich beherrscht wurde. Ihre Stirne senkte 345 sich nachdenklich. Ein Kranz feiner Härchen fiel nach und umrahmte ihren Kopf mit einem berückenden Flammenschein, während immer noch ihre Finger trunken über die Klaviatur taumelten. Plötzlich gab es ihr einen Ruck, ihr Nacken streckte sich, und ihre Rechte suchte zwischen den Heften, die unter der Decke des Flügels lagen. Ein erregtes Rauschen umgewandter Blätter, und auf dem Notenpulte stand die Partitur aus Carmen. Ihr Körper bog ein wenig nach rechts aus, ihr Blick sprang befehlend vom Antlitz des Jünglings auf den leeren Platz neben ihr. Hans avancierte kühn, und zwei Körper durchschauerte eine belebende Wärme.

Nun kam Takt und Führung in das Ganze. Ihre Seele war mit all ihren Leidenschaften in die Fingerspitzen geglitten und tobte sich aus, wie sich ein Gewitter austobt in der schwülen Atmosphäre einer Julinacht. Es war die drohende Sprache hinabgewürgten Unrechts, die das Schicksal herausfordernd auf den Saiten donnerte. Was ihr niemals aus der Feder geflossen wäre, was nie das Gehege ihrer Zähne verlassen hätte, das schrie das betrogene Weib in Tönen hinaus, und wie der geschwollene Wildbach an das Wehr schlägt, so schlugen unheilverkündend die Klagetöne ihres Herzens an Hansens Ohr:

»Die Liebe vom Zigeunerstamme frägt nicht nach Recht, Gesetz und Macht.«

Die Wucht des Vortrages riß Hans mit sich fort, auch ihm saß ein verhaltenes Weh im Busen. Seine Gedanken weilten einen Augenblick bei Agnes, und sein Zorn 346 stürmte hinter dem Grimme seiner Nachbarin her. Der Flügel bebte unter der Wolke von Ingrimm, die über ihm grollte und krachte.

So ging es eine Weile fort, bis die gepaarte Leidenschaft zweier Seelen im eigenen Feuer sich verzehrt hatte. Müde sanken der bleichen Dame die Hände in den Schoß. Ihr Haupt fiel mit einem Seufzer leise auf die Seite, und der Strahlenkranz ihres Haares streifte begehrlich die Wange ihres Nachbars. Auch Hans erschlaffte. Er war so müde, als ob er von der Mensur käme, und es herrschte wieder das morose Schweigen, das diesem Hause sein Stigma gab. Im gelben Prisma der Herbstsonne tanzten die kleinen gespenstischen Wesen, aber leidenschaftslos oder vielleicht doch nicht? Wissen wir, ob sie nicht der Hunger und die Liebe peitscht, wie uns. Gleich dumm sind wir im Großen wie im Kleinen. Hans ahnte sogar nicht einmal, wie schwer es seiner Nachbarin wurde, ihre Leidenschaft am Stangenzaun der Sitte zu halten.

»Nun sollen Sie ihre Schülerin kennen lernen,« mit diesem Worte hatte sie für heute über sich gesiegt und lief aus dem Zimmer. Bald kam sie wieder und führte ein aufgeschossenes Mädchen mit sich, schon nicht mehr Kind und doch noch nicht Jungfrau. Ihre Schultern waren knochig, die Füße groß, die Bewegungen eckig. Sie machte vor Hans ein einstudiertes Kompliment und schien froh zu sein, daß sie es fertig gebracht hatte, ohne sich die Beine zu verrenken. Hans sah das Kind mit Erstaunen neben der Mutter. Niemals noch hatte er das Ideal der Schönheit so 347 unvermittelt neben geradezu bedauernswerter Häßlichkeit gesehen. – Dem jungen Mediziner wäre die ganze Vererbungstheorie aus dem Leime gegangen, wenn ihm nicht das Wort Stieftochter einen erläuternden Aufschluß gegeben hätte. Eben ging zudem die Tür nach dem Korridor auf, und sofort wußte Hans, nach welchem Modell hier gearbeitet worden war. Ein großer Mann, dessen Stirne erobernd über den Schädel bis in den Nacken vorgedrungen war, stand vor ihm, hustete sich ins Blaurote hinein, zog den Kopf in Kragenweite Nr. 52 und legte eine breite Speckfalte, die von genossenen Provisionen zeugte, über denselben. Eine helle Weste hüllte das edle Herz ein, und weite Hosen einen hochwohlgeborenen Bauch und Beine von brutaler Stärke. Trotz der Weitläufigkeit der äußeren Form machte der aufgeschwemmte Mann den Eindruck innerer Hohlheit, und er sah so minderwertig aus wie eine Treberaktie. Übrigens ganz so leer, wie er anderen erschien, muß er sich selber nicht vorgekommen sein, denn als er den Mund öffnete, kam eine bemerkenswerte Dividende von anmaßlicher Grobheit zur Ausschüttung.

»Ich habe wohl die Ehre, den Hauslehrer meiner Tochter begrüßen zu dürfen. Geben sie sich Mühe, junger Mann, Ihre Stunden so zu legen, daß ich in meiner Gedankenarbeit möglichst wenig gestört werde. Also, die Zeit, in der ich esse, trinke, wache und schlafe, muß unbedingt musikfrei sein. Wagnermusik und Strauß'sche Walzer verträgt »Waldmann,« mein Jagdhund nicht, weshalb ich bitten muß, das Konto dieser Herren nicht 348 übermäßig belasten zu wollen. Im übrigen darf ich Ihnen die Schonung meines Kindes ebenso wie die meines Steinwayflügels ans Herz legen.« Damit verneigte er sich ein klein wenig gegen den hungrigen Schnurrer, tat mit gespreizten Fingern großtuerisch so, als ob er hinter dem Ohre noch einige Haare zu kämmen hätte und verschwand nach einem Zimmer, aus dessen Innerm man das Klappern von Tellern vernehmen konnte.

Hans dachte: »Welch' sträflicher Unverstand mag diesen Sellerieknollen mit der Rose zum Strauß gebunden haben?« und betrachtete mitleidig die schöne Frau, über deren blasses Antlitz die Stichflamme verschämter Verlegenheit schoß und der Ausdruck grenzenloser Geringschätzung, der dem erlauchten Gemahl galt auf seinem Gange nach dem Speisezimmer. Die Tochter knixte ein wenig und folgte dem Vater. Hans und die Dame waren allein.

»Ich werde sorgen, daß Sie ihm nicht all zu oft begegnen müssen,« flüsterte sie, ihre Empörung kaum bemeisternd. »Kommen Sie übermorgen wieder. Was zu verhandeln ist, geschieht nur zwischen Ihnen und mir.« Sie reichte Hans die Fingerspitzen ihrer Rechten und begleitete ihn auf den Korridor.

Hinter dem Rücken des Probekandidaten schlug das Hoftor knallend ins Schloß. »Meinetwegen brauchst du dies nicht ein zweitesmal zu tun, ich öffne dich nicht wieder,« dachte er und schritt in das leicht verschleierte Sonnenlicht des Herbstnachmittags hinein. 349

 


 


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