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Südlich vom Süden

Im Winter 1832–33 lag ein englischer Kreuzer Beagle im Fahrwasser vor Feuerland und versuchte vierundzwanzig Tage und Nächte lang südlich um Kap Horn herumzukommen, mußte es aber schließlich aufgeben und segelte durch eine der Wasserstraßen zwischen den Inseln, die jetzt den Namen des Schiffes trägt.

Mehr als dreihundert Jahre früher hatte Magellan die Durchfahrt hier gefunden, etwas nördlicher; er segelte zum erstenmal vom Atlantischen zum Stillen Ozean, fand die Durchfahrt, die Kolumbus vergebens gesucht hatte, und machte die erste Weltumsegelung. Wenige ahnten, daß man so weit nach Süden mußte, ganz bis zum Südpol hinunter, um die Durchfahrt zu finden, über den Äquator und in Gegenden, wo das Klima wieder rauh wurde, wie im Norden, doch mit umgekehrten Jahreszeiten und den »Süden«, Wärme und Fruchtbarkeit nördlich; eine Welt hinter der Hoffnung herum, neu, aber seltsam leblos, eine Wiederholung der alten.

An Bord des Beagle befand sich ein junger Naturforscher, der dreiundzwanzigjährige Charles Darwin; es war eine wissenschaftliche Expedition, und er war der Zoologe, ein langer, etwas rekliger junger Herr, mit buschigen Brauen, aber freundlichen blauen Augen, eine flaschenartige Nase, die, wie er selbst erzählt, ihm ein Ärgernis war, fast wäre er ihretwegen als Teilnehmer an der Reise abgelehnt worden, – und dennoch war es sicher die feinste Nase an Bord des Beagle; war das Schiff der Spürhund seines Jahrhunderts, so war er die innerste Seele an Bord.

Die endgültige intellektuelle Konsequenz der Entdeckungsreisen von Kolumbus bis Cook wurde von ihm gezogen. Vor der Bekanntschaft mit dem primitiven Menschen hatte die Menschheit sich selbst von innen gesehen, in seelenvoller Beleuchtung, als Gottes Bild, jetzt wurde sie gezwungen, sich von außen zu betrachten, im Licht ihres Ursprunges. Darwin machte den Schritt rückwärts. Er ist deswegen gehaßt worden, wie einer, der mit verbrecherischer Hand den Menschen von seiner Höhe herabgezogen hat, in Wirklichkeit aber tat er es aus einer tiefen Menschlichkeit heraus, indem er den »Wilden« an die Brust der Zivilisation zog, jenen fernen Verwandten, der zwischen den Weißen und den Tieren stand.

Darwin selbst sagt nicht, wann er zum erstenmal seinen großen Gedanken über die Entstehung der Arten und ihre innere Verwandtschaft zueinander gehabt und was ihm den Anstoß dazu gegeben hat, vielleicht weiß er es selbst nicht genau; mag sein, daß ein Impuls im Gefühl der erste Ausgangspunkt gewesen ist.

Vielleicht ist jener erste Unterbewußtseinskeim in unklarer Form auf dem Feuerland zu ihm gekommen. Obgleich er selbst nichts darüber äußert, spricht seine ungekünstelte Schilderung der Feuerländer dafür, daß er dort tief erschüttert worden ist; dort war er beim Tier, und dennoch hat ihn Mitleid und Sympathie mit diesen in das äußerste Elend gedrängten Stiefkindern verbunden, wie mit Brüdern, denen es schlecht gegangen ist, die aber dennoch unsere Brüder sind, sein Herz hat für sie geblutet, er hat sich bemüht, ihnen entgegenzukommen, ist als Zoologe von dem alten, vornehmen Kapitol der Menschheit heruntergestiegen, hat sich in bedenkliche Nähe der Vierbeinigen begeben und schließlich hat er den Schritt ganz getan. Bei allem, was er von den Affen wußte, und nachdem er die Bekanntschaft der Feuerländer gemacht hatte, konnte er wohl nicht anders; sie konnten nicht zu ihm kommen, darum kam Darwin zu ihnen.

Eine Erweiterung des Gefühls und ein Wiedererkennen, die Legitimation der ärmsten Verwandten der Menschheit und derjenigen, die noch darunter stehen, der »Schwanz« nicht ausgeschlossen, das war der schöne Schritt, der von Darwin gemacht wurde, von den Entdeckungsreisen bis zur Entwicklungslehre, in sich selbst eine Entwicklung, wann immer dieser Gedanke auch in seinem Kopf entstanden sein mag.

 

Während der vierundzwanzig Tage und Nächte, als Beagle vor Kap Horn lag und hin und her sägte, ein Zickzack weit nach Süden, bis alles Land verschwunden war, und wieder zurück zu dem nebligen, stürmischen Vorgebirge, wo die Weststürme rasten, als wollten sie eine Barriere bilden, um den Zugang zu dem anderen Ozean zu versperren, während all dieser Zeit konnte man über vieles nachdenken.

Lebensgefahr und Isolierung zwangen zu Demut und Aufrichtigkeit, lag doch die einsame Brigg fern von bekannten Gegenden der Welt, von ganz Europa vergessen, wer würde ihr je wieder einen Gedanken schenken, wer sich mit ihr beschäftigen: ein Küstenvermessungsschiff, das in den dreißiger Jahren untergegangen, würde es heißen, wenn es nicht mit seiner bedeutungsvollen Ladung von Erkenntnis und neuem Überblick über die Natur zurückgekehrt wäre.

Die Natur tat ihr Äußerstes, um es zu vernichten, fiel mit gewaltigen Wogen über das bedrängte Schiff her, überschüttete es mit Seen von vorn bis achtern, schüttelte es unter Wasser, bis jeder Nagel des Rumpfes bebte und das Schiff sich nur mit Mühe wieder aufrichtete, Wasser abschüttelte und zitternd auf einem Fleck lag, wie ein Wesen, das bis ins Mark getroffen ist. Eine halbdunkle Welt, bitterkalte Seen, selten ein Sonnenstrahl durch die zerrissenen Wolken; und wenn man bei dem langen, vergeblichen Kreuzen unter Land kam, sah man nichts als die traurige antarktische steile Küste des Feuerlandes, Gletscher, die Eisberge in die Wasserstraßen sandten, nasse, neblige, schlammige Wälder, Gischt, der von der Brandung weit auf die ungastlichen Küsten hinaufspritzte, und Hagelschauer, die wie züchtigende Peitschen auf die unfruchtbaren Berge des Archipels niederschlugen.

Und dort wohnten Menschen! Wie zu Magellans Zeiten leuchtete auch jetzt hier und dort durch die Nacht ein Feuerschein, am Tag Rauchsäulen, das uralte Kennzeichen der Menschen, das von dem äußerlich rohen, unmenschlich abgehärteten Volk erzählte, das dort in den Anfangsstadien des Lebens lebte, ohne Hoffnung, es je weiter zu bringen, denn sie waren in eine Sackgasse der Natur, waren südlich vom Süden geraten. Die Zeit selbst war hier eine andere, kalenderlos, der frierende, lichtverlassene Morgen, jener Schein des Elends, den man kennt, wenn man eine Nacht gewacht hat und der Tag mit seiner grauen, unwirklichen, hoffnungsverlassenen Dämmerung graut.

In solchem Zustand von Ebbe in der Seele, Dämmerung drinnen und draußen, begegnete die kleine Gemeinschaft an Bord des Beagle dem fliegenden Holländer.

Unhistorisch, keine geschriebenen Berichte darüber, weder von Kapitän Fitz Roys noch von Darwins Hand, noch von sonst jemanden an Bord; von so etwas spricht man nicht einmal, es wird niedergeschlagen, oder man traut hinterher seinen eigenen Sinnen nicht, angestrengt und halluziniert von Schlaflosigkeit und Anstrengung, wie die Besatzung war.

Es läuft einem kalt über den Rücken, wenn man sich die Begegnung vorstellt, mag sie auch unwahrscheinlich, vielleicht erfunden sein. Es war in der grauen Dämmerstunde, doppelt grau in diesen Breitengraden, wo immer Dämmerung herrscht, nur die weißen Wogenkämme leuchten mit kaltem Licht, wie Phosphor in einem Keller. Beagle liegt auf dem Steuerbord, Bug im Winde, hart vornübergedrängt, fast bis an die Rahen gerefft, und pflügt die Wogen, wie gebannt an ihre Route, vorn Kap Horn, wie eine weißliche Stirn, von wo ein dünnes weißes Haar im Westwind flattert; auch heute nicht das geringste achtern zu sehen, Sturm und Strom halten das Schiff trotz Kreuzens an einer Stelle fest – da plötzlich taucht ein Schiff achtern auf, das erste, das man seit Wochen gesehen, hat, auf einmal taucht es in dem engen Gesichtskreis auf, der wie ein Ring auf dem Meere liegt – was aber ist das, es segelt ja gegen den Wind!

Nur wenige Sekunden, dann ist es vorbei, einen Augenblick scheint ein Zusammenstoß unvermeidlich; das fremde Schiff fährt mit vollen Segeln gegen den Wind, wie ein Gewitter, die Wogen auf- und niederklimmend, es scheint in seinem eigenen Sturm zu segeln, der dem wirklichen gerade entgegengesetzt ist; es ist kein großes Schiff, eine Art Schoner – aber was für ein Schoner, was für eine Gangart in den Wellen, was für eine Takelung?

Hastig kommt der Segler in der grauen lichtarmen, aber innerhalb des Ringes seltsam sichtbaren Luft näher, die fahle See, man sieht den Rumpf deutlich, einen eigentümlich kurzen Rumpf, vorn und achtern hoch, wie eine Schaukel im Meere, und er bewegt sich wie das Viertel eines Rades im Wasser, taucht den Bug ein und pflügt die Wellen, als ob er kopfüber hinunterstürzen wollte, hält von selbst inne und taucht wieder auf, schreitet ein Stück auf dem Hinterteil, die Masten hintenübergelegt, mit schwankenden Segeln, taucht wieder hinab, aber kommt von neuem zum Vorschein. Bevor die stumme Besatzung an Bord des Beagle noch Zeit gefunden hat, sich zu sammeln, ohne daß ein Wort gewechselt worden ist, sieht sie den Segler mit der Breitseite vorbeieilen, zwei, drei kleine Kanonenöffnungen, reich geschnitzte Rahmen und Ränder um die hohen Kastelle vorn und achtern. Nah und doch seltsam undeutlich, als ob das Meer durch das ganze Fahrzeug scheint, streicht es vorbei, wiegt den Achterspiegel, hoch und schmal, mit Schnitzarbeit und Fenstern wie Fliegenaugen, ganz oben eine eckige, nicht angezündete Laterne. Im fliegenden Schaum, im Auf und Nieder der hohlen Seen ist es bald sichtbar, bald unsichtbar, bis es schließlich auf der anderen Seite des Gesichtskreises in der Windecke verschwindet. Der Sturm erhebt eine Bö, peitscht salzige Tropfen von unten herauf und Hagelschauer von oben herunter, und unter diesem Vorhang ist der Segler verschwunden. Keiner fragt seinen Nachbarn, ob es eine Vision oder ein wirkliches Fahrzeug war, ob es Menschen oder Tote waren, die man hinter der Reeling auf dem nebelgrauen Schiff sah, oder wer der große Mann war, der hoch auf dem Achterdeck gestanden, den großen weißen Kopf hoch in den Nebel erhoben. Keiner sprach ein Wort von dem Erlebten, und seither ist es in den Geheimkammern der Seele begraben gewesen, wie etwas, das jeder allein tragen muß, das sich nicht mitteilen läßt.

Der Kapitän aber gab das Kreuzen auf, gab den hartnäckigen Versuch auf, das Kap Horn zu umschiffen, ob er nun in seinem stillen Sinn sich das Wahrzeichen zu Herzen genommen oder das Unmögliche seines Vorhabens eingesehen hatte.

Dem Todessegler zu begegnen, soll Schiffbruch bedeuten; im buchstäblichen Sinne traf es hier nicht zu, wohl aber bedeutete es, daß die Schicksalsstunde der ganzen Grundanschauung des Lebens, worauf die Seelen in Europa bisher gebaut hatten, geschlagen habe.

Die Santa Maria aber setzte ihre Geisterfahrt fort, südlich von Kap Horn, um das Kap der guten Hoffnung herum, durch alle abseits gelegenen Wasserstraßen, an allen Inseln vorbei; und so muß sie segeln, solange die Sehnsucht dauert, die sie seinerzeit zur Fahrt nach dem verlorenen Land ausgerüstet hatte.

Ein seltsames Schiff, stärker in der Erinnerung, als es je in der Wirklichkeit gewesen. Von dem alten Trog, der als Handelsschiff gebaut war und durch Zufall auf die merkwürdigste Reise kam, finden sich vielleicht heutzutage noch Planken oder Nägel tief in dem Korallenkalk jener westindischen Küste, wo es in der Christnacht 1492 strandete und gleich mittendurchbrach, außerstande, sein Gewicht noch zu tragen, als das Wasser es nicht mehr zusammenhielt; Korallen wuchsen um das Wrack, die Zeit legte Schicht um Schicht darüber, und so sind die Reste der Santa Maria edel geborgen; aber weder Eisen noch andere feste Dinge besitzen jene Unvergänglichkeit wie das Schiff der Erinnerung, das in die Zeit übergegangen ist.

Ein geräumiges Schiff, in allen Teilen das Bild einer Karavelle, aber ohne Grenzen innen, trächtig und luftig wie unsere Träume, Sehnsucht der Toten, die uns erreicht, und die unsere, die nicht von ihnen lassen kann.

Hier sind sie, all die großen Sehnsuchtsvollen und Entdecker, die die Erde sehen mußten, große Namen, Vokale nur, wie ein Orgelspiel in der Seele, wahre Musik: Kolumbus, Vasco da Gama, Bartolomeu Diaz, Cabral, Balboa, Cabot, Magellan, Frobisher, Hudson, Cook!

Stürme, Meere, große, neue Festländer, Bergketten, Flüsse und Fahrstraßen, die sie öffneten, sind für ewig mit ihrem Namen eins geworden, Amerikas Entdeckung, der Seeweg nach Indien, Afrikas Umseglung, Brasiliens Entdeckung, der Stille Ozean, den ein Mann zum erstenmal mit seinen Augen sieht und ihm seinen Namen gibt, die Entdeckung von Labrador, die ganze nördliche Route; die erste Weltumseglung, den gradlinigen, unermüdlichen Portugiesen nicht zu vergessen; die Vorstöße in die arktischen, von Eis verschlossenen Fahrwasser; die Umseglung der Südsee und Australiens.

All die Reisenden, die später kamen, Pioniere und Kartenzeichner, die Flüssen und Bergen ihre Namen widmeten, der Bräutigam des Mississippi, des Amazonenflusses, der Schilderer des Chimborasso, der Mann, der Ruvenzori zum erstenmal wie eine Wolke im Himmel sah und die Dunkelheit in Afrika zerstreute, Stanley, zeitig ergraut und vergrämt, ein Mann ohnegleichen. Duft und Weite der Welt, alle Bäume und Tiere und plappernden Wilden, alle Erde unter freiem Himmel atmen dir entgegen, wenn du ihren Lebensweg noch einmal mit ihnen zusammen machst.

Und dann die ersten namenlosen Bezwinger der Natur, vorgeschichtlich, die durch den Raum witterten und auf Mittel sannen, wie sie sich zu Herren der Natur machen konnten, die ersten unbekannten Führer der Menschheit auf ihrer langen Reise aus der Dunkelheit der Urzeit; derjenige, der das Feuer zähmte und von einem Ort zum andern bewegte, der Erfinder des Schiffes und Wagens, der erste Reiter. Die, die Tiere zähmten und Korn in die Erde legten; die gierigen Seefahrer, die den Weg in die Welt mit scharfen Schwertern bahnten, die Wikinger auf ihren Meerpferden; hier sind sie. Suchende und Strebende alle.

Die Luft, animus, diesen ersten Inbegriff der Seele, den ältesten Trieb, von dem Augenblick an, wo die Luft zum erstenmal mit einem Schrei in die Lungen des Neugeborenen dringt, bis man sie zuletzt wieder mit einem Seufzer von sich gibt, Luft kosten, in vielen Ländern zwischen Geburt und Tod: das war ihre Seele, das war ihr Rhythmus.


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