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Im Passatwind

Das Sargassomeer, Hunderte von Meilen von Land, drei kleine Schiffe auf dem endlosen Meer, und die Mannschaft in Verzweiflung.

Der ärgste Schrecken über das neue drohende Phänomen, die Tangmassen, die sich meilenweit auf dem Meer herumtrieben, hatte sich gelegt; was aber hatte man nicht alles deswegen durchgemacht! Die erste schwimmende Tanginsel hatte man für Land gehalten, sie glich ja einer niedrigen Wiesenfläche, in gleicher Höhe mit dem Wasserspiegel, und der Gedanke, daß es Land sein könnte, wirkte einen Augenblick wie eine aufflammende Hoffnung, um sich gleich darauf in tiefe Enttäuschung und Angst zu wandeln – wenn es kein Land war, was konnte es dann sein?

Die Inseln wurden bald so zahlreich, daß sie wie ein zusammenhängender Teppich auf dem Meer waren, so weit das Auge reichte, es gab kein Entgehen, und der Admiral ließ geradeswegs darauf lossteuern, während die Mannschaft aufschrie, beim allmächtigen Gott, und den Rudergast beschwor, beizudrehen, zu spät, sie waren schon im Grünen, und sieh, man konnte hindurchfahren, ohne daß die Tangmassen die Fahrt sehr hinderten – wenigstens vorläufig nicht. Wenn aber die Tangmassen dichter wurden und man drin stecken blieb? Daß es eine Art Seegras war, davon überzeugte der Admiral alle, indem er etwas davon herausfischen ließ, allerdings keine bekannte Tangart, und wie war sie hierher gekommen, so viele, viele Meilen von Land?

Wer konnte mit Sicherheit wissen, ob es so weit vom Lande war, meinte der Admiral, und war natürlich wie immer voller Hoffnung, wenn andere schwarz sahen. Wo sollte dieses Land sein? In meilenweitem Umkreis war ja nur das unendliche hellgrüne zottige Meer zu sehen, das falsche Vorstellungen von Weiden erweckte – so täuschend übrigens, daß viele daran glaubten: war es nicht denkbar, daß versunkene Länder und Reiche hier auf dem Grunde des Meeres lagen, von denen das Gras sich losgelöst hatte und auf der Oberfläche schwamm? Dann mußte es hier seicht sein, man konnte jeden Augenblick auflaufen, und eine Strandung so fern von der Küste war der sichere Tod. Als einzige Antwort auf diese Klagen ließ der Admiral loten, und das Blei senkte sich Hunderte von Klaftern tief, bis die Leine zu Ende war, ohne daß man den Grund erreicht hatte! Falls sich Weiden auf dem Grunde befänden, sagte der Admiral, wäre der Weg zu ihnen jedenfalls ziemlich weit und, fügte er seelenroh hinzu: jetzt erwarte wohl niemand mehr, daß eine Kuh ihren Kopf unvermutet aus dem Wasser stecken oder ein Kirchturm herausragen würde! Laute Schmerzensschreie übertäubten ihn, die Seeleute fielen von einem Schreck in den anderen: so tief! Hier gab es überhaupt keinen Grund! Sie waren jetzt also außerhalb der Welt, auf der unfaßbaren Meerestiefe, die Augen traten ihnen aus den Höhlen: hier Schiffbruch leiden, zu sinken, sinken, sinken …; der Admiral aber fragte sie trocken, ob es ihnen nicht gleichgültig sein könnte, in wieviel Wasser sie ertränken, in einem Klafter oder in vielen …; herzlos gesagt, unvorsichtig, ein Gebrüll schlug ihm entgegen, einer warf seine Mütze nach ihm, der Admiral kehrte ihnen den Rücken – drehte sich aber wieder um und zeigte mit einer großen Armbewegung über das Tangmeer, das im Strahlenglanz der untergehenden Sonne wie Gold leuchtete: wenn sie glaubten, daß all dieser Glanz von unmöglichen unterirdischen Inseln käme, so glaube er, daß es ein Vorzeichen von wirklichen Inseln sei, die vielleicht gar nicht mehr so fern wären, wo Goldfelder sich ebenso weit breiteten wie das Seegras hier, Meilen von Goldboden! Und dabei jammerten sie wie ein Haufen Weiber über die Mühsal und Gefahren, die unterwegs zu überwinden waren – wenn der Weg dorthin ungefährlich sei, wären die Inseln natürlich schon längst entdeckt worden!

Schweigen, kein Laut, einige beschämt, andere auf neuen Gedankenwegen, die ihnen die Erwähnung des Goldes eingegeben. Das Schiff aber segelte unentwegt weiter, während man stritt. Die meisten blieben bei ihrer Meinung, daß die Dickflüssigkeit des Wassers ein schlimmes Zeichen sei, wurde es eines Tages wie Brei, saß man fest. Und die höhnischen Worte des Admirals hinterließen einen Stachel; war es eine Art, arme Christen zum besten zu haben, weil man selbst ein gelehrter Mann war?

Hatte man indessen über die Gefahr gejammert, im Tangmeer stecken zu bleiben, so dauerte es nicht lange, bis man sich zu ängstigen begann, weil man so glatt hindurchkam. Wo sollte das endigen! Der ewige Wind aus Nordosten! Er hielt ja schon seit Wochen an, Tag und Nacht brauchte man die Segel nicht anzurühren, leichte Arbeit. Wenn man aber zurückwollte? Wie konnte man je wieder nach Hause kommen? Was war es überhaupt für ein Wind? War es je dagewesen, daß ein Wind so lange aus einer Richtung wehte! Sicher, ein Saugwind mußte aus der entgegengesetzten Richtung, aus dem Abgrund kommen, und Wahnsinn war es, Gott herauszufordern und seine Seele dem Bösen zu verschreiben …;

Der Admiral zuckte nur die Achseln. Offen gestanden, begriff er es selbst nicht, warum dieser Wind sich so lange hielt, es war eine neue Erfahrung auch für ihn, und jeden Tag studierte er die Wolken und alle anderen Kennzeichen, die ein Seemann in sich aufgespeichert hat und bei Gelegenheit wieder hervorsucht, es waren ja ganz neue Meerstrecken und man konnte nicht wissen, wie es mit diesem Wind zusammenhing. Indessen wäre er seiner froh gewesen, wenn nur die Mannschaft sich nicht immer mehr ängstigte und schließlich kaum mehr zu halten sein würde.

Da, am 23. September, schlug der Wind für einen Tag um, man bekam Gegenwind, und die Mannschaft konnte nicht mehr behaupten, daß es in diesem Meer nur Nordostwind gab; Kolumbus war glücklich über noch einen Termin hinweggekommen und faltete die Hände abends im tiefen Dankgebet, obgleich man an diesem Tage kaum vorwärtsgekommen war.

In seinen einsamen Betrachtungen, die zwischen Bibel und Logbuch geteilt waren, mußte er an diesem Abend an Moses denken, der das widerstrebende Volk durch so viele wirkliche Gefahren geführt hatte, dessen größte Aufgabe aber gewesen war, sie vor ihrer eigenen Einbildungskraft und selbstvernichtenden Trieben zu bewahren.

Die Klagen aber kehrten mit erneuter Kraft zurück, als der Wind sich wieder drehte. Ein jeder konnte sehen, daß die Wellen wieder nach Westen eilten, daß das ganze Meer dem Abgrund geradeswegs entgegenströmte!

Sie hatten jetzt das Sargassomeer hinter sich und fuhren wieder durch tiefe, blanke Wogen. Hatten sie aber bisher den verhaßten Tang mit scheelen Blicken angesehen, so blickten sie ihm jetzt untröstlich nach. Alle Landzeichen, von denen der Admiral zungenfertig gefabelt hatte, schwanden ja jetzt dahin; daß Seegras von der Nähe einer Küste zeugt, darin mochte er recht haben, aber jetzt? Daß Krabben, die man im Tang gefunden, ein gutes Zeichen waren, Vögel und Fische, die sie gesehen, die hier Nahrung fanden, daß auch das von der Nähe des Landes zeugte, gewiß – jetzt aber waren es Tage her und noch immer kein Land! Vögel und Fische, die dort Nahrung gesucht, wo waren sie geblieben?

Die Mannschaft wurde immer wirrer im Kopf, in jeder gekrümmten Welle sah sie Meerungeheuer, nachts kroch man in Haufen zusammen, aus Furcht vor der Dunkelheit, man weinte über die zunehmende Wärme, die ja keinen Zweifel ließ, daß man sich verbrühten Regionen in unmittelbarer Nähe der Sonne näherte, wo nichts Lebendiges, außer den Salamandern, existieren konnte. Man würde nicht nur schwarz wie die Morianen in Afrika werden, verkohlen würde man, wie Fliegen versengt werden, das ganze Schiff würde in Flammen aufgehen! Im Namen des barmherzigen Gottes, Mann, kehr' um, bevor es zu spät ist!

Andere Stimmen ließen sich hören, von den nüchternsten Leuten an Bord, den Befehlshabern: der Boden der Vorräte war jetzt zu sehen, im buchstäblichen Sinn, man war bei der Schiffsladung an mehreren Stellen bis auf den Grund gelangt; brauchte man noch für ebenso viele Tage Proviant, so mußte man an die Umkehr denken. Dazu schwieg Kolumbus; im stillen wartete er auf die Stunde, wo der Proviant so weit aufgebraucht war, daß an Umkehr nicht mehr gedacht werden konnte. Dann gab's nur ein Vorwärts, das aber sagte er keinem.

Die anderen Klagen nahm er entgegen, froh, daß die Fragen des Proviantes dadurch in den Schatten gestellt wurden, er sprach sie mit der Mannschaft durch, so oft und so lange sie wollte, redete und redete, hohläugig, erstarrt von Müdigkeit, aber unentwegt. Schließlich wurde es wie ein permanenter Schiffsrat an Bord, bei dem alle, selbst die Gemeinen, eine Stimme hatten und bei dem der Ton schärfer und schärfer wurde. Während der Verhandlungen wurden alle Voraussetzungen zu dieser Reise ausgegraben, eine Art Verhör, in das der Admiral sich gutmütig fand und mit einer gewissen Wärme in die Länge zog, während er die ganze Zeit das Log im Auge behielt.

Alles, was Kolumbus während vierzehn Jahren vorgetragen hatte, einer Kommission von Gelehrten seinerzeit in Portugal, einer gelehrten Kommission in Salamanca, das mußte er jetzt wieder vorbringen, dieselben Gegengründe anhören und sie, so gut er konnte, widerlegen. Wie er sich einreden konnte, daß man Indien auf diesem verrückten Wege erreichen würde, man entfernte sich ja täglich mehr und mehr davon?

Kurz und gut, wenn die Erde rund war …;

Die Erde war aber nicht rund! Jeder wußte es, jeder konnte es sehen, es war Ketzerei, das Entgegengesetzte zu behaupten, Hochverräterei gegen Gott und die Kirche. Juan de la Cosa, der Besitzer des Schiffes, der in dieser Eigenschaft mit an Bord war, trat als Wortführer auf und legte keine geringe Bibelfestigkeit an den Tag. Weder in den Büchern Mose, der Apostel, noch der Propheten stand etwas darüber, daß die Erde eine Kugel sei; außerdem sagte es einem der gesunde Menschenverstand, denn wie wäre die Sintflut möglich gewesen, wenn die Erde nicht flach, sondern rund war, alles Wasser wäre ja abgeflossen …;

Stürmischer Beifall von seiten der Schiffsmannschaft. Juan de la Cosa tritt bescheiden zurück und ein übelgesinntes Geknurr richtet sich gegen Kolumbus.

Jetzt aber begann der Admiral, Juan de la Cosa mit lateinischen und griechischen Gegengründen auf den Leib zu rücken, kam mit Äußerungen des heiligen Augustinus und verglich sie mit Dingen, die Aristoteles gesagt hatte, Strabo, Seneka, Pythagoras, Eratosthenes …;

Aristoteles …; Juan de la Cosa nickt männlich, hat den Namen schon gehört und weiß, daß er Gewicht hat, fühlt sich aber auf unsicherem Boden, und der Admiral darf ausführlich alle Gründe anführen, die die Alten dafür hatten, daß die Erde rund sei, den Schatten, den sie auf den Mond warf, wenn Mondfinsternis war, den wichtigsten der Beweise, der indessen über die Köpfe der Mannschaft hinweggeht, wie die Rede eines Irren; nur Juan de la Cosa, der ihn verstanden hat, tritt mit einer Einwendung aus der Schar hervor:

Wie kann die Erde einen Schatten auf den Mond werfen, selbst wenn sie rund ist? In dem Fall müßte die Sonne ja um die Erde herumgehen, unter derselben sozusagen …;

Kolumbus: Das tut sie auch.

Juan de la Cosa: Sieh mal an. Die Erde muß aber doch auf einem Fundament ruhen, mag es nun rund oder flach sein; wie kann ein Himmelskörper darunter gelangen?

Kolumbus: Die Erde hat kein Fundament, sie ist eine Kugel, die frei im Raum schwebt.

Bewegung. Unterdrückte Leidenschaft bei vielen. Aller Augen hängen an Juan de la Cosa, der in Not gerät und den Admiral mit aufrichtigem Kummer betrachtet und ihn mühsam fragt, wie …; wie …; die Erde, die viele hunderttausend Zentner schwere Erde soll frei im Raum schweben, wie ist das möglich?

Was ist dem allmächtigen Gott unmöglich? antwortet der Admiral mit Kraft. Er, der die Sphären in Gang gesetzt und Sonne, Mond und Sterne geschaffen hat, um Licht zu spenden und die Tageszeiten einzuteilen, sollte Er nicht auch die Erde an ihrem Platz im Raum schwebend halten können? Nur Er aber weiß wie!

Juan de la Cosa beugt den Kopf, der Zeigefinger hebt sich zur Brust und zeichnet wie von selbst das Zeichen des Kreuzes bei Nennung des heiligen Namens. Die Mannschaft folgt seinem Beispiel, es ist wie in der Kirche, und die gefährlichen Meinungsverschiedenheiten begegnen sich in einem Augenblick feierlicher Andacht.

Der Streit aber flammt von neuem auf, und Juan de la Cosa macht hartnäckig geltend, im Namen aller: gesetzt, die Erde wäre wirklich rund, ja, gesetzt, sie schwebe wirklich durch Gottes Allmacht, gesegnet sei sein Name, frei im Raum, so war diese Reise unausführbar. Denn, wenn eine Kugel auch so groß sein kann, daß sie den Eindruck macht, als ob sie auf der Stelle, wo man sich aufhält, flach ist, so kann das nur für die obere Fläche gelten; entfernt man sich von dort, kommt man zu der Stelle, wo die Fläche steiler und steiler wird, bis sie schließlich lotrecht zur unteren Seite abfällt, vorausgesetzt, daß die Kugeltheorie stichhält, was natürlich Unsinn ist, denn wie kann Wasser rings um eine Kugel herum festsitzen?

Beifall. Bravo! Bravo! Man jubelt Juan de la Cosa zu, und er ist wirklich mutig, blickt dem Admiral fest in die Augen, indem er von neuem mit einer Verbeugung vor seinem Vorgesetzten in die Menge zurücktritt.

Die letzte Frage läßt der Admiral unbeantwortet und ergreift die erste, schießt wie ein Falke darauf nieder:

Wir segeln in diesem Augenblick abwärts!

Pause, bis man seine Antwort erfaßt hat, dann furchtbare Erregung, mehrere schreien laut auf und stürzen an die Reling, andere greifen unwillkürlich an die Wehr. Juan de la Cosa erbleicht, faßt sich aber und fragt:

Und wie gedenken Herr Admiral wieder aufwärts zu fahren?

Alle erfassen plötzlich die Tragweite von Juan de la Cosas Worten, sehen die ungeheure Rundung vor sich, die sie im Begriff sind, abwärts zu fahren, begreifen, daß es unmöglich ist, jemals wieder hinauf zu gelangen, und stehen wie versteinert …;

Mitten in diesem Zustand des Entsetzens hört man den Admiral lachen, sorglos, in so ernster Stunde, er macht sich über sie lustig, während er ihr aller Leben in seiner Hand hält, dieser Höllenhund, der Becher ist voll, sie wollen ihn nicht mehr anhören …;

Wir fahren in diesem Augenblick auch aufwärts, sagt der Admiral sanft zu Juan de la Cosa und erklärt seine Worte näher: wenn die Erde wirklich rund ist, kann es ja kein Auf und Nieder an einem bestimmten Punkt geben, außer der Richtung, durch die das Erdzentrum und der Zenit geht …; Juan de la Cosa aber schüttelt den Kopf, betrachtet den Admiral rechtschaffen und schüttelt den Kopf, voll Kummer um ihn, sein Schiff und die Mannschaft.

Da schlägt der Admiral um, lacht mit seinen hohlen Augen, und tut, als ob er auf die Meinung der anderen eingehe, da sie ja die der Mehrzahl ist: Gesetzt also, die Erde wäre flach, konnte sie dann von einem Abgrund umgeben sein, in den das Wasser sich stürzte? Dann wären die Meere ja schon längst von der Erde abgelaufen, und die Sintflut wäre unmöglich gewesen, wie Juan de la Cosa bereits richtig bemerkt hatte. Wenn die Ozeane dagegen wie ein Ring um die Erde lägen, was die Auffassung der meisten sei, so schlösse das keineswegs aus, daß man Indien von hinten anstatt auf dem geraden Wege erreichen konnte, nicht um die Kugel, sondern um den Kreis herum, eine halbe Drehung um die Erdscheibe, wenn ihnen das lieber wäre …;

Chor von allen, daß Juan de la Cosa recht habe, zornige Ausrufe, daß der Admiral offenbar den Kern der Dinge verschleiere und Juan de la Cosas direkte Fragen umgehe: wie man die Biegung der Erde wieder hinauf fahren solle, wenn man den wahnsinnigen Einfall gehabt hatte, sie herunter zu fahren? Heraus mit der Sprache!

Der Admiral: Sie glaubten jetzt also, daß die Erde rund sei.

Geschrei und Gezisch, allgemeines Gebrüll; und damit schloß die Stunde.

 

In einer folgenden Stunde mußte der Admiral mit seinen Gründen und Beweisen herausrücken, warum er im Westen des Ozeans Land vermutete, Gründe, die man schon früher gehört hatte, die jeder Mann in Spanien und Portugal bis zum Überdruß gehört hatte, eine alte, abgeleierte Lektion, die er wirklich jetzt zum unwiderruflich letztenmal wiederholte, in fließendem Spanisch, mit leicht italienischem Akzent. In einer weniger lebensgefährlichen Lage hätte es ihnen allen Riesenspaß gemacht, solch köstlichen Narren an Bord zu haben, um so köstlicher, weil er so groß und so verdreht im Kopf war; wenn sie ihn nicht haßten, würden sie ihn vielleicht sogar bedauern, denn er war so allein gegen sie alle, mitten auf dem Meere, doppelt allein als Fremder zwischen Fremden, der seltsame alte Narr, der sich zum Gespött machte, weil er nie müde wurde zu wiederholen, erklären, unterrichten, dieselben Dinge wieder und wieder.

Also: Seit Arilds Zeiten (seit Arilds Zeiten …; äfft Diego ihm nach, mit italienischem Akzent und sanftem Tonfall, natürlich abseits, aber doch so laut, daß die Umstehenden ihn verstehen und sich darüber belustigen können), seit Arilds Zeiten waren Gerüchte gegangen von einem verschwundenen Land im Atlantischen Ozean, Platons Atlantis; ob das Meer es verschlungen oder man den Weg dorthin vergessen hatte, darüber waren die Meinungen geteilt; für letztere Auffassung sprach, daß im Laufe der Zeiten immer wieder Sagen entstanden waren von Ländern oder Inseln weit, weit im Westen von Europa. Viele glaubten, es sei das Paradies selbst, das verlorene Land, aus dem die Menschheit seinerzeit vertrieben worden war und zu dem sie den Weg nicht mehr zurückgefunden hatte. Der heilige Brandanus war ausgereist, um dieses Land zu suchen, und war wirklich auch zu einer glücklichen Insel im Meer gekommen, der Wohnung der Seligen, wie in seiner Legende geschrieben stand, später aber hatte man den Weg dorthin wieder verloren und seit St. Brandans Reise waren achthundert Jahre vergangen; die Sage war sicher mit den Kanarischen Inseln verknüpft, natürlich irrtümlich, denn die Inseln mußten viel weiter draußen im Meer liegen, mindestens doppelt so weit wie die Azoren, die ja auch nicht in Betracht kommen konnten, wahrscheinlich hatten sie noch viel weiter südlich gelegen, vielleicht in der Richtung, in die sie jetzt fuhren.

Nun verhielt es sich allerdings so, daß man bei neuerer Betrachtung diese Sage von den geheimnisvollen Inseln weit im Westen als ein dunkles, aber an und für sich richtiges Gerücht auffaßte, wonach Indiens östlichste Küste sich so weit um die Erde erstreckte, daß man sie vielleicht quer über den Altlantischen Ozean erreicht hatte. Man wußte, daß Indiens Küste sehr große Inseln vorgelagert waren, Zipangu, wovon Marco Polo ziemlich sichere Berichte gegeben hatte; das waren wahrscheinlich dieselben Inseln, die man Antilia oder die Insel Brazil nannte und die die neuesten Geographen in Erwartung, daß sie einst entdeckt werden würden, bereits auf ihrer Karte abgesetzt hatten, z. B. der hochgelehrte und berühmte Toscanelli (welcher Esel? so Diego), und da man nun die Entfernung zwischen Europas Westküste und dem äußersten Indien ziemlich genau kannte, so konnte man die Breite des Atlantischen Ozeans ziemlich genau bestimmen, indem man sie von dem Umkreis der ganzen Welt abzog. Der Admiral meinte, daß es ungefähr die Entfernung sei, die man zurückgelegt hatte, so daß die Inseln jetzt jeden Tag auftauchen könnten (höhnisches Gewieher von Diego und den übrigen Zuhörern; wie oft hatten sie das unzurechnungsfähige, sanguinische Geschwätz nun schon gehört).

Ja, ja, wenn ihnen die geographischen Gründe ebenso wenig einleuchten wollten wie die kosmischen, dann waren da noch die direkten handgreiflichen Beweise, die Botschaften, die man von Zeit zu Zeit aus dem Atlantischen Ozean bekommen hatte und die dafür sprachen, daß auf der anderen Seite des Meeres Land lag. Erstens die vielen Berichte von Leuten, die das Land gesehen hatten, an sehr klaren Tagen, westlich von den Kanarischen Inseln (wahrlich, diese Leute mußten gute Augen gehabt haben, Diego); und dann persönliche Zeugenaussagen: Kolumbus hatte selbst vor vielen Jahren in Madeira einen schiffbrüchigen Mann beherbergt, der ihm auf seinem Sterbelager offenbarte, daß er auf ein er Reise nach England achtundzwanzig Tage von einem Sturm ins Atlantische Meer verschlagen worden sei und zu Inseln gekommen wäre, wo die Eingeborenen nackt herumgingen, hatte dann wieder günstigen Wind nach Europa bekommen, war aber so erschöpft gewesen, daß er auf Madeira starb, der letzte von siebzehn Mann (eine recht erfreuliche Geschichte! Warum war er nicht auf der Insel geblieben, war es dort nicht schöner gewesen?).

Dann war da Pedro Correa (ach – der!), der ihm von einem Stück Treibholz erzählt hatte, das bei Porto Santo angetrieben war, eigenartiges dunkles Holz, geschnitzt, aber, wohlgemerkt, nicht mit Werkzeug aus Eisen. Und etwas noch Seltsameres: an derselben Küste waren einige Schilfrohre angetrieben, wie Riesengrashalme so groß, als ob sie aus einem Lande kämen, wo alles von übernatürlicher Größe sei. (Her damit!) Er habe sich selbst drei Jahre in Porto Santo aufgehalten und dort mancherlei erlebt, das auf indirekte Weise von Ländern im Westen erzählte, seltsamen Wolkenbildungen und Lufterscheinungen. Das Schilf aber sei dem König von Portugal zugeschickt worden, dort habe er es gesehen. Martin Vincenti, ein sehr glaubwürdiger Seemann (her mit ihm; Diego), hatte auch geschnitztes Treibholz gefunden, weit im Westen, vor Kap St. Vincent.

Der seltsamste von allen Beweisen aber stamme von den Azoren; dort wären nach westlichen Stürmen Boote an den Strand getrieben, aus einem Stamm gehöhlt, offenbar die Fahrzeuge von Wilden, und an den Strand von Flores, einer der Azoren, wären zwei Leichen angeschwemmt worden, wahrscheinlich diese selben Wilden; sie hatten breite Gesichter und sahen anders aus als andere Menschen. Wenn das kein handgreiflicher Beweis für die Existenz von Antipoden sei …;

Antipoden …; Juan de la Cosa räuspert sich und gestattet sich eine Bemerkung. Nüchtern betrachtet, scheint ihm der Fund der beiden Leichen keine Aufklärung über Antipoden zu enthalten, denn Wesen, die sich auf der unteren Seite der Erde aufhalten, wo Bäume nach unten wachsen, und der Regen in entgegengesetzter Richtung fällt, müssen sich doch von anderen Menschen wesentlicher unterscheiden als durch breite Backenknochen, sie müssen doch wenigstens Saugfüße haben, wie gewisse Eidechsen, um sich festzuhalten; und auch in anderer Beziehung dürften sie sich von Christen unterscheiden. Man brauchte ja nicht ganz bis an die Pole und Stützpunkte der Welt zu gehen, um Monstren zu finden, bereits in der heidnischen Welt, den äußersten Grenzen der Erde, gab es Geschöpfe, die sehr von der menschlichen Form abwichen, wenn man Reisenden und Schriften, die durch ihr Alter ehrwürdig waren, Glauben schenken durfte; er selbst sei kein belesener Mann, habe aber doch sowohl von Arimaspen wie von Satyren reden hören und wisse, daß es jenseits von Arabien Menschen mit nur einem Bein gäbe, die sich sogar sehr schnell bewegen könnten; daß es Amazonen und Menschen ohne Kopf gäbe, die das Gesicht auf dem Leib hatten, war auch sattsam bekannt. Aus all dem ginge hervor, daß Menschen Gott um so weniger zum Bilde geschaffen waren, je mehr man sich von der christlichen Welt entfernte, ja, man konnte sogar annehmen, daß Menschen, die auf der Unterseite der Welt lebten, im Bilde des Teufels geschaffen waren, mit Schwingen, mit denen sie sich auf der unteren Seite der Erde zu halten vermochten. Die Vermutung, daß die Hölle in jener Richtung läge und nicht das Paradies, habe um so mehr Wahrscheinlichkeit für sich, als es immer wärmer wurde, was alle Anwesenden bekräftigen konnten, so daß die Auffassung, daß die Erde auf Feuer ruhte oder Feuer in der Tiefe habe, wie die feuerspeienden Berge bewiesen, selbst für Aufgeklärte sehr glaubwürdig sei. Soweit er, Juan de la Cosa, mit seinem geringen Laienverstand urteilen konnte, brachten die beiden Leichen auf den Azoren also keinen Aufschluß über die Antipoden, dagegen brachten sie die Gedanken auf andere grauenhafte Vorstellungen.

Eine unheimliche Stille legte sich bei Juan de la Cosas vernünftigen Worten auf die Versammlung. Der Admiral stellte ihnen die Sache immer so dar, als ob es sich nur darum handelte, Land zu erreichen, es kam doch auch darauf an, was sie erwartete, wenn sie es endlich erreicht hatten. Wortlose Wut gegen den Admiral sprach aus allen Gesichtern beim Gedanken an das, was Juan de la Cosa ausgemalt hatte, man fand keine Worte für das Entsetzen und den Abscheu: war es möglich, daß er sie mit Absicht zur Hölle fuhr? Handelte es sich nicht nur um ihr Leben, sondern auch um ihre Seligkeit? Hatte er vielleicht ihre Seelen verkauft? Dann sollte der Teufel …; Der Fluch blieb ihnen im Halse stecken, denn wenn er selbst der Böse war …;

Häßliche Pause. Sogar der stumme Jorge, der auf dem Deck kauerte und Speckscheiben mit dem Messer in den Mund schob und es geräuschvoll zwischen den Zähnen wieder herauszog, ein alter Galeerensklave mit Narben an den Handgelenken und kahlen Stellen auf dem Kopf wie ein alter Gaul, der vom Zaumzeug wund gescheuert ist, hob sein pockennarbiges Gesicht, das vor Alter wackelte, blinzelte und horchte auf: was ging vor, warum wurden die Leute so still? Nach seiner Erfahrung mußte etwas ganz Schlimmes geschehen sein, wenn nicht geschimpft wurde. Konnte es denn noch schlimmere Dinge geben, als ihm in seinem unsicheren Leben bereits widerfahren waren?

Jorge aber beruhigte sich und steckte den Bissen wieder in den Mund, der auf der Messerspitze in der Luft stehen geblieben war, denn der Admiral sagte offenbar Worte, bei denen die Leute wieder zu Atem kamen und den Gebrauch ihres Mundwerkzeuges wiederfanden. Der Admiral bekreuzigte sich so ehrlich, als der Name und Aufenthaltsort des Bösen genannt wurde, daß nur die Widerwilligsten an seiner Gottesfurcht zweifeln konnten, wahrlich, er war nicht mit dem Fürsten des Feuers im Bunde, das konnte ein jeder sehen.

Jetzt entspann sich ein längerer Meinungsaustausch über schwierige theologische Fragen. Der Admiral war der Ansicht, daß man die Unterwelt nicht auf bekannten Wegen erreichen konnte, jedenfalls nicht auf dem Seeweg, weil das Wasser ein dem Feuer feindliches Element sei. Der Weg dorthin sei unzugänglich für lebende Menschen; für Menschen aber, die ohne Gnade gestorben wären, würde er sich wahrscheinlich von selbst ergeben. Anders mit dem Paradies: wenn auch die Heilige Schrift keine bestimmten Angaben machte, wo das Himmelreich gelegen hatte, so war doch das erste Menschenpaar daraus vertrieben worden, und daraus konnte man folgern, daß es irgendwo auf Erden gewesen war. Auch brachte die Heilige Schrift Beispiele, daß Menschen lebend im Himmel aufgenommen worden seien, der Prophet Elias; obgleich es schon lange her war, konnte es doch möglich sein, daß es noch einmal geschehen würde.

Kopfschütteln, geteilte Meinungen und Unruhe bei den Zuhörern und, wie immer, Unbefriedigtheit, wenn das Gespräch zu Ende war. Bei den Möglichkeiten, die die Befehlshaber in Aussicht stellten, konnte immer noch früh genug Land erreicht werden!

 

Als der Ruf aber wirklich erschallte, fegte er jedwedes Bedenken fort.

Land, Land!

Martin Alonzo Pinzon war es, der die wunderbaren Worte rief. Er war gerade mit Pinta in die Nähe des Admiralschiffes gesegelt und ein Vergleich der Logberechnungen und Karten hatte stattgefunden, der scheinbar ein beunruhigendes Resultat ergeben hatte, als er im Westen eine niedrige Wolke oder Landkennung entdeckte, gerade zur Sonnenuntergangszeit, in weiter Ferne, aber so unverkennbar, eine lange, wellige Küstenlinie, daß er keinen Augenblick im Zweifel war:

Land, Land!

Alle sahen es, der Admiral sah es, sank im selben Augenblick oben auf der Kommandobrücke auf die Knie und begann mit erhobenen Armen Gott anzurufen und zu danken. Ungeheure Bewegung, alle Sorgen vergessen, wilde Freude beim Anblick des fernen gesegneten Landstreifens! Alles entert die Masten hinauf und wieder herunter, die Mannschaft sinkt sich in die Arme, alles ist außer Rand und Band!

Kopflose Verwirrung, bis der Admiral schließlich mit lauter feierlicher Stimme, die von einem Ende des Schiffes zum anderen schallte, die Mannschaft zum Gottesdienst auf Deck zusammenrief.

Ein Kanonenschuß wurde abgefeuert, Nina segelte heran, und Seite an Seite glitten die drei Schiffe durch die zunehmende Dämmerung. Während der Landstreifen in der starken Glut des Sonnenuntergangs verschwand, die Abendröte verblaßte und den ersten zarten neuentfachten Sternen Platz machte, erschallten die Chöre von der Santa Maria, Pinta und Nina, drei Chöre psalmensingender Männer, die zu einem einzigen Chor wurden, der auf dem Meere zu den Sternen hinaufrief:

Salve Regina, Mater misericordiæ,
vita, dulcedo, et spes nostra, salve.
Ad te clamamus exsules, filii Hevæ.
Ad te suspiramus, gementes, et flentes
in hoc lacrymarum valle.
Eia ergo advocata nostra, illos tuos
misericordes oculos ad nos converte.
Et Jesum benedictum fructum ventris
tui, nobis post hoc exsilium ostende.
O Clemens, o pia, o dulcis Virgo
Maria.


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