Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ungefähr ein Eichenalter, nachdem Christophorus am Fluß gewohnt hatte, lag dort eine Stadt.
Der Wald existierte nicht mehr; so weit das Auge von der Fährstelle reichte, war offenes bebautes Bauernland, erst in weiter, weiter Ferne begann der Wald. Die Fährstelle hatte allerlei Volks herbeigelockt, anfangs hatte sich dort ein Jahrmarkt gebildet und später eine Stadt; das umliegende Land wurde von Ansiedlern gerodet und kam unter den Pflug. An jedem Markttag kamen die Bauern mit ihren Waren vom Lande und erhielten statt dessen von der Stadt, was Fahrzeuge aus vielen Weltgegenden, die unter ihren Mauern Schutz suchten, gebracht hatten; so entsteht eine Stadt, und keiner kann sich darauf besinnen, daß es je anders war.
Eine große Ausdehnung hat die Stadt nicht, fast reckt sie sich mehr in die Höhe als in die Breite, sieht wie ein Kuchen aus, mit einer dicken Kruste herum, die Ringmauer mit Zacken und Türmen. An der Flußseite fällt die Stadtmauer steil zu tiefem Wasser ab, das nach rückwärts in einen Graben geleitet ist; eine aufgezogene Zugbrücke gähnt wie ein Maul mit ihrem Gaumen von Balken der Landseite entgegen; will man zur Stadt hinüber, muß man schwimmen, und ist man drüben, wird man übel empfangen. Hinter der Mauer liegen die steilen Häuser eng zusammengedrängt, dazwischen viele krumme und tiefe Gassen; man bewegt sich auf dem Grunde von Rinnen und wohnt in mehreren Schichten übereinander.
Mitten in der Stadt aber erhebt sich der Kirchenhügel und auf seiner Spitze reitet die Kathedrale, Unsere Frau, wie ein künstlicher Berg mit Zinnen und ausgehauenen Flanken. Sie ist so hoch, daß die Schatten der Himmelswolken sie im Vorbeigleiten beflecken, sie liegt hier in Sonne und dort im Schatten, mit ihrem Wald von Türmen, Steinkreuzen, verzierten Nischen und tausend Figuren; nachts erhebt sie ihren gewaltigen Körper aus dem Erdreich, der Fuß steht in Dunkelheit, und die durchbrochenen, luftigen Türme reichen in den Sternenhimmel und werden vom Mond durchleuchtet.
Die Stadt gibt am Werktag allerhand Lebenszeichen von sich, Geräusche aus Häusern und Gassen, Gerummel auf der Zugbrücke, wenn die Bauern mit ihren Wagen hereinkommen dürfen, Hammerschläge aus der Schuhmacherwerkstatt, wo Leder geklopft wird, Kinder tollen herum, fallen und stehen wieder auf, Weiber entleeren ihre Eimer für die Schweine auf der Straße, Krieger gehen Wache auf der Mauer, mit Pickelhaube und Armbrust. Die Stadt ist eine Festung, man hört Trommelschlag auf dem Grunde der Rinnen, und über den Marktplatz paradiert eine Reiterschar, von Kopf bis Fuß in schwarzblauen Stahl vermummt, jeder Mann mit geschlossenem Visier, eine Festung, das Gesicht hinter Schloß und Riegel, Dornen und Schuppen hier und dort. Bei passender Gelegenheit donnern die Kartaunen von der Stadtmauer, und die Schiffe, die vor der Stadt liegen, geschweift und mit hohen Achterkastellen, salutieren mit ihren Lärmerzeugern; man belustigt sich eine Weile mit Gebell.
Die Kathedrale aber kann alles zum Schweigen bringen, wenn ihr der Sinn danach steht. Tags über schlummert sie, ruht in ihrer Pracht und ihrer Nachbarschaft mit dem Himmel, nur die Tageszeiten begleitet sie mit einem Glockenspiel, zarten Melodien wie ein Tongespinst, ein güldener Monolog der Töne hoch oben in der Luft; morgens läutet sie bei Sonnenaufgang mit erwachenden, kräftig zunehmenden Schlägen ihrer großen Glocke, und abends läutet sie beim Untergang der Sonne, dieselbe Glocke, doch jetzt hat sie einen schleppenden Nachklang bekommen und schließt mit langsamen Knebelschlägen, dreimal hintereinander, die letzten bangen Seufzer des sterbenden Tages.
An Feiertagen aber, oder wenn etwas Großes angekündigt oder abgewehrt werden soll, Krieg, Brand, Pest, dann setzt die Kathedrale mit all ihren Glocken ein, ruft mit ungeheuren Erzzungen, so daß die Türme und Mauern ganz bis in die Tiefe mitschwingen, und der Hügel und die ganze Stadt klingen, und der Himmel weit und breit und das Bauernland und der Fluß mit seiner Biegung, alles bebt und weitet sich zitternd in Tönen, wenn die Kathedrale spricht. Schließlich ist es, als ob sie sich erhöbe, sie öffnet sich, nicht dem Tage, sondern der Zeit, die Glocken schwellen wie ein Gewitter und nehmen an Klang zu, ein Jahrhundert nach dem andern erschließt sich, Abgrund über Abgrund von Tönen, die Kathedrale brüllt, schwitzt Geräusch mit ihrem ganzen Körper aus, die Zeiten sind wiedererstanden und haben Zungen bekommen, und ein mächtiges Herz äußert sich darin.
An dieser selben Stelle hatte der Jäger seine Wohnung, auf dem Hügel, unter den hohen Bäumen, in tiefer Waldeinsamkeit. Wo jetzt die Mauer zum Wasser abfällt, hatte der Biber seine Schlupflöcher im Abhang; wo der Dachs seinen Bau im Hügel hatte, ist jetzt die Krypte der Domkirche.
Statt der hohen Bäume ragt die Kathedrale aufwärts mit ihren himmelstrebenden Türmen; Saatkrähen fliegen ein und aus und füllen die obersten Regionen der Kirche mit ihren klangvollen Schreien, in denen es wie von hohen Bäumen spukt. Weiter unten, auf Gesimsen und in Nischen, hinter den Steinbildern der Heiligen brüten Tauben und girren im Sonnenschein, auch sie haben ihre Nester behalten. Aber am allerhöchsten, wo der Turm sich schwindelnd von den Wolken abhebt und mit ihnen zu segeln scheint, wohnt der Falke, mit der weitesten Aussicht. So alt ist die Kirche, daß hier und dort Gras auf ihr wächst hoch oben in Ritzen, wo Erde sich wie auf einem Felsabhang gesammelt hat; auch das Gras ist zurückgekehrt. In einem Winkel des Gesimses, wo der Wind eine kleine Erdschicht von Staub gesammelt hat, von Regen befeuchtet und von Vögeln gedüngt, wächst ein Vogelbeerbaum, ein ganz grüner Baum in schwindelnder Höhe auf der Mauer, der Wald bringt sich in Erinnerung. Von den Galerien aber, den Dachrinnen, schauen allerhand Ungeheuer, Gnomen herab, die auf der Kirche zu Stein geworden sind, und speien Regenwasser oder schneiden häßliche Grimassen über Land und Stadt, die Ohnmacht, die ewig geworden ist. Das sind die Drachen vom Hause des Jägers, die in Stein umgehen, Nacht und Schreck sind in Bann getan. Im hohen, düsteren Turm hackt etwas in gemessenen Zwischenräumen, der Pendel der Turmuhr, der mit rostiger Stimme die Zeit ausmißt, ein Gespenst der Zeit, als sie noch jung war: der Specht im Walde.
Das Waldhaus des Jägers und sein Ygdrasilbild, sein Herz, die mächtige Entwicklung durch Erinnerung, sind in der Kirche aufgegangen; das Schiff, das so viele Menschen gen Süden trug, ist darin aufgegangen; Christophorus' Riesenmauern, die alles menschliche Maß überstiegen, und seine Treue sind darin aufgegangen. Er selbst steht vor dem Kirchenportal in Stein für die Ewigkeit, mit dem Kind auf seinen Schultern und einem Baum in der Hand, getreulich über die Tiefe watend; denn der alte Fährmann ist ja der eigenste Schutzpatron der Stadt am Flusse. Wenn man aber durch das Portal geschritten ist, befindet man sich in einem großen, luftigen Raum mit gedämpftem Licht und farbigen Schatten, anscheinend ohne Grenzendem hohen, schmalen Kirchenschiff, das von einem Wald von Säulen getragen wird. Sie streben aufwärts wie schlanke, lichte Stämme, einer hinter und neben dem anderen, sie verlieren sich in einem Hintergrund von Säulen und Bogen, und breiten sich in Wölbungen aus Steinrippen und Blättern aus, hoch, hoch oben, wo der Raum sich in seltsamem violetten Dunst auflöst. Wohin man sich wendet, sind Regenbogen, die hohen, schmalen Fenster, durch die das Licht in allen Farben fällt, starke, blaue Funken und grüne und gelbe und rote Blitze in buntem Gemisch, als ob die Sonne durch das Laubdach des Waldes fällt. Sieht man aber genauer hin, sind es mehr als Licht und Farben, es sind überirdische Figuren, die in himmlischer Ewigkeit leuchten, gekrönte Männer und stille beschwingte Frauen, die hier in bunten, leuchtenden Bildern Ruhe gefunden haben. Am Ende des Raumes aber bricht das Licht sich in einer gewaltigen Rose, einem Ring von Farben, worin sich kunstfertige Muster verzweigen, als ob alle Kreise und Sternenbahnen hier zusammenliefen und für alle Zeiten in einer vollkommenen Rundung weilten, es ist das Bild der Sonne, die die Schöpfung durchleuchtet, Abendröte und Morgenröte in der Ewigkeit vereint.
Oben auf den Säulen und in halbdunklen Alkoven stehen Abbilder von Menschen, toten Fürsten, Kriegern und Heiligen, die ihr Wesen hier in Stein fortsetzen, lange nachdem sie zu Staub wurden; sie sprechen eine stumme Sprache von dem Verlangen, in einer Form weiterzuleben, nachdem der Staub sich bereits gehorsam der Vergänglichkeit gebeugt hat. Sie liegen hier in ihren Gräbern, den Sarkophagen der Kapellen, Fürstenpaare in Stein auf den Deckeln ausgestreckt, tote Heerführer, mit Schwertern darauf, während eroberte Fahnen hoch oben im Räucherdunst schweben, sie leben in den abgetretenen Reliefen der Grabsteine des Fußbodens, in den Malereien, die von der Zeit geschwärzt sind, aus denen aber zwei brennende Augen dir folgen, wohin du gehst. Von Kirchenbildern und Statuen, von den gemalten Fenstern, von Inschriften und Symbolen spricht die entschwundene Zeit, es sind die Toten, die nicht sterben können.
Hier sind die Tiere des Waldes zusammengekommen und zu Stein geworden, um nicht zu vergehen; aus den ausgehauenen Köpfen der Säulen, zwischen Laubwerk und aus dunklen Ecken mit dem Staub der Jahrhunderte stecken sie ihre wilden Fratzen hervor, Hirsche und Wölfe im Verein, denn hier haben sie endlich Frieden geschlossen; sie leben in den stilisierten Zeichen der Waffenschilder und Adelswappen, die alte Jägerfreude bergen, Adler, Wildschwein, Rabe und der in Schnörkeln galoppierende Löwe; hier leben Fabeltiere ein Leben in Stein, die die Wirklichkeit nicht einmal gekannt hatte, der Drache, der Hippogryph und das wilde Pferd mit dem langen gewundenen Horn mitten auf der Stirn. Die Schrecken und Gespenster der Nacht, deren Dasein sich in der Einbildungskraft verliert, kann man hier sehen; in der Krypte aber ist die Unterwelt, denn der gefesselte Drachen der Dunkelheit trägt das Fußstück der Grundsäule.
Hoch oben über der Rundung des Chores, über dem Altar, wie auf der Himmelswand selber aber steht die Einsamkeit und das Zeichen des höchsten Geistes, das man ahnt, dessen Anblick einem aber den Tod bringen würde: das frei in der Luft schwebende Auge.
Der ganze Raum ist wie ein verzauberter Wald. Am Eingang steht das Weihwasser in einer verzierten Marmorkumme, mit Wasser aus einem alten Brunnen unter der Grundmauer der Kirche, in alten Zeiten eine heilige heidnische Quelle.
Der Jäger ist hier, eine dunkle Sagengestalt, dem die Zeit den Heiligenschein der Verklärung ums Haupt gelegt hat, ihm und dem übernatürlichen Hirsch, die Flüchtigkeit, Unerreichbarkeit, die ihn vom Augenblick in die Ewigkeit hinübergeführt hatten.
Seine Seele ist im Kirchenraum, im Echo; die alte Waldstimme, die zwischen Säulen flüstert, in Ecken und unter der Decke geistert, das ist er. Seine und aller Seelen aber sind in der Orgel, der Stimme des Kirchenraumes, die von nirgendher und von überallher kommt: der Raum rauscht, die Wölbungen, die Mauern, die Säulen, das ganze Steinkunstwerk spielt, es saust hier drinnen wie von einem leisen Wind, ein mannigfaches Raunen, aus dem man die Himmelsrichtungen reden und das Meer in der Ferne dumpf stampfen hört, hohes Vogelgezwitscher und tiefes Tiergebrüll, und ganze Heerscharen von menschlichen Stimmen, klaren Kinderstimmen, Wolken von reinstem Wohllaut, als ob unsichtbare Mädchenscharen vorbeizögen, und Chöre von ernsten und nachdenklichen Männern, die über die Kürze ihres Lebens noch im Grabe nachsinnen und sich räuspern. Die langen Nachtgesänge des Waldmenschen, wenn er sich vor dem Mond ängstigt, die naive Flöte des Einsiedlers an den ersten stillen Frühlingsabenden, das, was niemand aussprechen kann, was aus den Sternen und Jahreszeiten und in unserem Blut spricht, was sich noch sehnt, wenn schon die Toten tot sind, das saust in vielen Tönen durch den Raum und wird zu einem einzigen schwellenden Ton, dem Atemhauch der Ewigkeit.
Und der Duft hier drinnen, der milchige Hauch, der sich wie die Milchstraße unter den Wölbungen spannt und die Luft mit dem Nebel der Ferne, der Verzauberung füllt, schwingt von Tönen, es ist der Himmel aller Erinnerungen, die unendliche innere Welt, der Duft aller Sommer, Erinnerungen selbst an Dinge, die wir nie erlebt haben, an jedes Geheimnis, das die Sonne erzeugt hat, von Urzeiten an, als die erste Tanne ihr Harzgebräu verbreitete und ihre Zapfen auf den Rücken des Krokodils fallen ließ, und der erste Apfelbaum blühte und Duft spendete und voller Bienen war, im ersten Garten des ersten Menschenpaares.
Aber mitten auf dem Altar, just über der Stelle im Hain, wo der Jäger seine Warte hatte und seinen Mächten opferte, mitten in diesem Wunderwerk von Stein, Farben, Tönen und Duft steht das Muttergottesbild, Unsere Frau.
Sie thront über aller Vergänglichkeit auf einem Stuhl von Elfenbein, für den Hunderte von Elefanten ihre Stoßzähne lassen mußten, von flammenvergoldeten getriebenen Wolken getragen; gekleidet ist sie in kostbarste Seide, für die Tausende von blinden Raupen geopfert wurden; auf dem Kopf trägt sie ein großes Diadem von Edelsteinen, die Verdichtung des brünstigen Feuers, jeder von ihnen hat Menschenleben gekostet und Buhlschaft gesehen, darum sind sie so hart und funkeln unzüchtig, auf ihrem Haupt aber sind sie zur Krone der Unschuld geworden.
Auf dem Schoß hält sie Gottes Sohn, dem drei Goldflammen im Bilde des Sonnenscheins aus dem kindlichen Kopf strahlen, seine Hand spielt mit einem Apfel, dem Symbol des Ursprungs aller Frucht und aller Sphäre. Der Gottessohn ist im übrigen ein Knabe wie die meisten Knaben, pausbäckig und vor schwellender Gesundheit strotzend. Die Mutter Gottes blickt lächelnd auf ihn herab mit dem heiligen Mutterlächeln, das die schönste Blüte der Natur ist, das stumme Ausruhen der jungen Mutter in dem Wunder, das ihr widerfahren ist.
Vor der heiligen Jungfrau brennt eine Lampe, die seit der Gründung der Kirche nie ausgegangen ist; es ist eine alte Flamme, der Kultus, der sie unterhält, ist älter als die Kirche, geht auf alte, vergessene Feueranbeter zurück. Sie brennt jahrein, jahraus; tagsüber steht sie im Weihrauchnebel und farbigen Tagesschein, der durch die Fenster fällt, wie eine Erinnerung an die Nacht, ein verblaßtes Krankenlicht, das Tag und Nacht aushält; nachts aber, wenn die Kathedrale leer und still wie ein ungeheures Grab daliegt, brennt sie wie ein gelbes Loch mitten in der Dunkelheit, wie eine Glut, die vom Tage übriggeblieben, ein einsamer Tropfen auf dem Grunde des Bronnens der Gräber und der Finsternis.
Entsetzlich ist die Kirche in der Nacht. Die bodenlose Dunkelheit ist mit Finsternis gefüllt, Regionen von Dunkelheiten; hoch, hoch oben spukt ein verblichener farbiger Schein, wie der Hof des Mondes, und ein langer Geisterstrahl dringt herab und schreibt Augen auf die Säulen, ein freischwebendes blindes Leben mitten in einer Welt von Finsternis; unten auf dem Grunde des Kirchenraumes aber brütet die Dunkelheit ganz schwarz mit der Ewigkeitslampe in ihrem Schlund, wie ein Auge mit Nebelringen. Ein seltsames Husten geht von fernen widerhallenden Winkeln aus, der Raum seufzt, die Nacht fügt Schicht auf Schicht. Die Orgel ist vollständig stumm, ein doppeltes Verstummtsein; oben unter den hängenden Fahnen und im Luftzug unter den Wölbungen fächelt es, ein hastig flüchtendes Leben, Flügelschlag, und hin und wieder wird etwas im Schein der Mondstrahlen sichtbar, wie eine kleine Seele, Fledermäuse sind es, die auf ihren kleinen Drachenschwingen hierhin und dorthin huschen und sich im Eilflug zwischen Säulen und Hohlräumen vorwärtstasten.
Fern und kreischend, durch viele Mauerschichten und Kammern ertönt von Zeit zu Zeit ein heulender Schrei, die Eule des Turmes – doch hält sie sich außerhalb der Kirche auf, ist die Unglücksstimme über der Stadt in der Nacht. Die Kathedrale brütet über den Dächern wie ein Berg von Dunkelheit, der sich mit der Nacht zusammenballt, und aus den hohen, weitläufigen Hohlräumen im Turm klingt das Schreien der Eulen wider, als ob der Turm selbst heulte und weithin mit seinem Schrecken von Finsternis drohte.
Am Fuße der Kirche brüten Kreuze und Gräber und Dunkelheit, ungern geht hier jemand vorbei und wirft einen Blick zum Kirchhof herein, nein, man wendet das Auge ab. Wenn ein Mensch in der Kirche eingeschlossen und gezwungen würde, die Nacht dort allein zu verbringen, würde er vor Schreck sterben oder den Verstand verlieren; ja, wahnsinnig vor Schreck würde man werden, käme man vorbei und hörte zufällig die irre Stimme des unglückseligen Eingeschlossenen. Der Knochenmann, der nackte Tod mit seinem grauenvollen Gebiß, lauert in dunklen Winkeln, zwischen Gräbern hinter vergitterten Türen; denn mit der nächtlichen Kirche ist die Vorstellung von dem Wesen des Abgrundes verbunden, dem Bösen, dem abscheulichen Unhold mit dem rotglühenden Schwanz, pechstinkend und mit all den schmutzigen Künsten ausgestattet, die zu nennen man sich scheut.
Nur die Diener der Kirche besitzen die Macht, auch des Nachts zu den Mächten der Kirche hineinzugehen, schwarzgekleidete Gesellen singen Vigilie bei brennenden Kerzen zur Mitternachtszeit in der Krypte, ein Feuerschein dringt aus Gucklöchern in der Mauer über der Erde, ein unterirdischer Chor ertönt, man weiß, daß Messe abgehalten wird, doch kann man sich des Gedankens an die Unterwelt nicht erwehren: so klagen die lebendig Begrabenen aus der Hölle, so heulen die verrückten Seelen, der blutige Wölfechor!
Und an all diese Schrecken übergibt man seine Toten. In den Kapellen und den selbst am Tage dämmrigen Alkoven in der Mauer, wo die Gräber sind, verdichtet die Dunkelheit sich des Nachts zu der äußersten Dunkelheit, hier sind die Toten mehr als einmal begraben. In der Nacht entsteht ein Geräusch wie von welkem Laub und verliert sich wie lautlose Schritte im Zugwind zwischen den Säulen, unerklärlich: Knochen sind es, die in einem Sarg zusammenfallen, Bretter und Mauern ersticken den Laut, der noch ein flüsterndes Lebens- und Todeszeichen ist von etwas, das langsam durch Jahrhunderte im Innern der Sarkophage zusammensinkt.
Bald aber kleidet die Kirche sich wieder in das Gewand des Tages und übt ihre erhebende Macht auf das Auge aus. An Sonntagen aber gibt sie noch mehr, Sonntags gibt sie Verjüngung. Bereits von früher Morgenstunde an kann man den Sonntag, den Sonnentag, in der Luft spüren. Die Saatkrähen schreien klarer, dämmerungsfroher, die Tauben girren und girren, als hätten sie von neuausgesprungenem Laub zu berichten, und die Leute begeben sich in Scharen zur Kirche, denn die Glocken sind heute jünger und kräftiger im Klang, läuten Willkommen und viel Himmel über Stadt und Land herab, die heute still sind und sich zum Festtag geschmückt haben.
Es ist die Welt von vorn angefangen: in der Kirche singt es wie von erwachenden Vögeln, die Räuchergefäße vorm Altar senden Wolken aus, während sie wie in schwindelnder Freude hin- und herschwingen: Die Geburt des jungen Tages! Neugeborene Wolken, von der Dämmerung hervorgebracht und der Sonne rotgefärbt, Düfte vom ewigen Sommer verbreiten sich in der Kirche bis in die äußersten Winkel, kein Stümper, dem sie nicht Botschaft zu bringen haben.
Unter den Wölbungen liegt der Rauch wie Fruchtbarkeitsnebel in einem Treibhaus, und hoch, hoch oben sieht man ganz undeutlich ein Gespinst von Schwalben ein und aus kreuzen, sie haben ihre Nester hoch oben zwischen Rippen und Laubwerk. Ihr zartes Wit-wit aber ist nicht zu hören, denn die Orgel braust, klarer und voller als an Wochentagen empfängt sie die Kommenden mit warmer Tonfülle. Der Raum streckt sich mit seinen Säulen und Altären, der Himmel ist offen.
Die Orgel braust mit voller Kraft, und ein Chor von Stimmen füllt den Raum, als käme er von den Sphären herab:
Die Sternenkerze der Ewigkeit brennt, Mutter, für dein Herz, die du den Schmerz der Welt lösest.
Um dein Haupt des Himmels Kugeln, in deinem Herzen des Lebens Flüsse, wundertätige Mutter Gottes!
Tiefe der Unschuld, von der wir träumen, der von Freude durchströmte Brunnen der Güte, der nie geleert wird!
Dein Wesen, deines nur, ruht in sich selbst. Während die Welt enthastet, verweilst du im Lichte und lächelst.
Wie ein Baum, vom Himmel genetzt, in eine Sommerwolke gekleidet, schmückst du dich grün und freudig.
Und wie der Baum sein Laub verliert, beugst du dich tief betrübt: das Geschöpf gehört dem Staube.
Der Morgen des Lebens bewegt dich, wie Tau eine Rose erquickt und Liebe aus ihrem Becher atmet.
Die Rose errötet. Der Dorn verwundet. An der Bahre des kurzen Sommers bluten Hagebutten, deine Tränen.
Bebend gehst du und tapfer die Pfade des Lebens, die sanften und blutigen, fruchtbar bist du Weib, fruchtbar!
Denn in dir ist das Leben zuhause. Aus dem Bettwinkel deiner Kammer hört man die zarte Stimme des Kindes.
Dort wäschst du deinen kostbaren Schatz und sättigst ihn an der Mutterquelle, legst ihn nieder und lüpfst ihn.
Dort, während die Mitternachtsstunde sich nähert, hört man es weinen, und du redest deinem Pflegling warm und schön zu.
Mit einem Lied wie Blumenglocken wiegst du ihn leise in Schlummer. Gold im Licht sind deine Locken.
Neu entzünden sich die Fackeln des Lebens! Er ist geboren, vor dem die Elenden der Erde knien, wenn die Erde wankt:
Knabe, der die Erde erben soll, Manneskeim, Larve des Gottes, Hoffnung, die die Zukunft färben wird!
Die Welt wirft sich weg in Raserei, sieht sich selbst mit Schreck und Ekel – in deinem Neste erneuert sich alles.
Roheit meint dich zu verraten; des Fleisches klägliches Rätsel wird in deinem Blut zu Gnade.
Wenn das Leid seine Feuerschrift schreibt und das Entsetzen der Natur dich in den Staub reißt – gibst du Leben!
Lieblich entfaltest du dich von neuem zu einer jungen und holden Tochter, Grauen hat sich süß in Lachen verwandelt.
Der niedrigen Hand, die zu verschwenden glaubt, begegnest du mit doppelter Fruchtbarkeit, das Weib, durch Gebären wiedergeboren!
Dies ist deine Rache, du Reine: zwei Früchte, wo vordem die eine wehrlos zwischen Zweigen errötete.
Wie eine Sonnenwelle den Schatten jagt vom goldenen Acker, Lächelnde, so schön bist du.
Nichts im Reiche der Allnatur ist wie Schönheit, schönes Mädchen, Augenlust, Wunderbare!
Feuer der Sonne und Wellen des Blutes, einem geheimen Geiste untertan, bergen sich in deiner Brust.
Süße des Lebens, Flammen der Freude sind in deinem Antlitz sichtbar, ewige Jugend du, unsere Frau!
Brunnen der Güte! Verzeiherin. Jungfrau! Mutter! Milde Frau! Laß uns Wonne bei dir finden.