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Das Licht, das Kolumbus vom Meer aus gesehen, war ein brennender Ast gewesen, den ein Mensch in seinen hocherhobenen Händen auf dem Wege von einer Palmenhütte zur anderen getragen hatte.
Wenn man an dunklen Abenden allein unterwegs ist, muß man Feuer bei sich haben, nicht, um den Weg zu finden, der Pfad ist bekannt, ein Stückchen durch den Wald und über freies Feld, sondern weil man es nicht wagen kann, allein ohne Feuer draußen zu sein.
Der Mann ist ganz nackt, ist es immer gewesen, die Luft legt sich wie ein blutwarmes Bad um seine Glieder, selbst jetzt zur Nachtzeit, dieselbe Temperatur, die er vom Wasser in der Lagune kennt, wenn er untertaucht, dieselbe, die ihn in seiner Hütte umgibt und von Frauen und Kindern ausströmt, die natürliche Wärme, das einzige Kleidungsstück, das er und seine Vorfahren je gekannt haben. Aber er ist von oben bis unten bemalt, eingeschmiert mit fetter Asche und Kohlen in rohen Figuren; in der Nase hat er einen Ring von Muschelschalen und um den Hals eine dicke Kette von Pottwalzähnen. Das Haar fällt ihm bis auf die Schultern, nur über den Brauen ist es kurz, zwischen zwei Steinen durchgerieben, und mit Federn geschmückt. In der freien Hand hält er einen Speer, dessen Spitze im Feuer erhärtet ist, und an einer Schnur um den Leib trägt er einen Bambussplitter, aus dem ein Messer gemacht ist.
Der Feuerschein des hochgetragenen brennenden Zweiges fällt ihm in die Augen, sie sind schwarz und unverständig, seltsam gewölbt, wie konvexe Spiegel, die eher wilde Einbildungen von innen spiegeln als äußere Dinge aufnehmen können. Und trotzdem erreicht alles, was um ihn herum vorgeht, sein Bewußtsein; mit furchtsamen Augen sieht er jedes Blatt, das sich innerhalb des Lichtkreises bewegt, der immer neue Bäume vor ihm enthüllt, während die Dunkelheit sich hinter ihm wieder schließt. Papageien, die sich lautlos auf dem Ast, wo sie sitzen, ducken, streichen im Bogen herab und schwingen sich in einem anderen Baum wieder hinauf, oder sie richten ein Auge auf den Lichtschein, hüpfen auf dem Ast etwas zur Seite, wollen erst abwarten, bevor sie sich die Mühe machen aufzufliegen …; In dem Licht, das plötzlich auf ihn fällt, entsteht der Leguan, mit tausend Schuppen, Dornenkamm, zornigen Beinen, Nasenlöchern und erschrockenen Augen – am meisten aber ist der Mensch geneigt, das zu sehen, was er nicht sieht, Schrecken und Ahnungen, die ihm aus dem Kopf springen und beim ersten besten Laut, den er sich nicht sofort erklären kann, zu Bildern werden; das Weiße tritt ihm aus den Augen, er greift krampfhaft um den brennenden Zweig, hält ihn höher und streckt das Feuer den schlummernden Mächten entgegen, den Palmen, dem Bambusgehölz, dem häßlichen Dickicht, dem weißen Nachtnebel, der einen Busch füllt und ein entsetzlich Ding ist mit dem Busch im Arm, bis das Licht ihn seiner Macht beraubt.
Als er aus dem Walde auf das freie Feld kommt, geht er vorsichtiger, hier dringt eine andere Welt auf seine Sinne ein und macht ihn zu einem anderen Menschen: nichts als Dunkelheit in der Luft vor ihm, Gras und Steine treten aus dem Lichtkreis hervor, die Luft ist hier offen, bringt Botschaft von weither. Jetzt gelangt auch das langgezogene steigende Dröhnen an sein Ohr, das mit einer Erschütterung endet, die Wellen, die sich ringsum an den Riffen der Insel brechen, der Laut wiederholt sich in bestimmten Zwischenräumen, er kennt ihn, empfindet die Insel rundum, spürt den Geruch des Meeres, die großen, weitgeöffneten Nasenlöcher blähen sich, der Strand ist in ihnen, der lebendige Geruch des Korallenschlammes und alles, was sich darin rührt, die Lagune und alles, was ihres ist, seine Seele ist voll von dem, was er einatmet, er ist eins mit der Insel und trotzdem in einer furchtbaren Angst, die nur vom Feuer niedergehalten wird.
Nachdem er einige Minuten gegangen ist, kommt er zu einem Gehölz, in dessen Tiefe eine Hütte liegt, wie seine eigene, die Hütte eines Freundes, eines Mannes wie er selbst, der auf seinen Hacken neben dem Feuer sitzt und ihn mit Grunzen empfängt. Er will nichts weiter, als auch auf seinen Hacken neben dem Freund sitzen und sich in einer breitmündigen Sprache, in abgebrochenen Sätzen, mit ihm unterhalten. Worüber? Fischerei, das Wesen der Lagune, darüber tauschen beide allwissend und erstaunt ihre Meinungen aus. Man spricht von diesem oder jenem sehr guten Kanu. Oder von einem Unglücksfall: ein gemeinsamer Bekannter hat sich einen Splitter in den Fuß getreten und liegt im Sterben, um so wenig, da muß Zauberei mit im Spiele sein. Fremde Kanus gesehen, Neues von anderen Inseln?
Im Hintergrunde der Hütte unterscheidet man undeutlich einen Haufen Frauen und Kinder, schlafend, eines oder das andere erwacht hin und wieder und legt sich mit äußerster Vorsicht wieder nieder …; oh, wenn sie die Männer stören würden! Vor dem Eingang der Hütte, im Dämmerschein des Feuers, schleichen Hunde herum, merkwürdige Hunde, sie bellen nicht, sind aber naseweis und wedeln mit Schwanz und Ohren, sind dick, aber mit spärlichem Fell, sie werden gemästet, sind an Stelle der Schweine getreten. Sie zeigen großes Interesse, als die Männer sich zum Essen niedersetzen, geröstete Krabben, die sie mit einem steinernen Werkzeug öffnen, und Mais, der gelben Zähnen gleicht; etwas von dem fetten Eingeweide der Krabben wird dem Gott um den Mund geschmiert, der unter dem Palmendach steht, aus Korallenkalk geformt, und dem Feuer zugrinst. Kawassabrot, das nach dem Schweiß der Frauen schmeckt, stillt den größten Appetit; von allem, was gegessen wird, opfert man eine geringe Portion dem Feuer, und ein Feuergebet wird zwischen den Zähnen gemurmelt. Darauf werden tiefe Schlucke aus der Kalebasse getan, und die Männer haben gegessen und stoßen mit Fleiß auf: heraus mit den bösen Geistern, die sie mit den Speisen verschluckt haben! Das Gespräch kommt wie von selbst auf Gastmahle, und die Stimmen senken sich, werden feierlich: diese oder jene Insel, vor soundso vielen Sonnen, viel Menschenfleisch, großer, fetter Mensch, mam, mam!
Und dann ein guter Rauch für die Nacht! Von der besten Pflanze werden die Blätter auf das Feuer gelegt, und die Männer beugen sich über den Rauch, atmen ihn ein, trinken mit Nase und Mund, husten und winden sich vor Behagen, das Wasser läuft ihnen aus Mund und Augen, aber sie sind glücklich, ersticken in Rauch, bis sich ein Gott über ihren Köpfen zu erheben scheint, hoch oben im Rauch unterm Palmblattdach, ein allmächtiges Wesen, der düstere betäubende Geist, Freund aller irdischen Armen, dessen Name Tabak ist. Schließlich sind sie schwindlig und haben herrlich beunruhigte Adern, die sie schläfrig machen, einen schönen Kopfschmerz, und sie gehen zur Ruhe, strecken sich, wo sie gerade sitzen, der Gast ist hier wie zu Hause.
Und als es sicher ist, daß sie eingeschlafen sind, schleichen sich Schatten zum Feuer, Frauen und Kinder und die stummen Hunde, die sich die Reste teilen. Sie flüstern eifrig und lassen sich die Extramahlzeit mitten in der Nacht prächtig schmecken, halten mit einem Bissen im Munde inne und lauschen, ja, sie schlafen, und legen darauf neue Leckerbissen zum Bräunen ins Feuer. Die Frauen tuscheln miteinander, redselig, mit kleinen Schweinsaugen, sie können eine alberne Munterkeit kaum unterdrücken, obgleich die meisten noch von den abscheulichen Wunden, die die Bambusmesser der Männer ihnen zugefügt haben, bluten. Schließlich suchen sie sich auch ein paar Blätter von dem guten Kraut, streichen sich die Haare aus den Augen und werfen einen verstohlenen Blick auf die schlafenden Männer, denn es steht Todesstrafe darauf, und legen die Blätter ins Feuer, atmen das Gift ein und winden sich selig. Ein Säugling im Rückensack fängt an zu schreien und wird in aller Eile mit einer Brust beruhigt, die ihm über die Schulter zugeworfen wird. Die Kinder zanken sich über die Reste, die Knaben greifen die kleinen Mädchen mit Bambusmessern an, alles aber geht ohne einen Laut vor sich, damit die göttergleichen Männer nicht geweckt werden. Bald grunzt die ganze Hütte im Schlaf.
Als aber alles schläft, kriecht noch ein Schatten zum Feuer, ein altes, mit dem Kopf wackelndes blindes Wesen, die Älteste der Hütte, sie tastet zwischen den glühenden Kohlen und auf der Erde, ißt Kohlen und kleine verbrannte Knochen, oder was sie sonst findet, und bleibt dann am Feuer sitzen, wärmt sich an der Glut, die sie nicht sehen kann; die Bambussplitter der Kinder fallen ihr in die Hände, sie kratzt sich damit die trockene Vogelhaut und versinkt dabei reptilartig in Gedanken: viele, viele dunkle Jahre sind es her, seit sie Grausamkeit der Männer genießen durfte! Zwischen den Dingen, die sie findet, sind auch einige verkohlte Reste Tabak – und sie, sie weiß, welchen Weg das Gute gehen muß, keinen Tabak in die Nase, nein, in den Mund, und gierig stopft sie sich Asche und Tabak hinein, schmatzt und kauert sich mit dem schönen Kraut im Mund getröstet nieder.
Den Rauch dieses Tabakfeuers aber hatte Kolumbus draußen auf dem Meere gespürt!
Die Männer bellen im Schlaf und verdrehen die Glieder, als ob sie mitten auf den Knochen auch Gelenke hätten: unheimliche Träume. Sie ahnen nicht, daß das, was sie am kommenden Tag erleben sollen, ihre schrecklichsten und ungeheuerlichsten Träume weit übertreffen würde. Was sollten sie nicht alles zu sehen bekommen!
Der nackte Wilde mit einem brennenden Zweig in der Hand, von den Schrecken der Nacht umgeben, die er mit Feuer in Schach hält, – das war in kurzen Umrissen ein Bild von seiner Stellung in der Natur und von seinem Ursprung.
Denselben Schrecken, den er vor der Nacht empfand, hatten seine Stammväter in der Urzeit einst vor dem Feuer empfunden, dann aber war es ihnen als stärkste Macht der Natur in die Hand gegeben worden und sie hatten sich damit die Tiere und die Nacht untertänig gemacht und sogar dadurch ein Mittel gegen die Kälte gewonnen.
Doch nicht alle hatten sich dessen bedient, hier hatte die Menschheit sich geteilt, und eine tiefe Kluft hatte sich gebildet zwischen denen, die mit Hilfe des Feuers den Kampf gegen den Winter aufnahmen, und denen, die weiter und weiter nach Süden wichen, je härter die Lebensbedingungen im Norden geworden waren. Die Eiszeit hatte die Grenze gesetzt. Aus den warmen Wäldern im Norden vor der Eiszeit war die Menschheit gekommen, aus dem verlorenen Land; der Mann, der das Feuer zähmte, Fyr, und vom Vulkan herabkam, trug den brennenden Zweig genau so wie der Wilde auf Guanahani …; so weit war die Menschheit auf ihrem Weg nach Süden mit der Wärme und den Wäldern gelangt.
Weil sie aber beständig ihre Urbedingungen aufgesucht hatten und darin verblieben waren, hatten sie sich nicht verändert, sondern waren dieselben Urmenschen geblieben, derselbe Waldmensch, mit den wenigen aber kräftigen Mitteln, die Fyr ihm einst in die Hand gegeben hatte, dem Feuer, dem Speer und dem Steinmesser; dazu war noch der Bogen gekommen. Sie führten noch Symbole mit sich, die von Geschlecht zu Geschlecht, durch eine ungeheure Anzahl von Generationen ziemlich unverändert überliefert worden waren, im wesentlichen Schrecksymbole, eine allgemeine verschwommene Überlieferung von dem Entsetzlichen, welcher Art es auch sein mochte, die Feuermacht, Gunung Api oder der Mann. Der Inbegriff ihrer eigenen Grausamkeit, die sich durch einen besonders blutigen Zerstörer verkörperte, der viele zerschmetterte und noch langem aller Erinnerung blieb, oder ihre Bereitschaft zu opfern, wenn der Schrecken sich dadurch besänftigen ließ, das waren ihre Vorstellungen vom Göttlichen, die sie in Stein oder Holz nachzubilden versuchten; häßlichere Bilder gab es nicht. Den Vorstellungen lagen uralte Erfahrungen zugrunde, rohe Naturmächte, sichtbar oder unsichtbar, alles in allem ein Mann, jener Mann, der Geist dessen, der gelebt hatte und noch immer war und beständig wiederkehren würde. Fühlte man einen Stich inwendig, so war er es, fiel ein Ast im Walde auf einen herab, so war er es, hinterlistig wie immer; stieß man mit der großen Zehe gegen einen Stein, so hatte er ihn in den Weg gelegt, man kannte ihn; schlimme Träume, er hatte sie verschuldet. Das war seine alltägliche Laune, wenn aber Wirbelstürme kamen, Donner und Blitz, dann war er zornig, mordlustig, wollte Leichen in Massen sehen, und dann war der Mensch klein, kannte kein anderes Gnadenmittel als das Opfer, und wußte nicht einmal, ob es angenommen würde.
Wurde einem das Leben vergönnt, nahm man sich Genugtuung für das, das man gelitten hatte, an Wesen, die unter einem standen, Tieren oder was man sonst bewältigen konnte. Das vornehmste Vergnügen war darum die Jagd. Zur Erhebung des Gemütes verwandte man Musik, herrliches Getöse auf der Trommel. Die Andacht verrichtete man aus alter Vorliebe in Höhlen, wo man mit Licht spuken, Echo machen und die Gestalt jenes Mannes an die Wand malen konnte, und wo Trommel, Gesang und Tanz eine besonders häßliche Wirkung hatten. Dabei stellte man sich vor, daß man selbst die unheimlichen Mächte sei, die in der Natur regierten. Die größte Sünde aber und gleichzeitig auf mystische Weise eine Versöhnung war: Menschenfresserei.
Und jetzt sollte der Waldmensch zum erstenmal seinem Bruder von vor einer halben Erdperiode begegnen, dem Eiszeitmenschen, jenem Teil der Menschheit, die im Norden geblieben war und, statt auszuweichen, sich verändert hatte, die Nachkommen von Dreng. Würden sie einander wiedererkennen? Wie würde die Begegnung ausfallen? So standen die Dinge, als Kolumbus an jenem Tage in Guanahani landete.
Aber es war nicht das erstemal. Einige hundert Jahre früher war ein Mann hier an dieser Küste gewesen, der tiefe Spuren im Leben der Bevölkerung gezeichnet und ein unklares, aber starkes Andenken hinterlassen hatte, die Sage vom weißen Gott. Noch wurde er unter dem Namen Quetzaleoatl verehrt. Von ihm soll hier berichtet werden.
Er war ganz allein in einem Boot gekommen, einem ausgehöhlten Baumstamm, ohne Pracht, in Tierhäute gekleidet; sein Aussehen, Wesen und seine Fähigkeiten, die sich nach und nach entpuppten, weckten aber das größte Aufsehen und wiesen ihm den Platz an, den er später in der Überlieferung als der weiße Gott behielt.
Er war blond und ähnelte nicht dem Bilde, das man sich hier von einem Menschen machte, wo alle dunkel waren, sein Gesicht und sein ganzer Körper waren bleich, fast zum Erschrecken, auch seine Augen waren hell wie die Luft; seine Nase war nicht wie eine gewöhnliche Menschennase flach und offen, sondern sie ragte wie ein Schnabel aus dem Gesicht, und die Löcher saßen unten. Am merkwürdigsten aber war das Haar, ganz licht, wie Sonnenschein; sah man ihn von weitem, glaubte man, er trüge die Sonne auf seinen Schultern. Sonne! Sonne! hatten die, die ihn zuerst sahen, gerufen und waren auf ihr Angesicht niedergefallen. Das einzige, was seiner Freundschaft mit den Menschen, wo er hinkam, im Wege stand, war, daß sie sich ihm nicht zu nähern wagten. Auch sein Bart war hell, lang und voll, wie ein Wald im Gesicht und auf der Brust, eher weiß als blond, denn er war kein junger Mann mehr. In der Sonne glich sein Kopf dem Goldstaub, den man im Sand an den Ufern der Flüsse fand, und das Gold wurde heilig, weil es seinem sonnigen Kopf glich. Von Gestalt war er sehr groß, seine Kräfte wurden nie erprobt, daran wagte keiner zu denken. Er kam nicht im Bösen, wie man mit der Zeit erfuhr, und auch dadurch wirkte er fremdartig. Als er sich an Ort und Stelle niederließ und die übernatürlichen Kräfte, die er besaß, zeigte, nicht zum Verderben, sondern im Gegenteil zur Bereicherung für alle Menschen, ja, da erwies man ihm alle Ehre, die einem Mann zukam, der die personifizierte Sonne ist und herabgestiegen war, um zwischen den Kindern des Staubes zu leben und zu atmen.
Fragte man ihn, woher er käme, zeigte er nach Osten und Norden übers Meer, zum Sonnenaufgang, was niemand verwunderte; als aber einmal jemand Mut faßte und ihn fragte, wie er hieße, da antwortete er mit einem vielsagenden Lächeln, daß er ein Gast sei. Als er später wieder von dannen gezogen war, verstand man seine Worte. Er blieb solange, daß Leute, die bei seiner Ankunft Kinder waren, alt wurden, bevor er weiterreiste, er selbst aber schien nicht älter zu werden. Daß er sterben könnte, war eine unmögliche Vorstellung. Man nannte ihn Quetzalcoatl, das bedeutet Vogel und Schlange, und bezog sich auf den Wind und den Blitz, mit denen er im Bunde zu sein schien; auf die Künste des Feuers verstand er sich besser, als den meisten geheuer war, doch mißbrauchte er seine Macht nie. Man errichtete ihm einen Tempel und einen Thron und schmückte seinen Kopf mit einer Herrlichkeit von grünen Federn, eine Pracht, die sonst nur Göttern zuteil wurde.
Der Mann aber, der so erhöht wurde, war niemand anders als Norne-Gast, der in diese entlegene Weltgegend geraten war. Als man ihm aber blutige Opfer bringen wollte, schlug er sie aus, wollte nur Blumen und Früchte annehmen, und das gab Veranlassung zu ganz neuen Opfern, die man bisher nicht gekannt hatte und die eine tiefe Grenze zwischen den religiösen Vorstellungen bildeten; doch davon später.
Erst soll berichtet werden, wie Norne-Gast hierhergeraten war. Eine lange Reise war es gewesen, aber übrigens kein merkwürdiges Unternehmen, wenn man wie Norne-Gast die Zeit vor sich hatte und nichts weiter tat als reisen. Es war in jener Zeit seines Lebens, als er seine Teuren überlebt und sie vergeblich in fernsten Landen gesucht hatte, an der Küste der Toten hoffte er sie wiederzufinden. Er selbst konnte ja nicht sterben, bevor das Licht, das seine Mutter Gro ihm gegeben, niedergebrannt war; die Küste der Toten aber hatte er noch nicht gefunden. Nachdem er im Süden gesucht, begab er sich nach Westen, in die Richtung des Sonnenunterganges, vielleicht war es ein Fingerzeig, daß sie gerade dort lag. Das große Meer außerhalb Europas getraute er sich in dem kleinen eichenen Boot, das ihm zur Verfügung stand, nicht zu befahren, als alter geübter Segler aber wußte er, wie weit man kommen kann, wenn man sich Zeit läßt und den Küsten der Länder oder dem Lauf der Flüsse folgt, das hatte ihn schon um alle bekannten Länder Europas und tief in unbekannte hineingeführt. Und diesem Weg folgte er.
Erst begab er sich nach Norden, längs der norwegischen Küste, paddelte sich vorwärts und nährte sich vom Fischfang, wie es seine Gewohnheit war, ohne sich zu übereilen, blieb einige Jahre an einem Ort, wo es ihm gefiel, legte lange Entfernungen zurück, wenn die Verhältnisse es erlaubten, verlor aber nie das ferne Ziel seiner Reise aus den Augen. Von der norwegischen Küste aus sah er bei klarem Wetter weit im Westen Inseln im Meere, die Shetlandsinseln, und wagte eines Sommers bei stillem Wetter die Überfahrt. Von da erreichte er die Farö-Jnseln, indem er dem Fluge der Vögel folgte, und später Island, gewagte Fahrten über schwarze barsche Meere, weit vom Lande, aber an Nahrung fehlte es einem geduldigen Fischer nie, breitmäulige Dorsche in der Tiefe, und einsam war er auch nicht, im Gegenteil, große Walfamilien lebten in den Strömungen und auf den Schären tausend und aber tausend Seevögel. Sehr wohltuend waren hin und wieder Vogeleier und ein Feuer auf einer vollkommen öden Insel, hinterher ein Schlaf im Grase und ein Einzelgesang im Morgenrot; mit Wohlbehagen rieb er sich die Hände und bestieg sein Boot, um das Meer, das alte, unter sich schreiten zu fühlen und sich von neuem der Gewalt der Wogen zu übergeben.
Von Island kam er nach Grönland, meist durch Zufall und nicht ohne Meernot und Entbehrungen, indem ein Sturm ihn auf das Meer hinaustrug und schließlich an einer kalten Küste landete. Er lag ohnmächtig im Boot, als er auf Land trieb; auf dem tiefen Meer hatte er nichts fangen können, und er hatte keinen Regen bekommen, der, auf dem Boden des Bootes gesammelt, sonst sein Trunk gewesen war; das Meer war in hohen Wogen gegangen, ewige Nacht war um ihn her, Eisberge türmten sich auf, sein Boot war wie ein ausgehöhlter Span im Rachen des Meeres. Er hatte die Gefahr in einem Dämmerzustand überstanden und war an der Küste Grönlands wieder zum Bewußtsein gekommen, wurde ein Walroßjäger und kleidete sich mit den Fellen des Eisbären, verlor sich in den unendlichen Fjorden und Einöden, blieb Menschenalter dort, kam nördlicher und immer nördlicher, hielt seinen Winterschlaf im Schnee, fand schließlich nur noch Treibholz für sein einsames Feuer, das aber studierte er genau und schloß davon auf westliches Land; und er kam hinüber, zu den nördlichsten kalten Inseln auf der anderen Seite.
So war er denn drüben, zog nach Süden, die Küste entlang, Fjord ein und Fjord aus, viele Alter, viele Küsten, bis er wieder zu milderen Himmelsstrichen kam; noch weiter nach Süden, bis er zur Wärme gelangte, und dort schüttelte der Alte sich und ließ die Zeit vergehen, nährte sich von Fischen und Einsamkeit zwischen lieblichen Inseln, kostete den fliegenden Fisch, der aus eigenem Antrieb zu ihm ins Boot kam, und fand ihn gut; und hier stieß er endlich auf Menschen und vermied ihre Gesellschaft nicht.
Das war auf dem Festlande, in der großen Bucht, mit all den Inseln im Ozean; von der Küste gelangte er auf das Hochland, wo ein großes Volk wohnte und sich um den feuerspeienden Berg Popocatepetl gesammelt hatte, der gleichzeitig das Symbol ihres Ursprunges, des Feuerspenders und ihres größten Feindes, war. Ihnen schloß er sich an, hatte nicht die Küste der Toten, wohl aber Sterbliche gefunden, deren Leben in Blindheit ihn zum Bleiben bewegte, vielleicht konnte er ihr Schicksal mildern. Und da trat er, ohne sein Zutun, in die Reihe ihrer Götter und beschützte sie, solange sie selbst das Ihrige dazu beitrugen, gegen diejenigen ihrer Götter, die schlimmer waren als er.
Das erste, was er für sie tat, war, sie aus der Abhängigkeit zu befreien, in der sie zum Feuerberge standen. Denn sie waren ja noch nicht weiter als das Urvolk in dem verlorenen Land, von dem sie abstammten, das am Berge Gunung Api gewohnt hatte; sie kannten den Gebrauch des Feuers, konnten es aber nicht selbst hervorbringen, mußten es auf dem Berge holen oder durch Blitz und Waldbrand gewinnen, wenn es ausgegangen war. Norne-Gast lehrte sie das heilige Bohrfeuer, die große Erwerbung und das Eigentum des Gletschervolkes, eine geringe Kunst, wenn man sich darauf verstand, für das arme Volk aber von einer Bedeutung, die fast nicht zu ermessen war.
Kein Wunder, daß sie, bei ihrem Mangel an Einsicht, den Fremden mit dem Himmel in Verbindung brachten und ihn für den Sohn der Sonne hielten, ja, für die Sonne selbst, als sie ihn das erstemal Feuer aus zwei Stücken Holz zaubern sahen.
Das schwächte natürlich die Stellung der hohen grimmigen Feuermächte, in deren Nähe man wohnte, und von deren Schrecken man die Vorstellung der Götter abgeleitet hatte, den Blitzgott Tezcatlipoca und den blutigen Kriegsgott Vitzliputzli, dem man Menschenherzen opferte. – Quetzalcoatl zeigte Unzufriedenheit bei Nennung ihrer Namen und wollte von Opfern, wie man sie ihnen zu bringen gewohnt war, durchaus nichts wissen. Es entstand eine Art Wettstreit zwischen den Göttern, bei dem das Volk Zeuge und auf seiten von Quetzalcoatl war. Doch wurde die Entscheidung aufs unbestimmte verschoben, als Quetzalcoatl plötzlich abreiste.
Außer der Kunst des Feuers lehrte Norne-Gast sie den Ackerbau. In diesen Ländern wuchs Mais, eine sehr gute Kornsorte; die Eingeborenen aber verstanden nicht, sie zu bauen, sie sammelten sie nur von den wilden Pflanzen, machten tagelange Streifzüge, um einige Handvoll davon zu erlangen; Norne-Gast lehrte sie pflanzen, machte ein Loch in die Erde, wie einen Mund, und legte ein Korn hinein, gab der Erde Nahrung und forderte die Menschen auf zu beachten, was die Erde stattdessen geben würde. Es war eine lange Wartezeit, die meisten vergaßen ganz, um was es sich gehandelt hatte, als aber die Pflanze wuchs und Norne-Gast den Versuch genügend oft wiederholt hatte, da wurde einigen doch der Zusammenhang klar; kleine Maisgärten vor dem Dorfe erfreuten Norne-Gasts Augen und waren ihm Beweis dafür, daß die Eingeborenen die Kunst zu geben, um zu empfangen, gelernt hatten. Daß die armen Wilden ein gutes Herz hatten, bewiesen sie dadurch, daß sie ihm für diesen kleinen Dienst eine grenzenlose Dankbarkeit und Anbetung weihten, indem sie seinen Stuhl auf eine Unterlage stellten, damit er höher sitzen sollte als andere. Nach und nach rückte er immer höher, schließlich führten mehrere Stufen zu ihm herauf.
Auch in der Bearbeitung von Flintstein lehrte er sie wichtige Dinge und empfing ihren allzu großen Dank. Als Zimmermeister hatten sie geradezu abergläubische Vorstellungen von ihm. Auch die Anfangsgründe der Verwendung von Metall lehrte er sie. Tiere, die sich zähmen ließen, aber hatte das Land nicht. Doch lehrte er sie Vögel halten und sich an ihnen erfreuen. So unbegrenzte Fertigkeiten trauten sie Quetzalcoatl zu, daß manche Dinge, die sie später selbst hervorbrachten oder zu denen sie sich entwickelten, ihm als Verdienst angerechnet wurden, Baukunst, Staatsordnung, Kalender, Kanalbau, alles Erwerbungen, die lange nach Quetzalcoatls Zeit kamen; aber man meinte, daß alle segensreichen Dinge von dem weißen Gott stammten. Selbst die Kinder hatten ihre besten Spiele von ihm gelernt. Nicht das Volk an der Küste allein, sondern auch mehrere Stämme im Inland und weiter südlich an der Küste besaßen Überlieferungen von einem Lehrmeister und Wohltäter, der ihnen die ersten Anweisungen zu einem besseren Dasein gegeben hatte und dann wieder zu seiner Heimat auf der Sonne oder dem Morgenstern zurückgekehrt war. Von so tief unten betrachteten sie einen gewöhnlichen Menschen.
Als Quetzalcoatl noch bei ihnen war, taten sie alles für ihn, opferten ihm Blumen und Früchte, webten ihm wunderbare Stoffe aus Kolibrifedern, machten ihm Sonnen aus rohem Gold zum Schmuck seines Tempels, ihm zum Bilde, brachten ihm jegliche Ehrenbezeugung dar, nur keine Blutopfer, die ihm zuwider waren. Ganz konnte man sie nicht abschaffen, Vitzliputzli forderte seine Nahrung und bekam sie; für ihre Kriege und Menschenschlachterei aber zeigte Quetzalcoatl keine Teilnahme, im Gegenteil, er wandte sich ab oder hielt sich die Ohren zu, wenn in seiner Gegenwart davon die Rede war.
Um lebende Opfer nicht ganz unversucht zu lassen, brachte man ihm Frauen, Scharen von den ausgesuchtesten Schönjungfrauen des Landes, die für Vitzliputzli geschlachtet und deren Herz dem Gott noch heiß und klopfend überreicht werden sollten, während Vitzliputzlis Priester den Rest, die kindlich süßen Glieder, hätten verzehren wollen.
Quetzalcoatl hieß sie zu sich kommen, stallte sie ein und ließ sie wie sein Eigentum verpflegen. Wahrlich, sterben sollten sie nicht, im Gegenteil, das Leben sollten sie kosten. Er ließ seine Augen auf ihnen ruhen und fand sie schön, braune Knospen, mit Augen wie Tropennächte, ein Glühwürmchen auf dem Grunde, Glieder wie Honig. Nein, sie sollten nicht verschmäht werden, ein Unrecht, das keine Frau verdient. Aber ihre Freude am Leben und an ihm, der Sonne, der sie geweiht waren, hatte keine rechte Art, sie wagten ihre Blicke kaum zum Großvater zu erheben und schienen in ihrer Nacktheit mitten in der Wärme seiner Strahlen zu frieren.
Als er sie für reif befand, gab er ihnen darum junge Männer ihres eigenen Jahrganges, und ho, ho, wie sie plötzlich strahlten, jetzt schienen ihre Gesichter kleine Sonnen geworden zu sein!
Seitdem warfen die jungen Leute Quetzalcoatl Kußhände zu, wie früher der Sonne, und als er nicht mehr unter ihnen war, küßte man in alle Winde, damit die Küsse auf diesem Wege zu ihm kommen sollten.
Der Alte aber hatte Erinnerungen, die ihn für immer einsam machten.
Mit der Zeit bauten diese Leute, die so viel Götterverehrung in sich hatten, mehr und mehr Stufen zu ihm hinauf, um ihrem Abstandsgefühl Ausdruck zu geben, bald saß er hoch oben auf der Spitze einer Pyramide, und schließlich wurde es ihm doch etwas einsam dort oben.
Und die Zeit kam, wo Norne-Gast Heimweh spürte. Die, die er in seinem Herzen trug und mit sich durch die Welt führte, waren tot, und das Land, wo sie hingekommen, würde er wohl erst spät finden. Droben aber, in nördlichen Tälern, wohnte ein Volk von Bauern, deren Stammvater er war; es verlangte ihn danach, wieder unter Vogelbeerbäumen zu gehen und jungen Burschen auf den Landstraßen zu begegnen, die einen alten Fremden gesittet grüßten, und in deren Zügen er sehen konnte, daß sie Blut in sich hatten von ihr, die ihm einst vor vielen Menschenaltern so teuer gewesen war.
Groß war die Bestürzung in Tenochtitlan, als Quetzalcoatl verkündete, daß er fort müsse, und tief die Trauer derjenigen, die ihm das Geleite zur Küste gaben. Doch sie verstanden, daß er sich zurücksehnte nach seiner lichten Heimat im Osten, jenseits des Meeres. Und er versprach ihnen, daß er zurückkehren wolle!
Ja, den Trost gab Quetzalcoatl ihnen; wenn er nicht selbst käme, dann würden andere seiner Art kommen; sie sollten nicht verzagen, wenn auch lange Zeit vergehen würde.
Damit bestieg Quetzalcoatl seine alte geprüfte Eiche, armselig für einen Gott, aber umso wunderbarer, daß er damit die Meere überschreiten konnte, verabschiedete seine Priesterschaft und tauchte das Ruder ein; sie sahen seinen Rücken, während er meerwärts paddelte, lange, behutsame Bewegungen. Ach, liebevoll sogar gegen die Wellen, dachten die Zurückbleibenden mit tränengeblendetem Blick; sie sollten Quetzalcoatl nie wiedersehen.
Und Norne-Gast ruderte den ungeheuer langen Weg, den er gekommen, wieder zurück.
Die Priesterschaft in Tenochtitlan aber errichtete Bilder von ihm aus Stein, man sah seine krumme Nase, seinen Bart und die Federn auf seinem Kopf, von Symbolen als Lichtbringer umgeben.
Die Zeit verging, und er wurde zu einer Mythe. Die Anbetung von Vitzliputzli überschattete ihn bald wieder, mit all ihrem Grauen; um so stärker aber lebte die Vorstellung in den Geschlechtern, daß der weiße Gott einst wiederkehren werde.