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Noch einmal waren die Eichen gealtert, seitdem der Jäger am Fluß gewohnt, da ließ ein neuer Einsiedler sich dort nieder. Er war namenlos wie der Jäger, bekam aber einen Zunamen, unter dem er später der ganzen Welt bekannt wurde, Christophorus, der den Herrgott trug. Er stammte aus dem Gotischen und hatte seine Heimat einst zur Zeit der Völkerwanderung verlassen, um sich in die Welt zu begeben wie so viele andere, die von Norden nach Süden zogen; ihm aber ward es bestimmt, sich auf einer Zwischenstation aufzuhalten und zu wirken.
Von Geburt war Christophorus eine ungewöhnliche Erscheinung, groß über alles Maß und so stark, daß er seine Kräfte nie bis auf den Grund erprobt hatte. Aber fromm war er, und das war ein Glück, sonst hätte er viel Schaden anrichten können. Keiner hatte ihn je zornig gesehen, weil keiner sich erdreistete, ihn zu necken. Auch als er noch bei Bauern diente, wurde er nie erbittert, wenn die Kreatur störrisch war; wurden die Ochsen wild, hielt er sie einfach mit den bloßen Fäusten nieder, bis sie wieder zur Vernunft kamen, und waren die Stierkälber aufsässig und wollten nicht im Zaumzeug gehen, trug er sie auf seinen Armen nach Hause. Man sagte, daß er langsam sei; ein Bursche mit solch gewaltigen Gliedern aber bewegt sich nicht so hastig wie die kleinen Leute, er hatte keine Eile, denn er schaffte doch immer mehr als andere.
Anfangs, als er aus dem Walde kam, war er natürlich ganz dumm und mußte alles von Grund auf lernen, aus der Schüssel essen wie andere Leute, und den Löffel heil aus dem Munde ziehen, wenn er ihn hineingesteckt hatte; mehr als einmal aber brauchte man es ihm nicht zu zeigen.
An Urteilskraft fehlte es ihm nicht, er dachte über seine Lage nach und wußte, was sich für ihn paßte. Darum blieb er nicht lange auf dem Hof, wo er in Dienst war. Sein Herr, ein gewöhnlicher braver Bauer, ließ ihn unbebautes Land roden, und er riß Bäume mit der Wurzel aus, einen in jeder Hand, und klopfte die Erde davon ab, indem er sie gegeneinander schlug; schleppte Steine, so groß wie Häuser; wäre er dabei geblieben, so hätte er ein ganzes Herzogtum gerodet.
Dem Riesen aber erschien es sonderbar, daß er einem Wicht dienen sollte, war es nicht passender umgekehrt? Gelegentlich forschte er, ob der Bauer einen Herrn über sich hatte, und erfuhr, daß der gute Mann willig war, sich vor mehreren zu beugen, Leuten, die er seine Götter nannte, Odin, Thor und noch verschiedenen, von denen einige sogar Frauenzimmer waren. Der Riese wußte, daß kleine oder mittelgroße Leute sich gern mehr Ansehen geben, indem sie auf mächtige Bundesgenossen Hinweisen, die irgendwo stecken sollen, Wesen, die indessen für das bloße Auge unsichtbar sind. Das wollte dem Riesen nicht in den Kopf. Er glaubte nicht an Geister, war noch keinem begegnet, weder bei Tag noch bei Nacht. Als ihn einst etwas stach, glaubte er, es sei ein Geist, als er es aber zwischen den Fingern gefangen hatte, war es eine ganz gewöhnliche Schafzecke. Der Riese glaubte ausschließlich an seine eigene Kraft. Sollte er darum jemandem dienen, mußte es einer sein, der stärker war als er.
Außer von Göttern sprach der Bauer auch mit Ehrerbietung von dem König, dem mächtigsten Bauern und wirklich eine lebendige Person, kein zweifelhaftes Ding in der Luft; nach reiflicher Überlegung nahm der Riese darum Dienst beim König. Indessen war er noch nicht lange dort gewesen, als er erfuhr, daß es größere Könige in anderen Reichen gäbe, und so ging es zu, daß der Riese ins Ausland reiste, denn er wollte nur einem dienen, der nichts und niemand in der Welt fürchtete.
Aus der Legende von Christophorus, die die ganze Christenheit kennt, weiß man, daß er den mächtigsten aller Könige verließ, weil dieser sich einst bekreuzigte, als der Name des Teufels genannt wurde. Christophorus fragte ihn, warum er mit den Fingern durch die Luft schriebe, und erfuhr, daß er den Teufel fürchtete; gleich nahm der Riese seinen Abschied und begab sich beim Bösen in Dienst.
Als aber der Fürst der Dunkelheit einst Furcht vor dem Kreuze verriet, indem er einen Umweg davor machte, und auf die Frage des Christophorus, warum er zwei gekreuzten Hölzern aus dem Wege ginge, bekennen mußte, daß er ihn, dessen Wahrzeichen das Kreuz sei, fürchte, da sah der Riese ein, daß der Herr des Kreuzes der Stärkere sei, und zog aus, ihn zu suchen.
Wie ein jeder weiß, der die Legende kennt, fand er das Reich Gottes nicht sogleich im buchstäblichen Sinn, wie er es erwartet hatte. Von einem Eremiten, den er um Rat fragte, wurde er belehrt, wie er dem mächtigsten aller Herren bis auf weiteres durch Taten wohlgefällig sein könne. Allgemeine christliche Übungen wies der Riese ab, er wollte weder fasten noch wachen, und Gebete kamen nicht in seinen Mund, da er von Natur schweigsam war. Ein tüchtiges, handfestes Stück Arbeit aber wollte er wohl übernehmen, wenn er dem Herrgott dadurch wohlgefallen konnte. Und da wies der Eremit ihm eine passende Arbeit an. Er solle Reisende über den großen Fluß setzen, der schwer zu passieren war; da es einer von den Regierungsplänen dieses Herrn sei, Menschen einander nahzubringen, könne ein starker Mann sich hier nützlich machen. Und so ging es zu, daß der Riese sich an dem Fluß niederließ und Fährmann wurde.
Christophorus hatte nun eine Stellung übernommen, die ihm gefiel. Obgleich er den Herrn, dem er diente, nicht sehen konnte, noch wußte, wo er war, was er bedauerte, traute er dem Mann Gottes, der da sagte, er existiere, und verrichtete die Arbeit gern, die er in seinem Namen tat. Sie war genügend schwer und erschien ihm auch nützlich. Auch kämpfte er nicht mit dem großen Fluß, wie sonst mit Heeren und Männern in Waffen, denn Krieg war ihm stets zuwider gewesen. Da er seiner Natur nach nicht von Mitmenschen beleidigt werden konnte, hatte er den Grund ihrer gegenseitigen Feindschaft nie begreifen können, es sei denn, daß sie in ihrer Schwäche beruhte. Alle Welt ging mit scharfen und spitzen Gerätschaften herum, er seinerseits begnügte sich mit einer Stange, um sich streitsüchtige Menschen vom Leibe zu halten, wenn sie ihrer viele waren; es hatte ihm nie Vergnügen bereitet, die Körper selbst böser Menschen zu durchlöchern und zu zerstückeln.
Die Elemente zu überwinden aber sagte seiner Natur zu; nicht bei einer einzelnen auffallenden Gelegenheit, sondern jeden Tag, in der Stille, der Sache selbst wegen. So fremd unhandgreifliche Dinge, Wettkämpfe und viele Worte seiner Natur waren, so zuwider war ihm auch Berühmtheit. Bei wem sollte er in Gunst stehen? Er wanderte, wenn er ein Ziel hatte, zog aber Ruhe vor; es tat ihm wohl, daß er einen Ort gefunden hatte, wo er seine Arbeit verrichten konnte, während die Welt Tag für Tag, Jahr für Jahr an ihm vorbeizog.
Der Fluß reiste beständig, kam in einem großen Bogen aus dem Walde vom Hochland herunter und schwang sich breit und mächtig durch die Wälder auf der anderen Seite, dem Tiefland und dem Meere zu. Strom und Wogen kämpften in ihm wie eine Herde wilder Ochsen; Mahlströme und große, blanke Wasserflächen, die den Himmel und die unendlichen Wälder spiegelten, wanderten still um Landzungen herum; der Flußadler schwebte über den Wirbeln und stürzte sich wie ein Lot auf den Lachs herab, der wie ein Blitz in die Tiefe schoß.
Im Frühling, zur Tauwetterzeit, schwoll der Fluß durch den Schnee der fernen Berge und überschwemmte die Wälder, wälzte sich dick, voller Lehm und gründen Eis, das von den Gletschern herabgestürzt war, mit losgerissenen Bäumen, die aus den überschwemmten Wäldern kamen. Dann war er schwer zu befahren, und Christophorus hatte alle Kraft nötig, wenn er mit einem einzelnen Reisenden auf dem Rücken hinüberwatete oder mehrere mit dem Fährboot übersetzte.
Die Fähre war ein großes, plump gezimmertes Boot oder Floß, das der Riese selbst gebaut hatte, mit Haltbarkeit vor Augen, ein häßlicheres Fahrzeug gab es nicht, es sah aus, als ob der Riese es mit Hilfe der Zähne gezimmert hätte, und so war es auch. Die Stange, die er benutzte, war ebenso schmucklos, ein Baum, von dem er die Äste abgenagt hatte. Beide Dinge aber erfüllten ihren Zweck. Christophorus pflegte die Fähre vor sich herzuschieben, während er selbst durch den Fluß watete, und wenn Eisblöcke oder Baume auf die Fähre zutrieben, stieß er sie mit seiner Stange fort.
Während der trächtige Fluß beständig auf Reisen war und Leute, Fischer und Kaufleute, flußaufwärts und flußabwärts trug, wurde er in gleichem Maße von einem unendlichen Strom von Menschen gekreuzt, die hinüber wollten, denn die Fährstelle lag just an einem Punkt des Flusses, wo die großen Landstraßen sich trafen, auf denen die Völkerwanderung sich seit Jahrhunderten bewegt hatte, auf dem Wege von Norden nach Süden; zuerst waren die Kundschafter gekommen, in längst entschwundenen Zeiten, und vereinzelte verstreute Scharen, dann Stämme und ganze Heere auf einmal. Es war ein Kreuzweg der Zeit, wo der Gang der Natur sich mit dem der Menschheit traf und sie aneinander vorbeizogen.
Fluß reiste und Volk reiste, Christophorus aber blieb an der Fährstelle wohnen und setzte die Reisenden über. Sein Wohnort wurde ihm teuer; verstand er auch nicht das Sinnbild im Zeichen des Kreuzes, so lebte und wirkte er auf seine Weise mitten darin, an dem Kreuz, das die Natur einerseits mit unerschöpflichen Quellen und die Menschheit andererseits mit dem Strom der Völkerwanderung in die Wirklichkeit gezeichnet hatte.
Während er hier im Namen eines Gottes, den er nicht kannte, wohnte, half er dem halben Norden über den Fluß, einem Zug Bauern nach dem andern auf ihrer Reise nach dem Süden. Sie kamen in Familien und zu ganzen Geschlechtern, häufig die Bevölkerung eines ganzen Landes, die mit Haus und Vieh aufgebrochen war, Alte und Junge, Frauen und Kinder, jedes hatte seine Verantwortung zu tragen, ebenso wie die Ameisen, von rohen Kriegern, die sich nach einem Mord wie nach einem Spaß räusperten und die blutige Schwertschneide durch zwei Finger zogen, bis zu kleinen Mädchen mit jungen Hunden im Arm, die ihnen anvertraut waren. Sie kamen, der eine Schwarm, die eine Flußwoge nach der anderen, wie sie auch hießen oder später genannt wurden, wenn sie weiter südlich Reiche gestiftet und berühmt geworden waren, allesamt große rote Bauern wie Christophorus selbst, vom selben Blut, dieselben behaarten und sommersprossigen Leute mit meerblauen Augen, ob sie nun von den dichten Inlandswäldern, den Flußniederungen an der Ostsee oder von den langen barschen Küsten der Nordsee kamen, und alle hatten dasselbe Reiseziel, das so viele andere auf dem Seeweg zu Schiff in die Welt getrieben hatte – diese reisten über Land, weil auch dieser Weg probiert werden mußte – sie verließen die kalten Moraste der Heimat, um Sagenländer und Sonne im Süden zu finden.