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Einst, im eisernen Zeitalter, verirrte sich ein Jäger im Walde und geriet bei der Verfolgung des Wildes in eine Gegend, wo er noch nie gewesen war.
Als er den Hirsch schließlich erlegt hatte und auf ihm saß, um sich zu ruhen, noch zornig wegen der Anstrengung, die die Jagd ihn gekostet hatte, fiel es ihm auf, wieviel größer und mächtiger die Bäume hier waren als in anderen ihm bekannten Gegenden, lauter hochstämmige, luftige Bäume, und Teppiche von Kräutern auf dem Boden, kein Gebüsch oder Sumpf, wie andernorts; der Platz lag höher als das umliegende Terrain, mit den großen Bäumen wie eine Kuppel das Dach des Waldes überragend; es war wie eine Dingstätte, wo die Riesen des Waldes sich versammelt hatten, um Rat zu halten.
Hoch, hoch oben schlossen die gewaltigen schlanken Stämme ihre Kronen zusammen und bildeten ein weites Laubzelt, das den Himmel, nicht aber das Licht ausschloß, grüne, kühle und klangvolle Hallen, in denen es so hellhörig war, daß vereinzeltes Vogelgezwitscher mit wahrem Getöse widerhallte, als ob der Ton hier von selbst anschwelle. Der geringste Laut wurde viele Male unter der Laubwölbung wiederholt: Echo, die Stimme der Einsamkeit; wahrlich, hier war es einsam.
Es war viele Meilen tief im Walde; von dem erhöhten Platz unter den Bäumen hatte man Ausblick über unendliche schweigende Waldstrecken, bald dichte Waldungen und bald Lichtungen, die Wasserläufe und Seen umschlossen, und wieder Wald und Wald, soweit das Auge reichte, nach drei Seiten; nach der vierten aber hatte man Ausblick zu einem großen Fluß, der sich mit einer meilenweiten Bucht auf den Fuß der Anhöhe zuschwang, als ob er dort etwas auszurichten habe; es war ein breiter, reißender Fluß mit einem tiefen Strombett, der forteilte und unterwegs auf seinem Wasserspiegel Wirbel schrieb; zu beiden Seiten war er von unberührten Bäumen eingefaßt; nur hin und wieder zeigte eine Öffnung im Fluß Ufergebüsch, wo die Tiere ihre uralten Trinkstellen hatten. Er kam durch den Wald von fernen Gegenden, wo blaue Profile Berge anzeigten, und floß durch das Flachland auf den gegenüberliegenden Horizont zu. Die geübten Augen des Jägers erspähten Fischadler über den Stromwirbeln; wenn man hier wohnte, konnte man sich zur Abwechslung nach der Jagd mit einer Angelschnur gute Tage machen.
Unterhalb der Bäume in einer Vertiefung wuchs meterhohes Unkraut, dort war eine verborgene Quelle; der Jäger drückt den Rücken seiner Hand in das nasse Moos, bis seine hohle Hand sich mit Wasser gefüllt hat, und stillt seinen Durst; darauf kehrt er zu dem erlegten Hirsch zurück, schneidet erst seine Pfeile heraus und beginnt dann, das Messer bald in der Hand, bald zwischen den Zähnen, dem großen, schweren Tier das Fell abzuziehen. Darauf zerlegt er den Körper und hängt die Stücke am nächsten Baum auf. Den Stirnknochen und das Geweih haut er heraus und setzt sie auf einen Ast: für die Geister des Ortes. Dann richtet er sich auf und trocknet seine talgblanken Hände hinten an der Hose, öffnet einen Lederbeutel und nimmt ein Feuerzeug heraus: mit Daumen und Zeigefinger hält er ein Ende Zunder über den Flintstein, fährt mit dem Stahl über den scharfen Rand, Funken springen zwischen seinen Händen hervor, klarer noch als der Tag, ein glühender Punkt im Zunder beginnt zu rauchen, er kniet nieder, bläst vorsichtig in die Glut, rafft mit der einen Hand trockenes Laub zusammen und beugt sich tief zur Erde herab, Rauch umwogt seinen Kopf, er macht ein Nest aus seinen Händen und atmet darauf, bis er sich schließlich erhebt und die Flamme im selben Augenblick aus dem Laubboden leckt. Kurz darauf hat er Feuer. Dann spitzt er einen Stab mit dem Messer und brät die Niere darauf über dem Feuer, ißt und kaut, geht zur Quelle und schlürft Wasser, alles schweigend, was nicht zu verwundern, da er ganz allein ist.
In der Nähe, in einem Baum, war ein ausgestorbenes Astloch und dort wohnte ein Star; hin und wieder kam er aus seiner Tür, flog davon und kam nach einiger Zeit mit Regenwürmern im Schnabel zurück, indem er in gestrecktem Flug geradeswegs in das Loch hineinflog, wie ein Pfeil, der von weither aufs Ziel gerichtet ist; und wenn er verschwunden war, klang aus der Höhlung des Baumes ein leises, ersticktes Piepsen.
Die Augen des Jägers wandern hin und her, während er zerstreut ißt, große Bissen auf einmal herunterschluckt; der Wald lebt um ihn herum, wie er ihn kennt, er ist eins mit ihm, sieht das Eichhörnchen über die steile Rinde eines Baumes schlüpfen, mit ausgebreiteten Gliedern und abstehendem Schwanz, es verschwindet hinter dem Stamm, kommt wieder zum Vorschein, eine Gaffel höher, er verfolgt halb unbewußt das kleine, flinke Wesen, bis es oben im Laub verschwindet und andere Dinge seine Aufmerksamkeit fangen. Der Wald geht seinen Gang, wie ein großer, ruhiger Betrieb, wo jeder seine Arbeit tut, fern voneinander und schweigend. In der Ferne, wie hinter vielen Türen, hört man den Specht, der auf einen abgestorbenen, klangvollen Ast hackt; hoch oben aus den Geheimkammern der sonnigen Kronen, aus dem grünen, wonnigen Licht dort oben, kommt das volle Girren der Waldtauben, eine Mutter ist bis an die Kehle mit Glück gefüllt. Der Fink schreit hin und wieder, ein übergroßer Laut von solch kleinem Tier, und weckt Widerhall im Walde, er hat ein Nest und ist froh wie ein Hengst, obgleich er so klein ist, daß der geringste Zweig ihn tragen kann. Die Fliegen summen und werden wild, schwirren in heftigen Kreisen durch die Mittagshitze, eine fällt auf ein Blatt und zappelt auf dem Rücken, total betrunken, die Sonne macht die Geschöpfe verwirrt.
Ein Raubvogelschrei klingt über den Baumwipfeln; unten im Walde unter den Büschen schnuppert es, und der Jäger duckt sich, hört auf zu kauen: es ist eine Dachsmutter, die mitten am Tage mit zwei halbwüchsigen Jungen unterwegs ist, gestreift im Gesicht und mit mächtig breitem Körper; sie gibt den Jungen Unterricht, kehrt die Erde mit der Pfote um und beschnüffelt sie, und die Jungen tun wie sie. Der Jäger beginnt wieder zu kauen; es ist ja nicht die Jahreszeit, mag sie ihren Balg bis auf später behalten.
Als der Jäger seine Mahlzeit beendet hat, sieht er zum Himmel auf und schätzt die Tageszeit, etwas über Mittag, dunstige Leitern gehen von den Baumwipfeln steil bis zu den Schatten hinunter, der Wald ist sehr still, nur hitziges Fliegengesumm und ein Bussardschrei über den Wipfeln. Der Jäger gähnt und verzerrt die Kiefern, schüttelt den Kopf, seit dem Morgengrauen und den ganzen langen Vormittag ist er der Spur gefolgt, fast ununterbrochen im Galopp, wer weiß, wo er jetzt ist. Und nun muß er den ganzen langen Weg zurück. Aber das Essen und der starke Geruch des Feuers haben ihn schläfrig gemacht, er gähnt wieder, erschauert und legt sich nieder, um im Grase neben dem Feuer zu ruhen.
Als er erwachte, war es spät.
Der Wald hatte sich mit Dämmerung gefüllt, sie ging von der Wurzel der Bäume ganz bis zu den Kronen hinauf, die noch von der Sonne durchleuchtet wurden. Ein leiser Wind hatte sich aufgemacht, das Laub dort oben bewegte sich und schüttelte blaue Himmelsblitze und grünes, rotes und gelbes Licht durcheinander; im Westen zeigte ein Purpurschein hinter den Stämmen, wie tief die Sonne stand. Andere Vögel als vorhin ließen sich hören, sie hatten die höchsten Zweige aufgesucht, von wo sie ihre langen, gleichsam fragenden Flötentöne mit dem schwindenden Tageslicht vermengten. Unten auf dem Boden des Waldes war es dunkel und still.
Der Jäger wußte, daß er mit einer großen Last Fleisch viele Meilen durch weglosen Wald gehen mußte, bevor er zu bewohnten Gegenden kam; er hatte sich verschlafen und erkannte besorgt, daß er die Nacht draußen verbringen müsse. Rasch entschloß er sich zu bleiben, wo er war, anstatt irgendwo im feuchten Wald zu übernachten, und sah sich gleich, während es noch hell genug war, unter den großen Bäumen nach einer bequemen Gabelung zwischen den Zweigen um, wo er die Nacht in Sicherheit verbringen konnte, wenn auch an Schlaf nicht zu denken sein würde. Als er sich eine gemerkt hatte, legte er mehr Reisig aufs Feuer und richtete sich für die Nacht ein, doch war er unruhig. Er schleppte schwere Windfälle herbei, schwitzte und machte Lärm, versuchte sogar zu singen, hielt aber wieder inne. Auf dem verblassenden Himmel trat der Tagmond hervor und begann Kraft zu gewinnen, er schlug die Augen vor ihm nieder, der Himmel war über ihm, er konnte sich nicht vor ihm verstecken.
Und der Wald wurde so seltsam düster und starr, während die Sonne unterging, kalter Hauch ging davon aus und machte den Jäger trotz der Nähe des Feuers erschauern, denn im Windzug war ein Wesen, das ihn bis ins Mark traf. Die Luft verdichtet sich zu allerhand stummen Dingen, die sich darin sammeln; das Feuer und die Dunkelheit vermehren sich gegenseitig, je mehr das Feuer leuchtet, desto schwärzer wird der Wald; bald befindet der Jäger sich wie in einer Höhle von Licht, in dessen Schein nur die nächsten Baumstämme stehen und glotzen, draußen ist schwarzes Dunkel, die alte, böse Nacht.
Er blickt in die Höhe, und seine Seele bekommt einen Stoß, denn dort sind die Sterne, es ist, als ob er sich mitten in einer ungeheuren Höhle mit Sternenwänden befindet; die bekannten Bilder breiten sich über seinem Kopf, der große Bär schwingt sich um seine eigene Länge, der Orion braust in den Himmel, das Siebengestirn flackert im Ewigkeitswind, indem es seine Sterne bald zeigt, bald in Lichtnebel hüllt, und hoch, hoch oben die Milchstraße mit ihrer schwindelnden Seele; stumm und strahlend wie immer sind die Sterne, mit einem unerträglichen Blick, der Himmel ist voller Sehkraft, alle Sterne blitzen, stumm und allwissend, und der Raum spricht dunkelblau in tiefstem Ernst; furchtbar ist der Sternenhimmel, und der Jäger beugt den Nacken, schüttelt sich und reibt die feuchten Hände, er ist ja nur ein armer Jäger.
Seine Augen fallen von dem einen Wunder auf das andere, auf die Welt des Feuers, mit dem aber ist er vertraut, er blickt hinein und blinzelt geblendet, es tut ihm wohl wie eine Liebkosung; das Feuer leckt und schickt eine Flamme in die Höhe, es ist sein Freund. Und ohne zu überlegen, holt er die Eingeweide des Hirsches und wirft sie ins Feuer. Fast wird es von den feuchten Gedärmen erstickt, es verdunkelt sich und keucht, um Luft zu bekommen, bald aber schlagen die Flammen von allen Seiten über die Eingeweide zusammen und nähren sich davon, das Feuer pufft seltsam und gibt fette Rauchschwaden von sich, läuft vielfarbig über die eingeschrumpfte Haut, bevor die Flamme eine Stelle findet, wo sie sich festbeißen kann.
Lange und lebhaft qualmt das Feuer, knallt leise, sengt und flackert und genießt, und lange sitzt der Jäger in tiefen Gedanken, vom Feuer und dem, was darin vorgeht, geblendet, denn er ahnt eine Unendlichkeit darin, vor der er sich in der Tiefe seines Herzens demütigt.
Da hört er Schritte. Er greift nach seinem langen Bogen aus Eschenholz, erhebt sich und richtet auf die Dunkelheit ein furchtbares Gesicht, das gleichzeitig Schrecken und Herausforderung ausdrückt, – die Schritte verstummen, und jetzt hört er einen Klagelaut, ganz nah, wie das Entsetzen selber, er fährt furchtbar zusammen und spannt mit Gebrüll den Bogen in der ganzen Länge des Pfeiles, wieder der klagende Laut, noch furchtsamer, und da fällt sein Blick plötzlich auf eine Gestalt, die in den Lichtkreis des Feuers geglitten ist, eine Erscheinung, die wie aus nichts entstanden ist, ein Mensch, ein Weib; als sie begreift, daß er sie erblickt hat, setzt sie sich nieder und bleibt auf ihren Knien im Grase liegen. Der große Pfeil mit der Eisenspitze würde, aus solcher Nähe abgeschossen, durch einen Ochsen hindurchgehen, und sie erwartet ihn; der Jäger aber atmet heftig durch die Nase, nimmt Bogen und Pfeil ruhig in die linke Hand und tritt auf sie zu, von einem namenlosen Schreck erlöst. Sie rollt auf den Rücken, als er sich nähert, streckt alle Viere von sich, entblößt ihren Leib, um sich einzuschmeicheln und bellt mit Anstrengung wie unter einem bösen Traum, piepst kläglich, denn sie kann ja weder fliehen noch sich verteidigen.
Es war ein ganz junges Weib, das sich wahrscheinlich auch im Walde verirrt hatte und dem Schein des Feuers gefolgt war. Sie kannten sich nicht, sie war aus einem anderen Stamm als er, und redegewandt war sie nicht; doch bedurfte es auch nicht vieler Worte, damit sie sich einig wurden; nach einer Weile saß das fremde Mädchen sehr vertraulich und ernsthaft am Feuer und bereitete Hirschfleisch zum Nachtmahl.
Es war gut, daß sie sich begegneten. Wenn man sich verirrt hat und die Nacht draußen zubringen muß, ist es ein Unglück, wenn man allein ist. Jetzt, wo sie zu zweit sind, schenkt der Jäger dem Sternenhimmel nur einen flüchtigen Blick und bemerkt, daß die Nacht sternenklar ist. Man kehrt allen Dingen den Rücken, ausgenommen dem Feuer und dem Spieß, ißt gründlich zu Abend und denkt an die Nachtruhe.
In der Nacht ist der Wald von jeher der Ort der Verbannten gewesen, die Eule schreit in einem hohlen Baum, daß es durch den Wald gellt und einem durch Mark und Bein geht, obgleich man weiß, daß es nur eine Eule ist. Grau, Grau, sagt es mit einem schnatternden Laut über den Baumwipfeln, und pfeifende Flügelschläge lassen sich hören, anschwellend und schon im nächsten Augenblick wieder abnehmend, Wildenten, oder etwas viel, viel Schlimmeres. Warum kriecht es einem sonst so kalt über den Rücken?
Ein häßliches weißes Licht beginnt über den Baumwipfeln zu spuken, das ist der Mond, der Tote im Himmel. Fern zwischen den Waldhügeln gellt und antwortet es von unbekannten Unwesen; ein krummer Ast auf einem Baum in der Nähe brütet wie ein schwarzer, verzerrter Drache gegen den Nachthimmel, jede sichtbare Form kriecht zusammen und ist ein großer gehörnter Unhold.
Unleidlich ist der Luftzug aus dem dunklen Wald, den man im Nacken fühlt, große, weitgeöffnete Augen scheinen einen von hinten anzustarren. Für zwei kleine Menschenkinder, die kalt von Tau und schwermütig geworden sind, ist es jetzt Zeit, sich um den Hals zu fassen und zu verstecken. Das taten die beiden, sie legten sich nieder und zogen das frische Hirschfell ganz über den Kopf, die rauhe Seite nach außen, damit alle Zauberei sich darin verfangen konnte. Sie befanden sich in ihrer eigenen warmen Dunkelheit und versanken darin, während das Feuer niederbrannte und der Mond über die Baumgipfel und den schwebenden Nachthimmel heraufstieg, den er noch vor Tagesanbruch überschritten haben mußte.
Der Fink und ein luftiger Chor von Saatkrähen in den hohen Bäumen weckte sie, das Licht, der Tag, ein herrlicher Frühlingsmorgen, die hohen, leuchtenden Bäume streckten grüne Arme zu ihnen herunter. Sie richtete sich auf und schüttelte sich das Hirschfell vom Kopf, auf der Stelle wach, und stieß einen Freudenschrei aus.
Als aber der Jäger die Augen aufschlug, sah er geradeswegs in ein Wunder hinein, in den Sonnenaufgang, der sich an der Wurzel des Waldes zwischen den Bäumen wie eine mächtige Lichtrose abzeichnete und Laub, Himmel und Sonne zu einem Strahlenring von Grün, Blau und Purpur verschmolz, die ganze Welt war in Farben aufgelöst! Wie ein Meer von Blut hatte er die Sonne am Abend auf der anderen Seite des Waldes untergehen sehen, eine farbige Feuerrose auch damals. Der Eindruck verband sich für immer mit einem Erwachen, einem Dämmern in der rauhen Jägerseele, sie erfaßte, welche Gabe die Nacht ihr gegeben hatte, und zugleich wurde etwas Unfaßbares in sie hineinversenkt, eine Glorie von grenzenlosen Träumen, die er einst gehabt und deren er sich nicht mehr erinnern konnte, der Abglanz eines andern Daseins, das ihm nahgewesen – wie versteinert, mitten in einer Bewegung, von einem Gedanken erfaßt, der alles andere in ihm zum Stillstehen bringt, sieht er in die Morgenröte, ja, sein Atem stockt, so ergriffen ist er von einer inneren Welt, die er sich dennoch nicht klarmachen kann, von einer verlorenen Erinnerung.
Die beiden, die die Nacht vereinigt hatte, blieben zusammen. Keiner von ihnen kehrte mehr den Weg zurück, den er gekommen; sie ließen sich wie eine freie Jägerfamilie mitten in den freundlichen Wäldern nieder, und der Sommer wurde ihnen leicht. Keiner von ihnen kannte die Zeit.
Den Winter über machten sie es sich in einem Erdhaus gemütlich, ohne ein einziges Mal menschliche Gesellschaft zu entbehren. Der Wald war ihnen an Freundes statt, sie liebten den Hain mit den hohen, freundlichen Bäumen, weil sie sich dort gefunden hatten. Sie hatte keine andere Welt als ihn, und er hatte seine eigene.
Einmal im Laufe des Sommers sah der Jäger viele Schiffe auf dem Fluß, lange schwarze Fahrzeuge mit vielen Rudern, die sich alle auf einmal wie ein Gewebe bewegten; langsam kämpften sie sich stromaufwärts, waren einen ganzen Tag sichtbar, bevor sie bei einer Biegung des Flusses, nicht fern von den Bergen, verschwanden; langschaftige Äxte standen hochaufgerichtet hinten auf den Schiffen, wie Klapperschlangen, die den Hals streckten, um zu beißen, und das taktfeste hölzerne Geklapper der Ruder war zu hören, während die Mannschaft hartnäckig, Stunde um Stunde, sich gegen den Strom aufwärtsarbeitete. Sie kamen von dem unteren Lauf des Flusses, wahrscheinlich vom Meere, und wohin führte ihr Weg sie? Der Jäger sah sie nie zurückkehren.
Es kam auch vor, daß er Menschen auf der anderen Seite des Flusses sah, Leute, die aus dem Wald kamen und die Augen mit der Hand vor der Südsonne beschatteten, da sie aber an dieser Stelle nicht über den Fluß kommen konnten, zogen sie sich wieder in den Wald zurück, um andere Wege zu suchen.
Mit Ausnahme dieser Zeichen einer Welt draußen lebten der Jäger und sein Weib ungestört auf dem einsamen Waldhügel am Fluß.
Bereits im Spätsommer machten sich unverkennbare Anzeichen bemerkbar, daß das junge Mädchen Mutter werden sollte. In ihrem stillen Sinn meinte sie, es sei vom Himbeeressen gekommen. Sie hatten sich beide im Walde an Himbeeren gütlich getan, und sie war ganz dick davon geworden. Da das neue Wesen sich zur selben Zeit zuerst bemerkbar gemacht hatte, lag die Annahme nah, es rühre daher. Sie bekam das Kind mitten im Winter und wickelte es in Ziegenleder ein, um es gegen die Kälte zu schützen.
Es war ein kleines, warmes, hellrotes und feuchtes Ding, das gleich nach der Geburt Vogeltöne von sich gab; kleine Fäuste hatte es und Nägel wie Knospen auf den Zehen, winzig kleine Ohrkringel und neugeborenes Haar wie Sonnenschein, Augen wie der diesige blaue Himmel und einen kummervollen Mund, der sofort suchte und suchte und an der Mutterbrust seinen Platz fand.
Ein häßliches Unwetter war durch die niedrige Erdwohnung gegangen, wo die Mutter geschrien hatte, als ob ein unbekanntes grauenvolles Tier drinnen sei; jetzt aber war es wieder still geworden, der Laut des kleinen Knaben klang wie Vogelsang in der ersten warmen Frühlingsnacht, wenn große Stürme, die das Eis von den Küsten losreißen und große Bäume im Walde stürzen, ausgerast haben.
Und das erste, was er von der Welt zu sehen bekam, war der Frühling. Sie trug ihn zum ersten Mal hinaus, als die Bäume ausgesprungen waren, und zeigte in sprachlosem Glück seine blauen Augen dem Himmel und sein Haar der Sonne und seine Hände dem neugeborenen Laub auf den grünen seligen Buchen.
Ohne Zweifel war es ein hervorragender, prächtiger Junge, ein kleiner Gott, ein Sohn des Himmels, der Sonne und des Waldes, den die über alle Maßen glückliche Mutter zur Welt gebracht hatte.
Der Jäger aber, der Vater geworden war, fühlte sich beglückt durch seine Freundin und sein Frühlingskind.
Sie setzt sich im Freien nieder, als es warm geworden war, auf dem Hügel unter den großen Bäumen, die wie stille grüne Feuer in der Maisonne flammen, an derselben Stelle, wo sie ihn vor einem Jahr getroffen, und im Arm hält sie ihren durstigen Sohn, der bei der Arbeit des Trinkens stöhnt und dem die Milch, wenn er sie nicht mehr schlucken kann, in zwei Strahlen aus der Nase läuft. Einfach steif vor Überernährung liegt er auf den Knien seiner Mutter, die nackten dicken Füße mit zehn rosenroten Zehen zeigen in zwei Himmelsrichtungen. Und wenn er überläuft und die Milch ihn fast erstickt, hebt seine Mutter ihn unter Gelächter bewundernd hoch in die Luft und schüttelt ihn, bis die Nahrung sich gesetzt hat und Platz für mehr geworden ist. Süß duften die beiden, und lieblich duftet das noch feuchte Laub der hohen, lichten Buchen. Und mit dem Kind im Arm und einem Traum von Glück auf ihrem glühenden Gesicht folgt die Mutter dem Star, dem schwarzen, glänzenden Vogel, der in dem hohlen Baum ein- und ausfliegt, mit Würmern im Schnabel für sein Nest mit Jungen.
Wenn der Jäger nicht im Walde oder am Flusse ist, um für den Unterhalt der Familie zu sorgen, ist er zu Hause, emsig beschäftigt, ein neues, richtiges Haus zu bauen. Er zimmert und schnitzt und beginnt immer wieder von vorn, denn es schwebt ihm etwas ganz Besonderes und Sinnreiches vor, ein sprechendes Haus, mit Bildern auf den Pfosten, die seine Freude offenbaren und wie ein kostbarer Schrein die Mutter und ihren kleinen Gott umschließen sollen.
Oben auf dem Hügel zwischen den Bäumen hatte der Jäger eine heimliche Andachtstelle, nur einen Haufen Steine, auf denen er Feuer für die Mächte anzündete, wenn er ihnen ihren Jagdanteil gab, dort schlachtete er und hing die Tiere in den Bäumen auf, so gehörte es sich. Dort legte er auch einen Bissen für den Dachs bereit, der seine Höhle in der Anhöhe hatte und kein gewöhnlicher Dachs war, er wohnte im Grunde unter einem, man mußte sich gut mit ihm stellen. Und dort hielt der Jäger zur Sonnwendzeit Andacht für die Mächte, wenn er und sie ganz allein waren, er opferte zu Ehren der Wiederkehr aller Dinge, ging sachte hin und her und bewegte die Lippen zum Gebet, starke Worte an die Mächte richtend, die er zu gewinnen suchte, wenn sie auch nicht gutmütig waren. Ganz aufrichtig ist das Verhältnis nie zu Mächten, die so viel stärker sind.
In der letzten Zeit aber wandte er sich nicht mehr so oft an sie im Freien, er war zu sehr in Anspruch genommen von seinem Haus, von dem, was es ausschließen und was es an Herrlichkeit und Vollkommenheit wie eine kleine verbesserte Welt umschließen sollte.
Aus dem Jäger wurde mehr und mehr ein Zimmermann. Er arbeitet und baut den ganzen langen Sommer, und im Winter grübelt er über seine Bilder und formt sie in Holz, bisweilen ist er so vertieft in seine Visionen, daß er seine Teuren lange betrachtet, ohne sie zu sehen.
Immer aber sind die beiden um ihn und nähren seine Arbeit, er hört ihre Stimmen und er hört die Quelle in der Nähe und Vogelsang in den Bäumen, wie gleichlautende Musik, während seine Gedanken fruchtbar arbeiten und formen. Er hört die Mutter singen, ein wortloses Girren, das aus dem Herzen kommt und das sie von den Waldtauben gelernt hat. Sie steckt die Kinderfüße in den Mund und tut, als ob sie sie essen wollte, und der Junge lacht, lacht, daß es in der kleinen Brust gluckst. Sie ruft ihn mit zärtlichen Namen, die sie selbst erfindet, mein Bruchstück, sagt sie, tief gerührt, mein allerherzigstes Schlüsselbein, mein süßer, süßer Spatz. Und das kleine Wunder beginnt sich selbst eine Sprache zu bilden von den Wundern der Welt, nach denen es verlangend die Händchen ausstreckt, vereinzelte stammelnde Ausdrücke, die den Stamm zu einer ganz neuen Sprache im Walde bilden.
Und wenn die Mutter das Wunder angekleidet hat, setzt sie es auf ihre Knie, wie auf ein Vorgebirge, damit die Welt den Jungen sehen kann, und er die Welt, und sie macht aus ihren lieben großen Mädchenhänden eine Festung um sein wehrloses Leben. Und alle Blumen im Grase richten sich auf ihren Stengeln auf, um den Platz zu schmücken, wo die beiden sitzen, die Bäume senken Wohlgeruch auf sie herab, die Vögel schwingen sich auf die äußersten Zweige und krähen im Triumphchor über diese Kindheit im Walde. Die Mutter selbst singt Freudenlieder, ohne Worte, Lobgesänge, die ihr aus der Kehle sprudeln und im Walde widerhallen wie eine verzauberte Quelle, eine Quelle mit einer Mädchenstimme. Sie ist voller Liebe und Lachen.
Und warme Lobgesänge und viel Freude tönt aus dem Haus des Jägers, als es endlich fertig ist und er die beiden darin untergebracht hat. Es ist, als ob das Haus Töne von sich gäbe, es steht im Walde und singt, das ganze Haus tönt von dem Glück wider, das es in seinem Inneren birgt.
Es war ein Holzhaus mit aufrechtstehenden Balken, wie Palisaden, sehr solide, worauf es vor allen Dingen ankam, aber auch üppig geschmückt, und jede Einzelheit hatte ihre Bedeutung. Von den hohen Giebeln gähnten Drachen in vier Himmelsrichtungen, und darüber noch wieder vier andere, denn auf dem Dach über dem Rauchloch ritt ein hohes, schlankes Kastell und darauf wieder stand ein Turm mit einer Stange, die in den Himmel ragte, und dort oben krähte der Hahn immer gegen den Wind an, nach dem er sich drehte; er gab gut acht dort oben in den Luftregionen, der erste Schimmer des Sonnenaufgangs beschien seinen Kamm. Die Drachen auf dem Dache sollten natürlich böse Geister vom Hause fernhalten; außerdem lagen Gehirnschalen von Hirschen und anderem Wild auf dem grasbelegten Dach, sie sollten abschrecken und waren zugleich eine gute Jagderinnerung. Über der Eingangstür aber hing das Geweih des ersten Hirsches, den der Jäger auf dieser Stelle erlegt, war er doch der Eingang zu dem Glück, das ihn hergeführt hatte.
Die Tür war an dem einen Ende des Hauses, dessen Grundplan ein Oval war, und die Türpfosten ragten weit über den Dachfirst hinaus; es waren zwei schlanke Stämme, durch die zwei Eichen zugrunde gegangen, aber zu einer höheren Rangordnung auferstanden waren, mit dem schönsten Schnitzwerk von Eichenlaub, das oben mit einer stilisierten Eichel endete.
Das Äußere des Hauses sollte wie ein Sinnbild der Nacht sein, Schreck und Verteidigung. Die vier Ecksteine, die das Haus trugen, waren vier zusammengeduckte Unholde, die hier sehr gegen ihren Willen gefesselt waren, um sich nützlich zu machen. Die Drachen aber waren das Grauen der Allnatur, die alles Entsetzen in sich aufgenommen hatte. Aus der Ferne gesehen, wirkte das Haus wirklich wie eine häßliche Schlangenwohnung, aus der die ganze Schlangenbrut ihre Köpfe raubgierig reckte; es war eine kräftige Außenseite für die Nacht, denn Böses muß mit Bösem vertrieben werden.
Inwendig aber stellte das Haus die Esche Ygdrasils dar. Es war eine Stube, die Bedeutung der Schnitzereien und Verzierungen wurde den Augen nicht gleich klar, und dennoch war der ganze Wald und Ygdrasils Bildersprache darin vertreten. In der Mitte der Stube erhob sich die große Säule, die den ganzen Bau trug und deren äußerste Spitze den Turm bildete, es war ein Mastbaum, eine alte Tanne, ganz gerade von Wuchs, aber mehrmals um sich selbst gedreht, als ob sie sich im Wachsen nach einem Himmelskörper umgesehen habe; sie stellte den Stamm des Weltbaumes dar; die Schnitzereien unter der Decke und ringsherum an den Wänden seine Krone und die Verzweigungen.
Man befand sich wie in einem verwandelten Wald, Laubwerk unten und oben, und zwischen den verschlungenen Zweigen ging der Hirsch mit seiner verzweigten Krone, die sich mit der Krone des Baumes vereinte, man wußte kaum, was Baum und was Tier war. Hoch oben im Wipfel des Weltbaumes saß der Adler, der weitblickende, und zwischen seinen Brauen ein Habicht, Raubvogel mit Raubvogel gekrönt; das Eichhörnchen ließ sich zwischen den Zweigen sehen, wie das Schiffchen im Webstuhl, Ratatosk, das mit Neuigkeiten an Ygdrasils Esche herauf– und herabläuft, zwischen dem Adler und Nidhug, dem Drachen der Zeit, der Ygdrasils Wurzel benagt. Der Mimisbrunnen war abgebildet, mit Odins Auge, das er als Pfand für einen Weisheitstrunk gab; der Brunnen Urds und die Nornen, die Wasser und Schlamm aus der Quelle schöpfen, um den Weltbaum an Wurzel und Gipfel von seinen Schäden zu heilen. Blickte man wieder nach oben, hatte man den Regenbogen und große Sternbilder über sich, die ewigen Bilder des Himmels, und wiederum Laubwerk, ganze geflochtene Zelte, wo die Blätter Vögel waren und die Vögel Blätter. In der Mitte der Decke aber, wo das Windauge war, fiel das Licht herein, der Tag dämmerte durch das Rauchloch; Licht von oben und Rauch und Feuerschein von unten begegneten sich; der Tag oben wechselte mit der Tageszeit, verblaßte und glühte von neuem über der Stube auf, wie eine farbige, lichtvolle und verschleierte Glorie.
So war das Bildhaus, das der Jäger und Zimmermann errichtet hatte, um seine Seele an das zurückzugeben, was sie hervorgebracht hatte.
Das meiste war noch in der Anlage, nicht überall so ausgeführt, wie er es vor seinem inneren Auge gesehen hatte, weit entfernt, es gab Arbeit genug für kommende Jahre, – und bereits dämmerte ein ganz neuer Entwurf in seinem Kopf, alles von vorn, in einem erweiterten und noch viel beredteren Stil!
Da geschieht es, daß der Jäger wieder eines Tages ein Wild verfolgt, das sich nicht greifen lassen will und das ihn weiter und weiter entführt, bis er schließlich nicht mehr weiß, wo er sich befindet.
Verfolgung und Lauf erhitzen ihn so über alle Maßen, daß er nicht mehr Mensch, sondern nur noch Leidenschaft ist; in seiner Erregung denkt er nicht mehr, und nichts kann ihm Einhalt tun, bevor er den Hirsch müde gelaufen und erlegt hat. Er ist ein Jäger, der niemals duldete, daß ein Wild ihm überlegen war, weder an Ausdauer, Schlauheit noch Kraft.
Es schien aber ein ganz ungewöhnlich starker Hirsch zu sein. Der Jäger war es gewohnt, daß die Hirsche schneller waren als er, zu Anfang natürlich viel geschwinder, nicht aber auf die Dauer, sie liefen sich müde, bevor er erschöpft war, verschwendeten ihre Kraft durch Angst und immer wiederkehrenden Sturmgalopp, während er ihrer Spur in einem ruhigen Dauerlauf folgte. Der Augenblick mußte kommen, und wenn es Tage dauern würde, da das Wild sich nicht mehr erheben konnte, wenn er sich ihm mit dem Jagdmesser näherte. Dieser Hirsch aber zeigte gar keine Müdigkeitssymptome, jedesmal, wenn er ihn aufscheuchte, setzte er in demselben flüchtigen Galopp davon, schien noch gewachsen zu sein und schwebte von neuem wie auf Luft im voraus, ein mächtiger Kronhirsch mit Zacken auf dem Kopf, die ihn mehr zu tragen als zu beschweren schienen. Und da der Jäger die Verfolgung nicht aufgab, er war noch nie ohne Beute nach Hause gekommen, so schwebte der Hirsch voran, und der Jäger hinterdrein, als ob er nie etwas anderes getan hätte und sich in Ewigkeit nie etwas anderes vornehmen würde.
Nachts schlief er auf der Erde, ohne Feuer, den Kopf auf den Armen, sprachlos vor Anstrengung, und jeden Morgen erwachte er weniger ausgeruht und nahm von neuem die Spur auf, bis er den Hirsch aufgespürt hatte und ihn den ganzen Tag verfolgte.
Und der Wald war seltsam, wahrend er so lief. Es war Sommer, als die Jagd begann, bevor er es sich aber recht versah, standen die Bäume kahl da und ihn fror, und wiederum waren die Wälder grün, und ihm wurde zu warm, und das wiederholte sich, er wußte selbst nicht wie oft; doch achtete er dessen nicht.
Endlich aber stand der Hirsch. Es war zur Nachtzeit, denn jetzt verfolgte der Jäger ihn auch, wenn es dunkel war, er konnte sich ja nicht mehr verbergen, denn es war kein Wald mehr da, sie waren zu unbewachsenem Land außerhalb der bewohnten Welt gelangt, zu düsteren, öden Ebenen, wo man überall die Knochen toter Tiere auf der Erde schimmern sah, ganze Hügel von Knochen; offenbar war hier die Stelle, wo Tiere sich hinbegaben, um einsam zu sterben. Darüberhin schwebte der Hirsch, jetzt sah man deutlich, daß er die Erde bei der Flucht gar nicht berührte. Der Jäger selbst aber hatte das Gefühl, als ob er sich in der Luft befand und nicht mehr lief, sondern sich durch innere Seelenkraft vorwärtsbewegte.
Die Ebene der toten Tiere endete mit einem steilen Felsenabhang, und unterhalb dieses Felsenabhanges gähnte der leere Raum, das reine schwarze Nichts, der Abgrund oder die Heimat der Nacht, genug, weiter konnte man nicht kommen. Am äußersten Rande des Abhanges aber stand der Hirsch und zeichnete sich in seiner ganzen Größe mit erhobenem Geweih vom Himmel ab, wie ein Berg anzusehen, – jetzt konnte ein Pfeil ihn treffen, und der Jäger knirschte mit den Zähnen und schoß ihn ab.
Während der Pfeil noch durch die Luft saust, sieht er, wie der Hirsch sich von der Erde hebt und zu Feuer wird, er galoppiert himmelwärts in Blitz und Flammen, und indem er sich höher und höher schwingt, nimmt er an Leuchtkraft ab, wird zu einer Gruppe Feuerpunkte, dreht sich um sich selbst herum und bleibt an der Himmelswölbung stehen!
Und da sah der Jäger, daß er nicht nach einem Hirsch, sondern nach einem Sternbild geschossen hatte. Es war ihm wohlbekannt, bei seinem Anblick fühlte er sich wieder Kind, aber wie kalt wurde ihm auch dabei! Der Sternenhimmel drehte sich über ihm wie ein entsetzliches Rad, und ein Luftstrahl der Ewigkeit traf ihn bis ins Mark. Er begriff, daß er bis ans Ende der Welt gelangt sei und nichts Geringeres gejagt hatte als die Zeit. Da wurde er sterbensfeige.
Die Jägerleidenschaft war verraucht, er mußte an Mutter und Kind denken, machte kehrt und begann zu wandern, um nach Hause zu gelangen.
Hundert Jahre waren vergangen, als er schließlich zurückkehrte. Leichtfüßig und mit fliegendem Pfeil, der seiner Sehnsucht vorauseilte, war er fortgegangen; mit einem Stab in der Hand, schwankend wie ein alter Mann, kam er zurück.
Er fand die Stelle wieder, wo sein Haus gestanden hatte, aber vieles, vieles war verändert. Wohl waren es noch dieselben Hügel, der Wald aber war ein anderer geworden; von den Bäumen, die er gekannt, waren nur mürbe Stümpfe oder gar nichts übriggeblieben, und neue, die ehemals junge Stengel im Unterholz gewesen, waren alte Bäume geworden. Es war ein anderer Wald, in dem er ein Fremder geworden war.
Die Quelle war ausgetrocknet, eine Vertiefung am Hügelhang zeigte noch, wo sie gewesen war, aber sie hatte kein Wasser mehr, das war schon lange verronnen. Von dem Hause mit den geschnitzten Pfosten, wo die zwei ihr Nest gehabt hatten und von dessen Giebel die Fabeltiere krähten, war keine Spur mehr übrig, nur eine kleine grasbewachsene Anhöhe, wie ein Grab, bezeichnete noch die Stelle. Es herrschte Stille im Walde, die hohen, fremden Bäume reckten sich mit starren Ästen in den Winternebel.
Der alte Mann setzte sich auf das Grab seines Hauses nieder und scharrte welkes Laub zu einem Lager zusammen. Aber das Nest war kalt. Er fand kleine Kohlenstücke im Gras, Reste eines entschwundenen Herdfeuers, sie waren kalt vom Reif und taten seinen Händen weh. Der Wald hatte seine Seele verloren, beherbergte nicht einmal mehr Furcht, denn was sollte er jetzt noch fürchten, nur die Einsamkeit.
Der Jäger war alt geworden, aber seine Sehnsucht nach den Verlorenen war so groß, so nah waren sie ihm, obgleich er sie nie, nie wiedersehen sollte, daß er nicht sterben konnte. Die Sehnsucht konnte nicht sterben, denn sie war das einzige, das ihm geblieben war, sie war stärker als die Zeit und wollte Form haben.
Er baute sich eine Hütte im Walde, und als er soviel Schutz hatte, wie ein alter, einsamer Mensch bedarf, begann er mit seinen Händen durch die Luft zu formen und sich mit seinen Visionen vertraut zu machen, ein Bild sollte es werden, ein Bild wollte er schnitzen von den beiden, so wie sie beständig in seiner Seele lebten. Und um sie herum als Mittelpunkt begann er in Gedanken ein Haus zu bauen für die Ewigkeit, es sollte das Leben und die Zeit darstellen, und den Wald und die Tiere und die Sonne und die Unterwelt, alles, was war, und alles, was er besessen und verloren und noch in der Erinnerung besaß. Solch wunderbares Haus wollte er bauen, und darin sollten Mutter und Kind wohnen, im Bilde wieder erstanden und unsterblich gemacht.
Mit den beiden wollte er zuerst beginnen, sie sollten als zwei Seelen in einer Form erstehen, er stellte sie sich vor, wie er sie zusammen unter den Bäumen hatte sitzen sehen, die Mutter hielt ihren kleinen Sohn vor sich auf den Knien, um ihn dem ganzen Wald zu zeigen, man sollte sehen, wie sein Haar das Gold von der Sonne entliehen hatte und wie die alten Bäume ihre Äste ganz tief vor ihm neigten.
Ach, als er fertig war, stand da ein Zimmerstock, der die Spuren von Werkzeug und viel Mühe trug; wohl konnte man ein Menschenbild darin erkennen, doch waren es weder die beiden, wie er sie vor sich sah, noch das Bild, wie er es sich gedacht hatte. Er mußte ganz von vorn anfangen. Vorerst aber stellte er das Bild in seiner Hütte auf und stärkte seine Seele daran, in Erinnerung an die Nievergessenen und in der Hoffnung, daß das richtige Bild vollendet würde, von dem dieses nur eine geringe Vorarbeit war.
Häufig kniete er davor, wie er vor der jungen Mutter und ihrem Kind im Grase gekniet hatte, er sang ihm etwas vor, während der Wald mächtig über seiner Hütte brauste, wie er den beiden etwas vorgesungen, wenn das Waldsausen über sie hingegangen war und sie demütig gemacht hatte.
Als es Frühling wurde, trug er das Bild ins Freie und spielte ihm etwas vor auf einer Flöte von Baumrinde, es klang wie die Laute eines neugeborenen Kindes im Wald. Und die Tiere, mit denen der ehemalige Jäger Frieden geschlossen hatte, kamen witternd näher und stellten sich dicht neben dem Einsiedler auf, um zu lauschen.
An einem Frühlingstag, als er unter den Buchen zu Ehren seiner Erinnerungen gespielt hatte und in Verzückung geraten war, fielen ihm die Augen zu.
Die Alten schlafen leicht und kurz. Der eine Schlaf aber ist ebenso lang wie der andere. Der alte Jäger nickte ein; es mochte ein Augenblick oder tausend Jahre gewesen sein. Und während dieser verzückten Abwesenheit war sein Wesen in die Zeit übergegangen.