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Auf dem Ozean

Vom 9. August bis zum 6. September, fast einen ganzen Monat, wurden sie auf den Kanarischen Inseln aufgehalten: Pinta hatte ein Steuer verloren, ein heimlicher Gaunerstreich der beiden Herren, denen das Schiff gehörte und die mit an Bord waren, aber zurückgelassen zu werden wünschten, – also bis zum letzten Verräterei und Verspätungen, tiefere Einblicke in die Menschennatur! Der Schaden aber wurde ausgebessert, und mit Verlust eines Monats brach man wieder auf, jetzt mit westlichem Kurs, auf das offene Meer zu, wo noch kein Mensch je gefahren war.

Teneriffa war im Ausbruch in diesem Jahr, und als Kolumbus in der Nacht zwischen dem 23. und 24. August vorbeifuhr, bekam die Besatzung der Santa Maria ein Himmelsbild zu sehen, das ihr das Mark aus den Knochen sog, der ganze Himmel war voll blutroten Feuers, der riesige Kegel im Meer von oben bis unten von seiner eigenen Flamme erleuchtet. Vom Gipfel, der von Feueradern gesprengt war, wälzten sich Rauch und glühende Steine, Lavaströme von den Abhängen des Berges herab. Das Deck des Schiffes war taghell beleuchtet, meilenweit um den Berg herum war die Nacht verjagt, stand aber wie eine pechschwarze Wand ringsum am Horizont. Durch den Rauch zuckten Blitze, tiefes Dröhnen erklang, als ob es aus dem Untergrund des Meeres käme. Die Seeleute bekamen einen Vorgeschmack vom Ende der Welt; und wenn der Eindruck auch durch andere verdrängt wurde, so blieb er ihnen doch im Körper sitzen und machte sie nicht widerstandsfähiger für die Reise.

Auch der Aufenthalt auf den Kanarischen Inseln war nicht abhärtender Natur gewesen; mannigfache Verweichlichung, Eigenwillen, der auf den zauberhaften Inseln großgezogen war, mußte mit dem Tauende wieder herausgeprügelt werden, bevor einfache Matrosenarbeit schmeckte. Diego, der mit Wesen von eigenartig eingeborenem Reiz in Berührung gekommen war, mit einigen der Guanchen, die noch unvermischt auf den Inseln lebten, hatte seinem Charakter eine neue Einwirkung zugeführt, neben den vielen anderen, die bereits zur Bildung desselben beigetragen hatten. Während der ersten Tage an Bord war er fremd, störrisch, schien an Erinnerungen zu tragen, die nur zur Hälfte die seinen waren, die andere Hälfte war zurückgeblieben, denn Diego beschattete die Brauen mit der Hand und starrte zu Teneriffas Kegel hinüber, bis er in einem Schleier verschwamm, wie eine Frau, die ihr Gesicht mit ihrem Haar verhüllt; den ganzen Tag war er schweigsam und schwermütig.

Am nächsten Morgen aber, als Teneriffa nicht mehr zu sehen war, setzte er seine Kameraden dadurch in Erstaunen, daß er neue Lieder anstimmte mit eigenen wilden Melodien und Bruchstücken eines Textes, von dem er nur wenige Worte verstand, die süßesten; noch häufig kehrten sie ihm während der Reise wieder, wie ein Widerhall, der ihn wehmütig stimmte; und wenn Nina in der Nähe ihre weißen Umhänge auf dem Meere lüftete, die einzige Erinnerung an etwas Schwesterliches, schüttelte Diego den Kopf, tief zwischen den Knien vergraben – war er nicht der armseligste Mensch auf dem Meere?

Am 8. September bekamen sie steifen nordöstlichen Wind, der ihnen dienlich war und anhielt, jetzt wurde es ernst. Eines Morgens schauten sie sich um und sahen keine Spur von Land mehr, ringsum nur der öde Kreis des Meeres, und sie sahen sich an, das Herz sank ihnen in der Brust. Auf dem Kommandodeck aber geht der Admiral auf und ab mit einem Gesicht, das nicht mißzuverstehen ist, er hält sie in seiner Hand und will sie gebrauchen, bis zum letzten. Die Mannschaft ist verwirrt, sucht mit den Augen Hilfe bei den anderen Schiffen, die bald näher, bald ferner auftauchen und denselben Kurs halten, scharf nach Westen; von ihnen blickt man wieder zur Santa Maria zurück; diese drei kleinen Schiffe halten zusammen und leisten sich auf dem Ozean Gesellschaft, sonst nichts weiter als das furchtbare Meer …;

Am ersten Vormittag wird im geheimen geweint; wo man hinkommt, begegnet man Kameraden mit geröteten Augen; tief unten im Lastraum, wo man etwas holen soll, stößt man in der Dunkelheit auf einen Freund, der sein Gesicht abwendet. Auf dem Mast, wo man ein Segel richten soll, trifft man einen Kameraden, der in die Einsamkeit hinaufgeklettert ist und weint; der Koch in der Kombüse hat gerötete Augen. Das aber kann man dem Eisenmenschen dort oben achtern ansehen, daß es für ihn kein Umkehren gibt. Er macht seine Löwenwanderung, auf und nieder, auf und nieder, die Augen nach Westen gerichtet, diese bodenlosen meerblauen Augen – ist er vielleicht das Meer selbst? Er ist so ruhig, als ob er den Weg kennte, als wäre er auf dem Heimweg mit der Ladung Gutgläubiger, die er an Bord gelockt hat – ist es vielleicht der Tod selbst, mit dem sie segeln?

Santa Maria senkt und hebt sich in den langen, tiefen Wogen des Atlantischen Ozeans mit ihrem geschweiften Rumpf vorn und hinten hoch, wie eine Schaukel im Meer; das Holz ächzt, Takelung und Rahen schwanken, sie stampft sich aus dem grünen, durchsichtigen Wasser einen Kragen von weißem Gischt um den Bug; ein guter Segler ist sie nicht, aber sie hat günstigen Wind und kommt gut vorwärts.

Die plumpe, halb wie eine Festung gebaute Karavelle, ein Wort, das von Krabbe kommt, besteht aus einer Mischung derselben Elemente, die sie an Bord hat. Im Kern ein Wikingschiff, mit einem Großmast und einem großen Rahsegel, hundert Tonnen groß, wie ein mittlerer Schoner, übervoll mit der zweiundfünfzig Mann starken Besatzung. Höchstwahrscheinlich stammt sie von den Normannenflotten ab, die ins Mittelländische Meer eindrangen und der Schiffahrt ihre Spuren aufdrückten, Genua, Venedig – die Gondel! – auch in Spanien, hatte sie sich die Flüsse hinaufgebohrt, den Guadalquivir; im Mittelländischen Meer aber hatte man das »Latinersegel« hinzugefügt, achtern an einem Mast, und vorn hatte man der Karavelle noch einen Extramast mit einem kleinen Rahsegel gegeben, zur Stütze im Wind; über das große Rahsegel in der Mitte aber hatte man noch ein Topsegel gesetzt; so war es ein Schiff, das sich auf dem Wege von einem Typ zu einem neuen befand. Die Kastelle vorn und achtern waren Aufbaue, die man durch Erfahrungen aus Landkriegen übernommen hatte, schwimmende Türme. Die Ruder der Normannenschiffe waren verschwunden; dafür war Artillerie an Bord, kleine gegossene Kanonen, Falkaunen und Lombarden konnten donnern und von weitem Schaden anrichten. Die reichen Verzierungen am Holzwerk waren gotisch. Die Karavelle hatte das Mittelalter und das Mittelländische Meer an Bord, einen Führer von nordischer Abstammung, Seher, Wanderer und Fährmann, und eine Besatzung, die aus der mannigfaltigen Erbschaft und dunklen Glut im Blut zusammengesetzt war, die die Länder des Mittelländischen Meeres von allen Küsten und aus allen Zeiten zusammengetragen hatten.

Die Karavelle rollt in der See, ein schaukelnder, beschwerlicher Galopp, durch den sie sich selbst aufzuhalten scheint, aber sie ist zäh; so schaukelt sie den Tag lang, bis die rote Sonne, ein riesiges Zyklopenauge, sich selbst im Meer begräbt, einen blutigen Himmel und geronnene Wellen hinterlassend, so schaukelt sie durch den kurzen Abend in die Nacht hinein; man merkt, sie hat etwas auszurichten, sie will Tag und Nacht segeln, bis ihr Ziel erreicht ist!

Hinter ihr liegt nun das Europa, das sie verlassen hat, eine alte streitende Welt, Länder und Völker im Raub und Abhängigkeitsverhältnis aneinandergefesselt, das Europa der Päpste, Kaiser und Könige, das Europa der stattlichen Ritterschaft und der in Hütten und Dunkelheit begrabenen Bauern, der allmächtigen Bischöfe, Mönchsorden, Ketzerverbrennungen, des von einer oberen Macht vollständig geopferten Volkes. Das Europa des zunehmenden Lehnsadels, des eigenmächtigen Länderaustausches der Fürsten, ihrer Vermählungspolitik und Erbfolgekriege.

Im Innern von Europa aber glüht es wie in einem gärenden Mistbeet. Ein gewisser Doktor ambuliert in Deutschland mit seinen Künsten, Satan ist losgelassen! In demselben Jahre, in dem Kolumbus von Palos abfährt, lernt in Mansfeld ein neunjähriger Knabe, Martin Luther, das Christentum, und bekommt die Rute. Kopernikus ist neunzehn Jahre alt und trägt den Keim der Revolutionen in sich. Die Bauern Europas kommen in ihren elenden Wirtshäusern zusammen und lärmen wie Hunde, keiner achtet dessen, und doch soll mehr als ein Burgherr, der mit seinem Falken auf der Hand vorbeireitet, in seinem Harnisch von zusammengelaufenem Pack mit Knüppeln erschlagen werden.

Wie für die Ewigkeit gezimmert, ragt das damalige Europa aus der Erde, die Grundpfeiler scheinen bis in die Urfelsen eingerammt zu sein, doch ist es nur das Rückenschild einer alten Schildkröte, auf dem man gebaut hat, eines Tages wird sie sich in ihrem tausendjährigen Schlaf bewegen und ihren Schlangenkopf aus dem Schlamm stecken …;

Santa Maria war zu einem günstigen Zeitpunkt abgefahren, Europas Himmel hatte sich lange genug gehalten, jetzt war es Zeit, ein Loch hineinzubohren.

 

Was aber in Europa geschah, davon waren die Menschen, die sich auf dem Meere wie in einem Ring eingeschlossen fühlten, ausgeschlossen; vielleicht sollten sie die Alte Welt nie wiedersehen. Man würde nie erfahren, was aus ihnen geworden, nicht einmal der Nachruf Unglücklicher sollte ihnen zuteil werden, wie anderen Tapferen, sie würden nur verschwinden, und man würde bald vergessen, daß sie verschwunden waren.

So hart ist der Mann dort achtern; die Mannschaft kann nicht begreifen, daß er sich eines zweifelhaften Unternehmens wegen einem spurlosen, ruhmlosen Tod aussetzen will.

Während des zweiten und dritten Tages ist die Stimmung kummervoll; wenn man morgens an Deck kommt, sieht man den öden Ring des Meeres, nichts als die abscheulichen Wogen, und die Sonne schreitet nackt und schonungslos über den Himmel. Trostlos geht sie unter, fahles Meer nach allen Seiten, dann Finsternis, und laut knarrend arbeitet die Santa Maria und bohrt sich immer weiter nach Westen auf ihrem Weg zu der ungewissen Dunkelheit.

In der Nacht rollt Diego sich in einer Ecke des Decks zusammen, es ist zu heiß, um unten zu schlafen. Er drückt die Augen fest zu, beißt die Zähne zusammen, sein Inneres siedet, Schlaf unmöglich, Wachen unmöglich. Kurz darauf schläft er dennoch ein, seine Glieder zucken im Schlaf, er stöhnt bei den quälenden Träumen.

Hoch oben auf dem Achterdeck steht eine schwarze wachende Gestalt, der Admiral mit seinen ewigen Zirkeln, immer hat er irgendwelche Himmelskünste vor – braucht er denn gar keinen Schlaf? Tag und Nacht sieht man ihn auf dem Kommandodeck, schläft er denn nie? Er ist wohl gar kein Mensch?

Doch, der Admiral schläft, hin und wieder einen kurzen Augenblick, aber regelmäßig zu Bett geht er nicht. Das kann er nicht, denn er hat das Log im Kopf und darf den Überblick über die Strecken, die zurückgelegt werden, nicht verlieren. Er schläft nur ganz kurze, vorher bestimmte Augenblicke, und läßt sich dann wecken; auf diese Weise behält er ein Gefühl für die verstrichene Zeit in Verbindung mit der zurückgelegten Fahrt. Den Unterschied zwischen Tag und Nacht kennt er als alter Seemann übrigens gar nicht.

Auch auf dem Vorderkastell geht eine Gestalt, der Ausguckmann, der Wache hält, heute Nacht ist es der junge Pedro Gutierrez, er geht auf und ab und scheint ganz in den Mond vertieft zu fein, man hört ihn geistige Lieder singen; mag wohl ein Schwärmer sein.

Der junge Pedro ist als Freiwilliger mitgegangen, er ist der Sohn eines schönen Elternpaares, aber mittellos, und hat den Sirenentönen von plötzlichem Reichtum gelauscht auf dem Meer. An Bord hat er sich durch Unschuld und anmutiges Wesen bemerkbar gemacht und wäre eine leichte Beute für Spott geworden, wenn er sich nicht auch als unberechenbarer Fechter erwiesen hätte. Er war sehr schweigsam, dachte an andere Dinge als die übrigen, und schließlich ließ man ihn seine eigenen Wege gehen.

Heute nacht singt er, steht am Geländer und blickt übers Meer, wo der Mond im Begriff ist unterzugehen, gedankenvoll, mit feinen weichen Zügen, auch männlich, aber so schön, daß ein wunderliebliches junges Mädchen darin begraben zu sein scheint, die ferne Mutter. Er hebt sein Gesicht zum Sternenlicht empor, seufzt und singt:

Jetzt dunkeln die Klüfte des Meeres, der Mond neigt sich schief. Das kalte Meerschwein beschnüffelt die dünnen Planken des Schiffes. Eine Möwe prophezeit Böses für die Nacht mit traniger Rede. Die Wache aber muß achthaben, bis die Sonne wieder aufgeht.

Mariä Sternenmantel ist über den Himmel gebreitet. Beten und hoffen, mehr kann ein Seemann nicht. Wir können, wenn wir auch wollten, nicht in das Schicksal sehn – o gib, milde Mutter Gottes, daß wir wieder Land erblicken!

Mit vielen Abschiedstränen, mit mehr Reisemut, gelassen winkten wir ihnen, die wir verließen. Wo ist jetzt mein Vater, wo meine Braut? Mich schrecken des Meeres Gebärden. Muß ich so zeitig sterben?

Draußen in meines Vaters Garten wächst ein Apfelbaum, eine freudige Gottesgabe, ein lieblicher Vogelhort. Im Frühling, wenn Bienen summen, steht er mit Blüten geschmückt; wenn die Vögel verstummt sind, reicht er dir seine Frucht.

Dort hinter dem alten Deiche versteckten wir uns, wir beiden, mein allerliebstes Mädchen, dort versprachst du mir deine Treue. Ach, werde ich den teuren Baum je wiedersehn? Ach, Freundin, bist du dort im Schutze der grünen Zweige?

Hier grünen keine Zweige. Das Meer ist salzig wie Tränen. Das Geschöpf ist einsam in der Wogengewalt. Wer kennt das Ende des Meeres? Wohin führt die Reise? Wir sind in deinen Händen!

Nach den fernen Reichen des Glücks, den überall goldnen, sehnt sich der Jüngling, wenn er voll Hoffnung ist. Was aber ein Seemann leidet, das glaubt mir, ist grausam manchesmal, mir bleibt allein das Grab.

Jenseits von Meer und Flüssen liegt wohl das Paradies? – Barmherzige Mutter Gottes, bewahre uns vor Schiffbruch! Nach deiner Himmelswohnung trachten wir alle Mann – Gib Ruhe der Hundewache! Führ' uns zum Land zurück.

Es dauerte fünfunddreißig Tage, bevor sie Land sahen, eine lange Zeit für Leute mit solch wilden Nerven wie die meisten der Besatzung, für den unerschütterlichen Führer aber die längste Zeit seines Lebens. Wie zu erwarten, bereitete die Mannschaft ihm große Schwierigkeiten.

Die tiefe Mutlosigkeit der ersten Tage, nachdem man das Land aus den Augen verloren hatte, war bald in Aufsässigkeit übergegangen, man warf scheele Blicke, Kraftproben schienen in der Luft zu liegen, es würde sich zeigen, ob man einem Spanier alles bieten konnte; Augen, die sich bisher nur bis zum Deck oder höchstens bis zur Treppe erhoben hatten, richteten sich grimmig und herausfordernd auf den Admiral. Es kam zu einer Art Zusammenstoß, keinem offenen Krieg, nur einer Probe, die folgendermaßen ausfiel:

Die Besatzung sprach untereinander von nichts mehr als vom Umkehren; mit dem Admiral sprach man gar nicht, doch steuerte man schlecht. Häufiger und häufiger geschah es, daß der Rudergast Pech hatte und in den Wind kam, mit nördlichem Kurs. Wer am Ruder war, machte den Versuch, richtete die Augen starr auf den Admiral und fiel aus der Richtung – wie ungezogene Kinder, die versuchen, wie weit sie gehen können; sie wurden verbessert und der Kurs ward wieder aufgenommen, der Admiral schien gar nicht zu ahnen, was sie vorhatten, oder gab sich mit engelhafter Geduld den Anschein, als ob er es nicht verstünde.

Eines Morgens aber kam es zum Krach; gegen seine Gewohnheit hatte der Admiral sich auf kurze Zeit vom Kommandodeck zurückgezogen, und als er wieder heraufkam und sich umsah, war der Kurs weit nach Norden gelegt; wenige Sekunden später stand er persönlich am Steuer, legte seine Fäuste über die des Rudergastes und drehte das Schiff zu westlichem Kurs, drehte das Ruder mitsamt dem Mann, einem sehr handfesten Mann, dem trotzdem die Beine nachschleppten wie einer Puppe, als der Admiral ihn und Ruder und Schiff, das sich ganz auf die Seite legte und in dem neuen Kurs krängte, zur Seite fegte; – der Horizont tanzte eine viertel Drehung herum. Der Admiral schien das ganze Schiff hochgehoben und wieder an den richtigen Platz gestellt zu haben.

Und nachher war er nicht außer Atem, hatte nicht die Farbe gewechselt, war kaum böse, lächelte Sancho Ruiz, dem ersten Steuermann, nur ein wenig belustigt und unheilverkündend zu, weil er es hatte geschehen lassen.

Es kam nicht wieder vor. Der Rudergast betrachtete seine Hände, die ganz rot und geschwollen waren, und steckte sie in einen Eimer kaltes Wasser. Die übrige Besatzung begab sich mit blassen Lippen an die Arbeit. Wer hätte es geahnt, daß er so stark war! Daß er groß wie ein Stier war, konnte jeder sehen, aber daß er so gewandt war! Er war wie eine schwere Katze auf das Ruder gesprungen, man hatte ihn während des Sprunges kaum gesehen. Und diese großen sommersprossigen Tatzen mit den roten Borsten, ja, das waren Eisenzangen und keine Menschenhände!

Gesteuert wurde von da an tadellos. Die dunklen, glühenden Augen, die der Admiral auf sich gerichtet fühlte, wohin er sah, hatten etwas Leidendes, der Ingrimm aber versteckte sich vorläufig. Dumpfe Stimmung lag über dem Schiff, während das offene Meer sich unverändert offen vor ihnen breitete, und das Gefühl, sich weiter und weiter vom Lande zu entfernen, immer unheimlicher wurde. Auch das Meer begann seinen Charakter zu verändern, das Wetter war noch immer schön, nur das Meer wurde gleichsam hohler, hob sich mit grimmigen Dünungen, die die rollende und stampfende Santa Maria haushoch trugen. War das nicht ein Zeichen, daß man sich Zonen näherte, wo vielleicht gar keine Welt mehr war? Warum schaukelte das Meer sonst so abgrundtief?

Ein Mastbaum, den man an einem Tage im Meer treiben sah, ein großer Mastbaum, der einem Schiff angehört hatte, das größer als die Santa Maria war, schien Antwort auf diese angstvolle Frage zu geben. Das Schiff hatte in der Nähe Schiffbruch gelitten, und wenn solch großes Schiff sich nicht retten konnte, wie sollte es dann einem kleinen ergehen? Der Admiral, dem man sich in dieser ernsten Veranlassung näherte, hatte eine andere, zynische Auffassung von der Sache: daß das Schiff hier untergegangen war, schien ihm Beweis genug, daß das Meer hier von ganz gewöhnlicher Beschaffenheit sei. Außerhalb der Welt gäbe es überhaupt keine Schiffe, das könne man ihm schon glauben. Im übrigen könne man ja nicht wissen, wie lange und aus welcher Richtung der Mast getrieben sei. Mit diesem Trost kehrte die Mannschaft weinend zu ihrer Arbeit zurück. Das traurige Wrackstück hatte sie wehmütig gestimmt.

Es rollte so verlassen im Meer mit seiner zersplitterten Spitze, grün von Schlamm, die Wellen spülten unaufhaltsam darüber hinweg, und wenn sie sich unter dem Mast höhlten, troff zottiges Seegras davon herab; auch er war einst von Menschenhand geformt worden, ein Baum aus dem Walde, jetzt die Leiche eines Mastes auf dem öden Kirchhof des Meeres, ein wogendes Ding in den Wogen, zu einem Trieb gezwungen, der ihm fremd war, einsam, einsam, von einem Gesichtskreis in den anderen gleitend, ein Ding ohne Gesicht, und dennoch wie ein Wesen; das Herz konnte einem bei seinem Anblick brechen! Wie die Wogen ihn fortführten und spielend über ihm zusammenschlugen; man folgte ihm mit dem Blick, solange man konnte, und wandte sich dann tränenden Auges ab.

Auch der Admiral beobachtete ihn lange und eingehend; die Geschwindigkeit, mit der er rückwärts in den Wellen schwamm, war ihm willkommener Anhaltspunkt für das Log des Tages und die Beurteilung der Abtrift.

 

Der 13. September war ein Unglückstag. Die Besatzung erfuhr es erst hinterher, daß an jenem Tage ihr Schicksal und, wie es schien, auch das mehrerer Himmelskörper mit der Magnetnadel um die Wette gependelt hatte. Ja, der Laie bildet sich ein Urteil über Dinge, in die er nicht eingeweiht ist, die nur gerüchtweise zu ihm dringen, und vielleicht durchschaut er Dinge auf seine Weise, wenn er auch nicht Astronom ist. Es hieß, daß der Kompaß an jenem Tage so stark fehlgezeigt habe, daß sogar der Rudergast darauf aufmerksam geworden war; er war ein gewaltiges Stück von Norden abgerückt. Eine ernste Sache, die der Admiral natürlich zu verschweigen gesucht hatte, bis auch der Lotse und der Steuermann es einige Tage später entdeckten und den Admiral darauf aufmerksam machten; vor ihnen konnte der Admiral es nicht länger verbergen, die Magnetnadel war ein bedeutendes Stück von Nord nach West abgewichen; mußte es aber unbedingt am Kompaß liegen, konnte nicht auch der Nordstern aus seiner Bahn getaumelt sein?

Und wirklich schien er die anderen Navigationskundigen beruhigt zu haben, denn es wurde nicht mehr über die Sache gesprochen, man segelte und segelte immer weiter. Offen gestanden, war es nicht schlimmer, wenn der Nordstern wackelte? War es nicht ein Fingerzeig von oben? Wie stand es überhaupt mit dem Christentum dieses Ausländers?

Wenn aber der Kompaß verkehrt zeigte, wäre es entsetzlich, denn das konnte nichts anderes bedeuten, als daß man sich dem Magnetberg näherte, der natürlich irgendwo am Ende der Welt lag, und befand man sich erst innerhalb seines Anziehungskreises, war man verloren, Nägel und alles, was aus Eisen war, würden aus dem Schiff herausfliegen, Bretter und Deck auseinanderfallen und das Schiff im Handumdrehen ein Wrackhaufen auf dem Meere sein! Gönnen würde man es dem Admiral, daß er in dem Augenblick, wo es geschah, in vollem Harnisch auf dem Kastell stünde, – ha, man würde ihn durch die Luft fliegen sehen, man stellte sich vor, wie er gegen die Bergwand prallen und mit dem Kopf nach unten hängend, verwesen würde! Scherz beiseite, konnte er es verantworten, denselben Kurs zu halten, nachdem die Magnetnadel in ihrer stummen Sprache gewarnt hatte? Wozu hatte man sonst das Teufelsding?

Tränen des Ingrimms saßen der Besatzung im Halse. Der Admiral aber schritt ruhig wie immer auf dem Kommandodeck auf und ab. War er aber auch wirklich ruhig? Tatsächlich hatte das Phänomen, die Neigung des Kompasses, die hier zum erstenmal beobachtet wurde, ihn nicht wenig beunruhigt, er wußte sich die Erscheinung auch nicht anders zu erklären wie die Mannschaft: daß man sich einer größeren magnetischen Kraft näherte. Indessen war man ja ausgezogen, um etwas zu wagen. Und solange die Nägel im Schiff hielten, solange sollte es vorwärtsgehen!

Zwei Tage nach dem unglückseligen Dreizehnten aber ereignete sich etwas, daß die Santa Maria für eine kurze Weile in ein Narrenhaus verwandelte, obgleich die Sache an und für sich viel harmloser war als die mit der Nadel – ein großer, schrecklicher Meteor fiel vom Himmel, gegen Abend, als der Horizont noch ganz hell war. Er kam geradeswegs vom Himmel herab, alle sahen es, wie ein mächtig flammender Feuerzweig, und verschwand mit einem kochenden Laut im Meere, ein Sausen oben in der Luft hinterlassend. Das ganze Schiff war wie ein einziger Schrei, nachdem das Feuerzeichen verlöscht war, die halbe Mannschaft lag wimmernd auf Deck, die Augen mit den Händen verbergend, die übrigen rannten händeringend hin und her, die mutigsten fielen auf die Knie und riefen laut die Jungfrau Maria an, raspelten das eine Ave nach dem andern herunter. Einer versteckte sich unter der Wassertonne, ein anderer bohrte den Kopf in eine aufgerollte Trosse und zappelte mit den Beinen wie ein Wurm, sogar die Befehlshaber, Juan de la Cosa, Sancho Ruiz, der Schiffsarzt Alonzo de Moguer, denen man doch mehr Verstand hätte zutrauen können, verloren die Fassung und riefen Alarm, Gottes Blut! Das war der Untergang …;

Und dann geschah gar nichts weiter! Die Todesangst legte sich. Diesmal aber kam der Admiral ganz von seinem hohen Kastell herunter und mischte sich unter die Besatzung, um sie zu beruhigen und um zu erklären. Wie konnten sie sich über eine große Sternschnuppe so erschrecken …;

Sternschnuppe! Zornige Ausrufe, allgemeine echte Erbosung, Hände werden von den Gesichtern genommen und weinende Augen heften sich auf den Admiral, Brustkästen wogen ein und aus! Was sagt der Gotteslästerer! Ein Wahrzeichen, ein heiliges Wahrzeichen war es!

Ja, ja, meinetwegen ein Wahrzeichen (der Admiral ist versöhnlich und überhört, was ein wenig nach Meuterei klingt), aber es war doch gutartig, hatte das Schiff nicht verbrannt, war recht weit davon ins Meer gefallen. Solche Himmelserscheinungen hätte er schon früher gesehen; wenn es auch gegen ihre Gefühle stritte, dieses Phänomen als Sternschnuppe zu bezeichnen, so ließe es sich trotzdem auf dieselbe Weise erklären: Sterne oder andere Himmelskörper lösten sich von Zeit zu Zeit von der Wölbung dort oben und stürzten herab, das war nichts Ungewöhnliches. Das hatte, wie alles, was vom Himmel kam, seinen Sinn, es aber ein Wahrzeichen zu nennen …;

Es war ein Wahrzeichen! Die Schiffsleute schluchzten. Die weicheren gaben sich eigensinnig ihrem Kummer hin, wie Kinder, weinten und trockneten sich die Augen, schnäutzten sich untröstlich; andere gingen mit zusammengebissenen Zähnen im Kreise herum und sahen sich mit finsteren Augen an – es war doch zu stark, was dieser Italiener ihnen zu bieten wagte! Er wollte Gottes warnende Schrift am Himmel als Sternschnuppe darstellen!

Hatte sie sich hinter dem Schiff gezeigt, wie eine Warnung umzukehren? Nein, vorn, gerade im Westen – wer konnte da noch zweifeln? Sterne, Himmelslicht – das Feuer, das herabgefallen, war größer als Sonne, Mond und sämtliche Sterne zusammengenommen! Das war die natürliche Erklärung – es war ungesund soviel Ketzer an Bord zu haben, zu allem anderen!

Höhnisches und herausforderndes Brummen, und die freundliche und beruhigende Stimme des Admirals. Es wurde eine lange Verhandlung; schon dunkelte es, und noch immer wurde von dem schrecklichen Ding gesprochen, viele waren ganz platt geworden und sprachen mit ersterbenden tränenvollen Stimmen wie nach einem Unglücksfall; in anderen stieg der Haß immer wieder auf. Zuletzt aber beruhigten die Gemüter sich, der Admiral nur redete und redete noch, seine einförmige Stimme wirkte schließlich beruhigend.

Indessen war das Schiff immer weiter gesegelt, da keiner daran gedacht hatte, es zu stoppen, der Wind war günstig, man hatte schon längst die Stelle passiert, wo der Meteor ins Wasser gefallen war; in seinem stillen Sinn berechnete der Admiral, wieviele Strecken man zurückgelegt hatte, er hatte ja sein Log beständig im Kopf, während die anderen schwatzten. Schließlich suchte die Mannschaft, müde und schlaff vor Kummer, ihr Nachtlager auf, viele waren ganz krank vor Gemütsbewegung; aus dunklen Ecken hörte man noch lange tiefe Seufzer und Schlucken wie nach Tränen.

Der Admiral aber kehrte still zu seinem Posten zurück, beobachtete und schrieb den Rest der Nacht bei einer kleinen Hornlaterne; er hatte eine Arbeit, die er am liebsten des Nachts ausführte: das Logbuch. In weiser Voraussicht und weil er die menschliche Natur kannte, führte er es in zwei Exemplaren, eines für seinen eigenen Mund, das korrekt war, und eines für die Befehlshaber, die nachher ihre Weisheit weitergeben konnten; im letzteren waren die Entfernungen, die jeden Tag zurückgelegt wurden, kleiner bemessen, so viele Meilen, wie er es wagte; es hatte keinen Zweck, daß die Mannschaft sich mehr als notwendig darüber entsetzte, wie weit man schon auf den Ozean hinausgekommen war.

Im Laufe der Nacht entstand eine kleinere Panik, die sich indessen bald wieder legte: ein Mann schrie voller Entsetzen auf und weckte die anderen, er hatte zufällig über die Schiffsplanke geblickt und gesehen, daß das Schiff wie durch Flammen und leuchtende Wogen fuhr! Alles strömte an die Schiffsseite, Jammer über Jammer, sie fuhren durch Feuer! Der Admiral war gleich zwischen ihnen – ob sie nie Meerleuchten gesehen hätten? Sie waren doch Seeleute, jedenfalls einige von ihnen. Im Mittelländischen Meer leuchtete es ja oft ebenso stark. Na, ja, schläfrig und verdrießlich waren sie und ließen sich Vernunft predigen. Einige hatten es schon gesehen und schrien nur, weil die anderen geschrien hatten. Viele aber nickten, nickten, tödlich überzeugt, daß es das Feuer war, das vom Himmel gefallen und in das sie jetzt geradeswegs hineinfuhren! Da mußte der Admiral lachen – warum das Schiff dann nicht schon längst Feuer gefangen habe? Und er ließ einen Eimer mit Wasser Heraufziehen, wer wollte, mochte die Hand hineinstecken; es war ganz kalt …;

Kalt, eher lauwarm. Was aber war's, was da unten im Wasser leuchtete? Der Admiral hatte natürlich gleich eine Erklärung bei der Hand: das Sonnenlicht, das das Wasser tagsüber aufgesaugt, gab es nachts wieder von sich. Die Erklärung wurde mit Kichern ausgenommen, man wußte es besser. Ein Widerschein aus der Hölle war es, offene Luken vom Fegefeuer …;! Geknurr, Bitterkeit; einige erdreisteten sich sogar, dem Admiral den Rücken zu kehren. Bald darauf wurde auf dem ganzen Schiff wieder geschlafen.

Von nun an aber kam der Admiral häufiger aufs Deck herab, hielt nicht mehr so streng auf seine Würde, und es war seltsam, was der sonst so wortkarge Mann für Beredsamkeit entwickelte, er erörterte Dinge stundenlang, sogar mit den einfachsten der Mannschaft. Es schadete der Distanz nicht, die zwischen Führer und Besatzung sein muß, denn in einer Beziehung war er unerreichbar: an Größe.

Dieser Wirkung war er sicher, wenn auch keiner, nicht einmal er selbst, es sich klar machte. Nicht allein, daß er seine unmittelbare Macht über die Gemüter seiner Feinde bewahrte, er gewann sich auch Freunde. Vielen gingen erst jetzt die Augen dafür auf, daß dieser riesengroße, von Mut und unüberwindlicher Entschlossenheit geprägte Mensch, der auch unerhörte Gewalttätigkeit an den Tag legen konnte, im Grunde ein wohlwollender Mann war. Der große Kopf mit der rötlichgrauen Mähne und dem Vollbart, der ihm jetzt gewachsen und auch rot und weiß war, konnte wie von Menschlichkeit strahlen, von einer Wärme, die trotz allem aus der Schöpfung zu ihm kam und die er wieder zurückgab. Er hatte ein hübsches Lächeln, das zwei Reihen großer verbrauchter Zähne bloßlegte; die blauen Augen, oft so fernblickend, konnten sich mit einem eigenen Blick auf den heften, mit dem er sprach, für jedermann hatte er Gefühl und schnelles Verständnis. Seltsame Augen waren es, klein und ganz hell, mit weißer Umgebung und rosenroten Winkeln, fast wie bei Schweinen, etwas gequält, denn er schlief ja fast gar nicht. Eigentümlich war seine Stimme, ziemlich leise und sanft für einen so großen Mann, behutsam, voll Einsamkeit und Freundschaft für Menschen, selbst solchen, die ihm gram waren.

Das aber fühlte man, ob er schwieg oder beredt war, seine innersten Gedanken verriet er keinem.

Viel wurde während der kommenden Tage geredet, ohne Ende, immer wieder von vorn, der Admiral war fast beständig unten auf Deck zwischen der Mannschaft, so oft wie seine Messungen es ihm erlaubten.

Die Santa Maria war fast wie eine fahrende Schule, mit erwachsenen Knaben und einem sie alle überragenden, mit sehr verschiedenen Gefühlen umfaßten Schulmeister, der den lieben langen Tag Stunden gab, Klagen entgegennahm und unterrichtete, eine Vorsehung, die nie müde wurde, die Seelen auf den Weg zu leiten, den sie nicht gehen wollten, aber sollten.


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