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San Salvador

Nie war eine Nacht so lang, Erwartungen so hoch gespannt. Der Kurs wurde mehr nach Südwesten gedreht, auf die Landkennung zu, und die ganze Nacht bei dem frischen Wind beibehalten.

Als aber die Sonne hinter ihnen aufging, legte sie ein ganz kahles Meer bloß, so weit das Auge reichte; wo man Land gesehen hatte, war nichts als die scharfe Grenzlinie zwischen dem leeren Himmel und dem fernen Rand des Meeres, wo die Wellen wie Würmer durcheinanderliefen, öde blaue Felder oben und unten und nach allen Seiten!

Die Enttäuschung war fast nicht zu ertragen. Ganz gebrochen erkannte man, daß das, was man für Land gehalten hatte, nur eine Luftspiegelung gewesen war, ein grausames Spiel mit der Hoffnung armer, geprüfter Menschen. Sollten sie denn noch mehr geprüft werden?

Nachdem es eine Weile totenstill gewesen ist, erhebt sich eine Stimme, ein Mann geht durch die Erloschenen und versucht zu sprechen, sich selbst Mut zuzusprechen, obgleich auch er wie erloschen ist, der Admiral, auf den niemand hört, er glaubt ja selbst nicht, was er sagt, aber irgend etwas muß gesagt werden.

Halb zu sich selbst gewandt, erklärt er niedergedrückt, daß das, was sie gesehen hätten, St. Brandans Insel gewesen sein müsse, denn man wußte ja aus der Legende, daß es eine bewegliche Insel sei, eine Wanderinsel sozusagen; St. Brandan war tagelang hinter ihr hergesegelt, ohne sie einzuholen, sie eilte beständig im Ozean vor ihm her, wie eine Lufterscheinung. Schließlich aber hatte er sie doch erreicht, und war es nicht eigentlich eine Gnade Gottes, daß sie sie gesehen hatten, ein Beweis, daß sie existierte und sie sie mit Gottes Hilfe wohl auch erreichen würden …;

Man wandte sich von ihm ab, mit Ekel, erloschen im Gesicht. Oder man maß ihn von oben bis unten, den schwatzenden alten Kartenzeichner und Betrüger, den Admiral auf dem Mond, mit seinen Heiligen und feinen Bekanntschaften und ausgetretenen Schuhen, man blickte ihm nach und verzog die Lippen, haßte seinen Rücken, sein Nackenhaar, seine Riesengestalt, einen Vorzug, den der hergelaufene Landstreicher wahrscheinlich auch gestohlen hatte. Und der General begab sich allein auf sein Kommandodeck, während das Schiff der Verzweiflung des entnüchternden Morgens anheimfiel.

Am 25. September hatten sie die falsche Landkennung gehabt, die geschwächte Lebensgeister, sowohl bei der Mannschaft wie bei den Führenden, hinterließ. Und noch hatten sie über zwei Wochen Fahrt vor sich.

Wie brachte er sie dazu, auszuhalten, wie war es möglich nach dem Zusammenbruch aller Hoffnungen? Und es wiederholte sich noch einmal, noch einmal wurde Land gerufen und man glaubte daran, und auch das zweitemal war es eine Enttäuschung. Und dennoch brachte er sie dazu auszuhalten.

Die Lage an Bord war sehr schwierig geworden, die Verbindung zwischen Achterkastell und Deck eine Zeitlang abgebrochen. Die Schule an Bord, die langen, freundlichen Erklärungen des Admirals fanden nicht mehr statt, er blieb oben achtern und ging seine Wacht, Tag und Nachts kein Wunder, daß seine Schuhe ausgetreten waren, und unten auf Deck richtete die Mannschaft sich ein, als ob es gar kein Kommando gäbe.

Noch wurde weitergesegelt, der westliche Kurs wieder ausgenommen, die Mannschaft aber hielt auf eigene Faust Versammlungen ab, steckte die Köpfe zusammen, bildete Gruppen, die vorläufig noch uneinig waren, mehrere Meinungen und Vorschläge, doch keiner zugunsten des Admirals. Diegos dunkler Kopf tauchte bald hier, bald dort in den Gruppen auf; geschäftig, mit großen Armbewegungen, hämmerte er ein leise gesprochenes Programm ein, Punkt für Punkt, indem er mit der einen Hand in die andere schlug.

Jetzt endlich begann die Meuterei Form anzunehmen, Diego sah Blut und fühlte die kitzelnde Steifheit in den Beinen, die einem Sprung vorauszugehen pflegt, der Admiral wirkte auf seine Phantasie wie ein Stier in einer Staubwolke, seine Nerven drängten ihn zum Sprung; obgleich er im Verhältnis zu dem Ungeheuer nur ein Wicht war, reizte es ihn, über ihn wegzuspringen, buchstäblich gesprochen, gerade vor seine Hörner, ihn mit Brandpfeilen zu spicken, ihn zu verhöhnen, ihm den Schwanz umzudrehen, und ihm schließlich das Messer vom Buckel einen Meter tief ins Herz zu stoßen.

So Diego, der alles zu einem Schauspiel machen, etwas für die Augen haben wollte; andere betrachteten die Sache nüchterner. Der Admiral sollte aus dem Wege geräumt werden, in aller Stille, ohne daß jemanden allzu offenbar die Schuld traf. Konnte nicht ein Unglück geschehen, Mann über Bord? Ging doch der Admiral die ganze Nacht lang und beobachtete die Sterne, die Augen unverwandt auf den Himmel gerichtet, das Geländer ist niedrig, konnte er nicht straucheln und kopfüber ins Meer stürzen, niemand weiß nachher, wie es zugegangen ist, und er kann es nicht mehr erklären. Dann kehrt man betrübt ohne Admiral heim …;

Dies war indessen ein Punkt, bei dem die Meinungen aufeinander prallten, ziemlich heftig sogar, fast kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen den Gruppen: konnte man den Weg ohne ihn nach Hause finden? Diejenigen, die sich etwas auf Seekunde verstanden, meinten, es könne keine Not haben, man mußte nur lange gegen den Wind kreuzen, mehrere Wochen, vielleicht Monate, da die Schiffe keine guten Kreuzer waren; auf andere Weise hätte der Admiral ja auch nicht heimkehren können. Andere runzelten die Stirn und mußten zugeben, wenn auch ungern, daß der Admiral mit all seinen unleidlichen Eigenschaften dennoch im Besitz seltsamer Fähigkeiten sei, vielleicht sogar übernatürlicher Fähigkeiten; mit einem landläufigen Verstand war es hier nicht getan, er würde Geheimnisse mit sich ins Grab nehmen, und man würde sich vielleicht selbst im Licht stehen, wenn man ihn aus dem Weg räumte.

Einzelne weigerten sich sogar rein heraus, an der Verschwörung gegen den Admiral teilzunehmen, so Pedro Gutierrez, er hatte zu weiße Hände. Auch Juan de la Cosa, zum Verdruß vieler, denn seine Teilnahme war von Wichtigkeit. Juan de la Cosa aber, der nicht einen Augenblick an den Erfolg dieser Reise geglaubt hatte und jetzt weniger als je daran glaubte, erklärte trotz allem, er wolle seine Gebeine neben Kolumbus legen, wo immer sie zu liegen kamen, denn dieses Unternehmen sei so wahnsinnig, daß das Leben ihm armselig erscheinen würde, bekäme er das Ende nicht zu sehen. Auch ein Standpunkts wenn auch wenig kameradschaftlich. So waren die Meinungen geteilt, bis eine die überwiegende blieb und das Todesurteil gesprochen wurde.

 

Der Ausbruch kam, und der Admiral selbst gab den letzten Anstoß dazu, als gerade der Plan zur Ausführung reif war. Er hatte schon lange gesehen, daß etwas gärte, und eines Tages, als sich alle auf Deck befanden und die Gruppen in größter Erregung waren, kam er vom Achterdeck herunter und trat mitten zwischen sie, waffenlos, entschlossen, mit ihnen zu sprechen.

Wütendes Geschrei schlug ihm entgegen, als er die Treppe herunterkam, im Handumdrehen war das ganze Deck in Aufruhr, alle einig wie ein Mann, keine Gnade! Wenn er selbst in sein Unglück rannte, um so besser! Ein Katzensprung ertönt auf Deck, eine Klinge blitzt in der Sonne, Diego ist an der Spitze des Haufens, Handgemenge, er und der Admiral kämpfen, ein Wirbel, aus dem niemand recht klug wird …;

Den Ausfall aber sehen alle, der Admiral hat Diego zwischen seinen Fäusten, wie es auch zugegangen sein mag, hält ihn und zerbricht den Stachel in seiner Hand, entreißt ihm die Stümpfe, und während er ihn mit der einen Hand festhält, packt er ihn mit der anderen am Unterarm und gibt ihm zwei Ohrfeigen mit Diegos eigener Hand, worauf er ihn beiseite fegt; ein Zucken geht über sein Gesicht, als ob er ein häßliches Insekt entfernt, und dann wendet er sich der Menge zu …;

Diego hatte nicht unrecht, als er diesen Mann wie einen Stier behandelte, denn im Zorn kam wirklich etwas von einem Ochsen über ihn, der große Kopf, die schnaufende Nase, die Haltung, er schwoll, das Blut stieg ihm zu Kopfe, so daß die Augen in dem ganz blauen Gesicht weiß erschienen, er duckte sich und fuchtelte mit seinen gewaltigen Armen, als wollte er sie aus den Schultern herausheben, der Atem kam ihm stoßweise aus den Nasenlöchern und die Haare sträubten sich auf seinem ganzen Körper und machten ihn noch furchtbarer, der Donnerkeil war in seiner Hand, die Stimme brüllte. Und dann sagte er ihnen Bescheid:

Er habe sich gelobt, sie in Reiche zu führen, wie ihre Augen sie noch nie erschaut, und beim lebendigen Gott, sie sollten sie zu sehen bekommen, ob sie wollten oder nicht. Denn kein Pack sollte ihm je vorwerfen, daß er seinen königlichen Herrn, König Ferdinand von Spanien, und seine Königin Isabella, in deren Auftrag er reiste, im Stich gelassen hätte, dazu würde keine Macht der Erde ihn bringen! Er wäre ein Seemann vor Gott und Unserer Frau, vom Himmel dazu bestimmt, den Heiden Gnade zu bringen, und wenn er bis ans äußerste Meer fahren sollte! Solange Seelen in Dunkelheit lebten, die nichts vom Evangelium und der Gnade Gottes wußten, solange wollte er bis ans Ende der Welt fahren, ein Sterblicher nur, aber ein Werkzeug in der Hand des Allmächtigen, um die Ewigkeit zu verkünden. Wer wähnte sich stark genug, ihm auf seinem Wege Einhalt zu tun?

Er blickte sich rundum, wie der wilde Eber zwischen Hunden. Aber nicht ein einziger wagte zu murren.

Sein Ausdruck verwandelte sich zu Schmerz, es bebte in seinem Bart, und der riesengroße Mann brach in ein entsetzliches Schluchzen aus, er verbarg sein Gesicht in den Armen und taumelte wie ein Blinder auf die Treppe zu. Eine breitere Scheibe für einen Armbrustbolzen als seinen Rücken konnte man sich nicht wünschen, als er wieder aufs Achterkastell hinaufstieg, aber jetzt war er schußfrei, allen, die auf Deck zurückblieben, hingen die Arme schlaff herab. Sie sahen ihn oben achtern in die kleine Kajüte gehen und die Luke hinter sich zuziehen, wie ein Unglücklicher, der allein sein will. Manchem zuckte es in den Augen, hatten sie vielleicht den Riesen, der so allein gegen viele war, zu stark gereizt? Einige hatten gesehen, daß ihm, nach dem Zusammenstoß mit Diego, die Hände blutig waren.

Kein Wort fiel zwischen den Zurückbleibenden. Die Rudergaste aber, die an der Reihe waren, steuerten so aufmerksam wie noch nie, Kurs hart an West.

Wer die schlechten Schuhe des Admirals bemerkt hatte, beobachtete auch an einem der nächsten Tage, daß sie ausgebessert waren, von wem wohl? Hatte vielleicht einer von der Besatzung, eines Morgens zeitig, während der Admiral schlief, sich ihrer erbarmt und sie genäht? Oder hatte der Admiral es selbst getan, bei der kleinen Bestecklampe, deren Schein nachts immer aus seiner Kajüte drang?

Und vorwärts ging es in dem unveränderlichen Wind, der etwas Geheimnisvolles mit ihnen vorzuhaben schien. Die Stimmung an Bord aber entsprach nicht dem günstigen Wind, sie war düster und nagend, wie bei zum Tode verurteilten Seelen. Zeichen, die als Nähe von Land gedeutet wurden, kamen und gingen, weckten blasse Hoffnungen, bitterklug, wie man nachgerade geworden war, und hinterließen Spuren von noch tieferem Gram in den gefurchten Gesichtern.

Die Mannschaft war drauf und dran, die Vorstellungen von der Welt, die sie ursprünglich mitgebracht hatten, zu vergessen, sie hatten Spanien vergessen, ja, beinah wer sie selbst waren, die Welt erschien ihnen in einem unsicheren, verzauberten Licht, sie waren bereits in einer anderen Welt und hätten sich nicht gewundert, wenn eines Tages der Vogel Rock herabgeschossen wäre und eines der Schiffe zwischen seinen Krallen entführt hätte; unter ihnen lauerten Meerungeheuer, daß sie keine zu Gesicht bekamen, erschien ihnen fast wie eine Unwirklichkeit mehr.

Der Unfrieden zwischen dem Admiral und der Besatzung flackerte wohl noch hin und wieder auf, war aber von blasser, hoffnungsloser Art, die Mannschaft war zu schlapp, um sich zusammenzurotten, und haßte sich untereinander bis zu einem Grade, der eine Gemeinsamkeit unmöglich machte. Es war über sie gekommen, wie es über eine Schar Männer kommt, die an einem Ort zusammengepfercht sind, ohne Frauen, ohne die Möglichkeit, sich aus dem Wege zu gehen, ein Ekel, der fast nicht zu ertragen war. Man gähnte sich voll Widerwillen an, wie kranke, traurige Raubtiere, sogar das Sprechen war ihnen zu viel. Man kehrte sich den Rücken, ging soweit es möglich war, auf dem engen Schiff aus dem Wege, kroch auf den Klüverbaum hinaus und genoß es, daß man, einige Meter weit von den anderen entfernt, sich tüchtig in der Einsamkeit ausweinen konnte, die Arme um ein mageres Tau geschlungen. Man versteckte sich im Lastraum, oben auf den Rahen, man hing an der Schiffswand an einem Tau, wie zum Räuchern, nur um den anderen eine Weile zu entgehen. Ach, die Reise und das lange Beisammensein hatten ihnen die Augen dafür geöffnet, wer sie in Wirklichkeit waren, das war ihre Strafe!

Jede Zucht ging verloren, kaum war so viel übrig, daß das Schiff gesteuert wurde; in dem guten Wetter war übrigens kaum Bedienung nötig. Das Schiff glich einem Stall, in dem man über Knochen stolperte, man schlief, wo man gerade niedersank, kratzte sich, wo es juckte, und knurrte mit geschlossenen Augen, wenn jemand auf einen trat. An Tagen, wenn die Lebensgeister aufflackerten, wenn Vögel oder andere Dinge gesehen worden waren, die an eine längst verlassene untergegangene Welt, die sie einst gekannt hatten, erinnerten, oder wenn der Admiral, der Idiot dort oben, wieder wie ein Automat vom Land schwatzte, dann unterhielt man sich mit einem lahmen Zeitvertreib, bei dem das Leben ausebbte: wenn dieser oder jener Kakerlak, den man hier oder dort sitzen sah, in diese oder jene Richtung lief, dann würde man noch vor Abend Land sehen. Gnade Gott demjenigen, der den Kakerlak berührte und die Gottheit störte; ein Wutgebrüll erhob sich, wenn jemand sich der Gruppe näherte, wo diese Probe stattfand, die manchmal Stunden dauerte, falls es ein sehr stillsitzender Kakerlak war. Lief er in die richtige Richtung, bekam man noch vor Abend Land zu sehen, was natürlich ein leerer Wahn blieb, lief er in die verkehrte Richtung, war es mit aller Hoffnung vorbei/ was es übrigens auch ohnedem war.

Diejenigen der Mannschaft, die noch einen Rest von Menschlichkeit bewahrt hatten, gingen in sich und wurden fromm, klammerten sich an das Kruzifix, hielten es Tag und Nacht zwischen den Händen und benetzten es mit Tranen; das Bild der Jungfrau Maria wurde geküßt, bis es abgenutzt war, fromme Gelübde wurden abgelegt. Ach, all die Pilgerfahrten, die unternommen werden sollten, wenn man Spanien jemals wiedersah! Im Bußhemd, mit bloßen Füßen! Vermögen wollte man für Wachskerzen ausgeben. Manche versprachen der Jungfrau Maria ein Pfund, ein ganzes Pfund! Konnte sie dem widerstehen? Unbewußt war es wohl im Grunde eine bescheidene Wertschätzung des Gebers selbst. Aber es nützte alles nichts.

Oben achtern ging der Admiral wie ein Tier im Spilltau, immer dieselbe Wache, die Planken gaben unter seinen schweren Tritten nach, man spürte es im ganzen Schiff, eine viehische, eine unerträgliche Ausdauer. Seine Schuhe waren schon wieder geplatzt. Haar und Bart waren ihm wild gewachsen, und sein Gesicht war unlesbarer als je – konnte er sein Log nicht nach seinem Haarwuchs berechnen?

Gerade das war sein wunder Punkt, sein geheimer Kummer, den er natürlich vor allen verbarg: seine Berechnungen stimmten nicht. Die Ausdehnung der Strecke, die er zwischen Spanien und Indien angenommen, und die, die sie in Wirklichkeit durchsegelt hatten, stimmten nicht überein, das Atlantische Meer schien erheblich breiter zu sein, als er sich vorgestellt hatte – ob es überhaupt ein Ende nahm?

Anfangs hatte die Mannschaft gefürchtet, daß sie schließlich den Himmel einrennen, daß die Scherben auf sie herabrasseln und Gott weiß welches Unglück sie treffen würde. Aberglauben, den sie nicht mehr nährten, ach nein, es schien ja nicht einmal ein Ende der Welt zu geben, sie waren wohl dazu verdammt zu segeln, zu segeln, ohne eine eigentliche Katastrophe, aber auch ohne Aufhören, bis zum Tage des letzten Gerichtes. Vielleicht waren sie dazu verurteilt zu segeln, weil sie sich vermessen hatten, an den Schlössern des Meeres zu rütteln, vielleicht befanden sie sich schon in der Ewigkeit und konnten nicht sterben, sondern mußten sich beständig sehen, mußten bis in alle Ewigkeit auf einem Schiff zusammensein, hu, und segeln, segeln, segeln.

Und das Fleisch würde ihnen von den Gebeinen fallen und sie würden sich mit ihren Totenköpfen betrachten, ohne sterben zu können; und die Santa Maria würde ein altes Schiff werden, mit zermürbten Planken, sonnengebleichten Segeln und zerfaserten Hanftauen wie haarige Raupen, der Anker von Rost zerfressen. Doch auch das Schiff konnte nicht sterben, das alte Wrack sollte die Unendlichkeit auf ewige Zeiten durchpflügen, mit seinen morschen Masten wackeln, ächzen, und schleimiges Seegras in den Wellen auflesen, und segeln, ha, ha, ha, bis einst Satan, denn Gott schien sie ja vergessen zu haben, eine Spalte öffnete, durch die das alte, morsche Wrack in die Hölle fahren konnte!

 

Und noch immer hält Kolumbus aus, fabelt jeden Tag mit vorsichtiger Stimme von Landzeichen, bis sie den Unmenschen schließlich mit gefalteten Händen bitten, er möge aufhören, möge sie lieber mit einem Fußtritt ins Meer stoßen und sterben lassen; noch wankt er mit seinen Astrolabien und Winkeln umher und verschweigt verräterisch den einen Tag, was er mit verbrecherischer Hoffnungsseligkeit am vorhergehenden versprochen hat, wenn es sich als Trug erweist.

Hätten sie ihn doch damals ins Meer geworfen, als es noch nicht zu spät war, als es sich noch lohnte. Nicht einmal den Bissen im Munde gönnte er ihnen jetzt mehr, bei all seinem väterlichen Geschwätz, sie waren auf Ration gesetzt, der Proviant war aufgezehrt oder verdorben, im Rest war Ungeziefer, die Ratten liefen nachts über sie hinweg, einst würden sie wohl auch sie fressen, wie heidnische Hunde, wenn es nicht umgekehrt wurde. Das Wasser war faul geworden, sie wünschten, daß er sich recht bald daran vergiften möchte, damit sie sein ewiges Knirschen auf Deck nicht mehr hörten und mit geschlossenen Augen liegen bleiben konnten, um die widerwärtigen schmutzigen Züge des Nebenmannes nicht mehr zu sehen, um in Ruhe sterben zu können.

Die Wärme nahm zu, die Wärme nahm zu. Ach ja, ach ja!

Und da, als sie am tiefsten gesunken waren, ein Gliederhospital in äußerster moralischer Auflösung, begann die Hoffnung hereinzusickern, vorerst gegen ihren Willen, denn sie kam ja in Form des alten verhaßten Geschwätzes von Landzeichen, und je mehr sie davon hören mußten, desto ärger wurden sie davon geplagt. Schließlich aber begannen sie unwillkürlich, selbst zu sehen.

Eines Morgens, Anfang Oktober, hörten sie den Admiral oben auf dem Achterdeck singen, ganz allein mit seinem Gott und dem Sonnenaufgang, und sie begriffen, daß er nicht wie gewöhnlich mit dem Munde hoffnungsvolles Zeug schwätzte, während er innerlich verzagte, sondern daß seine Überzeugung echt sei. Und bald konnten sie nicht anders, sie mußten seine Überzeugung teilen. Im Laufe dieses Tages und des folgenden, bis zum 11., nahmen die Beweise so stark zu, daß keiner mehr im Zweifel über die Nähe des Landes sein konnte. Sie erholten sich wie Kranke, deren Körper noch schwach, deren Seele aber voller Reichtum ist, stille Tränen rannen ihnen über die Backen, jetzt war kein Zweifel mehr möglich!

Am 7. Oktober ließ der Admiral Südwest steuern. Seit mehreren Tagen hatten sie vereinzelte Vögel, Pelikane gesehen, an diesem Tage aber sahen sie ganze Vögelschwärme, die von Norden nach Südwesten flogen. Kolumbus wußte, daß die Portugiesen Land fanden, indem sie sich nach dem Fluge der Vögel richteten, und er folgte ihrem Beispiel. Er vermutete, daß sie an den Inseln, die er im Meere zu finden erwartete, vorbeigefahren oder zwischen ihnen hindurch gesegelt waren, ohne sie zu sehen, und nahm an, daß sie jetzt geradeswegs auf das Festland zusteuerten; auf die Inseln konnte man später noch zurückkommen. Am 11. konnte man an den Landzeichen nicht mehr zweifeln, die Mannschaft an Bord des Pinta fischte einen geschnitzten Stock aus dem Wasser, von der Nina sah man sogar einen frischen Zweig mit Beeren im Meer schwimmen und mußte an jene Taube mit dem Ölzweig im Schnabel denken, die nach der Sintflut zu der Arche Noah zurückkam; Sturmschwalben wurden gesehen, und an jenem Tage segelte man mit zunehmendem Wind und ziemlich unruhigem Seegang, während die Kraft der Überzeugung und die Unruhe beim Gedanken, daß man bald, vielleicht in Stunden, Land sehen würde, im gleichen Maße zunahmen.

Aber noch tags zuvor hatte der Admiral einen letzten Strauß mit der Mannschaft zu bestehen gehabt, Meuterei, jetzt, jetzt, wo die Unsicherheit untrüglichen Zeichen gewichen war. Gerade die Wahrscheinlichkeit von der Nähe des Landes aber hatte die Mannschaft aufgestachelt; als die Welt wieder die alte zu werden begann, hatten sie ihre Kräfte wiedererlangt, erstaunlich schnell, und jetzt stürmten Bedenken auf sie ein: ohne Zweifel würde man Land erreichen, aber welches Land? Wenn es Indien war, würde es zum mindesten dummdreist sein, dem Reich des Groß-Khans mit drei elenden kleinen Schiffen und hundert Mann in den Rücken zu fallen; sollte der Admiral dies noch nicht bedacht haben, so war es höchste Zeit umzukehren; die Lage des Landes kannte man jetzt ja und konnte mit einer Flotte und einem Heer wiederkehren. Zur Rekognoszierung waren sie mitgekommen und halten die unbeschreiblichen Leiden ertragen, die Entdecker in neuen Fahrwassern durchmachen müssen, jetzt aber, kurz und gut, wollten sie nach Hause und Verstärkung holen, sie dächten nicht daran, sich der Gefahr, an feindlichen Küsten getötet zu werden, auszusetzen, vielleicht würde keiner nach Hause kommen, um von der Reise zu berichten …;

Nur hundert Mann, schob der Admiral ein, aber Spanier …;

Geschrei, Brüste vorgeschoben, der Admiral war höflich, konnte das Richtige treffen. Aber …; und dasselbe von vorn, Andeutungen, wer in der Mehrzahl sei und die Macht besäße und sie auch zu gebrauchen gewillt wäre. Lautes Geschrei, Diego springt aus der Volksversammlung wie ein Leopard aus den Dschungeln, mit allen Gliedern durch die Luft fuchtelnd, Chorgebrüll: so weit seien sie mit dem Admiral gefahren und hätten zu seinem Erfolg beigetragen, jetzt keine Seemeile mehr!

Es endigte damit, daß der Admiral kurz und bündig erklärte, er würde die Reise fortsetzen, bis er Indien gefunden habe. Er geriet diesmal nicht in Zorn, sandte kein Donnerwetter auf ihre Köpfe herab, statt dessen ließ er ein gut Teil Geringschätzung durchblicken, die jedenfalls einem Teil der Besatzung übel schmeckte; im übrigen lag eine solche Entschlossenheit in seinem Auftreten, daß sie begriffen, sie müßten über seine Leiche, bevor von Umkehren die Rede sein könnte.

Er hatte wieder erreicht, daß die Meinungen sich teilten: Rachegeschrei, Drohungen und sehr viel schadloses Fluchen bei einigen, bei anderen Schweigen und Grübeln: Aufschub, Spannung, aufgeregte Wogen, draußen wie drinnen, und währenddessen gutes Vorwärtskommen. Tags darauf wendete sich die Stimmung. Die absolut sicheren Landzeichen rissen alle mit, das Segeln während des ganzen elften Oktober war ein Triumphsegeln, die Sonne ging an diesem Abend im öden Meer unter wie an den fünfunddreißig vorhergehenden Abenden, ihr Untergang aber wurde von einer großen rotglühenden, allmächtigen Erwartung geprägt.

 

Die Nacht zum 12. war dunkel, der Mond, der im letzten Viertel war, sollte um elf Uhr aufgehen. Gegen zehn Uhr sah der Admiral vom Achterkastell das erste direkte Landzeichen, ein Licht in der Dunkelheit, das sich auf und nieder bewegte, Feuer war das erste Willkommenzeichen, das ihn von der unbekannten Küste grüßte, ein Funke, der von menschlicher Hand getragen zu werden und beim Gehen auf und nieder zu schwanken schien. Kolumbus rief Pedro Gutierrez, zu dem er Vertrauen hatte, zu sich herauf und fragte ihn, ob er das Licht sähe, und als dieser es ihm bestätigt hatte, ließ er Rodrigo Sanchez, den Vertrauensmann des Königs, an Bord rufen, um ihn zu Zeugen zu nehmen.

Gegen zwei Uhr, als der Mond aufgegangen war, sah ein Matrose mit guten Augen an Bord des Pinta, Rodrigo de Triana war sein Name, vorn einen Küstenstrich, Pinta salutierte mit einem Kanonenschuß, und nach und nach konnten alle den Küstenstrich, flaches Land, vorn unterscheiden. Die Segel wurden eingezogen, die müden Segel, die ganz steif waren, solange hatten sie gestanden, nur ein paar kleine blieben gesetzt, und so sah man dem Morgen entgegen.

Welche Nacht! Nie zuvor waren Seelen so bis auf den tiefsten Grund von Spannung, Furcht vor Unbekanntem, Neugierde, schicksalschwangeren Vorahnungen, ungeheuren Dingen aufgewühlt worden. Kein Wunder, denn jetzt war die Zeit reif, daß zwei Welten sich begegneten, mit allem, was sie enthielten, sie sollten sich wie Feuer miteinander vermischen und sich gegenseitig umprägen; Heerscharen sollten losgelassen werden, und Seelen sollten sich verändern, darum pochten die Herzen so unruhig in aller Brust; das konnten diese Menschen nicht verstehen, aber es war in ihren Adern wie eine große Not, wie Jubel und Feierlichkeit, die ganze lange erwartungsvolle schlaflose Nacht hindurch.

Die Nacht wurde nicht untätig verbracht, das ganze Schiff war Fieber und Vorbereitungen. Einige wuschen sich in dem abnehmenden Mondschein, andere ließen sich die Haare schneiden, so gut es ging, sogar der Admiral ließ sich von Pedro Gutierrez Haar und Bart stutzen; seltsam, was er für einen verhältnismäßig kleinen Kopf hatte, nachdem die Mähne gefallen war. Der Schleifstein kreischte unter dem Vorderkastell und plätscherte in seinem Trog, die Mannschaft schliff die Waffen, in Erwartung dessen, was der morgige Tag bringen konnte, sie prüften die Schneide mit dem Daumen, spuckten in die Hand und übten das Handgelenk, schlugen ein Rad durch die Luft, daß die Klinge pfiff.

Und es wurde geschwatzt, übermütig, vieles bekam Luft; Gedanken, die das Gemüt beengen wollten, wurden übertäubt, es kam ja doch alles, wie es kommen mußte. Der Admiral war der Mann des Tages, ein Held, alle sahen es ein, in der tollen Stunde, als Land gesehen wurde und alle den Kopf verloren vor Menschenliebe und Dank. Ja, einige waren auf ihren Knien über das Deck gerutscht, vor seine Füße, und hatten den Saum seines Kittels geküßt, hatten sich vor ihm gedemütigt, wie vor einem Gott Vater, billigerweise, dieselben, die während der Reise die frechsten gewesen waren. Andere waren zurückhaltender, zogen es vor, sich nicht gar zu augenfällig in Erinnerung zu bringen. Der Admiral selbst war sehr bewegt gewesen, hatte die Hände in langem, wortlosem Gebet zusammengepreßt, im übrigen war es auffallend, wie ruhig er die Erlösung hinnahm, als ob er die ganze Zeit überzeugt gewesen sei, daß es so kommen müsse.

Darin hatte er übrigens recht, die Kunst war eigentlich nicht besonders groß, ein jeder hätte es machen können. Immer geradeaus, immer geradeaus, das war das Ganze, wie nach einem Lineal segeln, schließlich eine Drehung machen; weder Stürme, Klippen, noch schwieriges Fahrwasser, quer übers Meer, fünfunddreißig Tage, das war alles! Von morgen an war er wirklich Admiral und dazu Vizekönig, ts, ts, – und wenn er nun in seiner ganzen Herrlichkeit auftrat, würden auch wohl die nicht fehlen, die alle Arbeit an Bord getan, die Segel gesetzt und am Ruder gestanden und die ganze Angst ertragen hatten! Er hatte ja fast keine Furcht gezeigt.

Viele Augen richteten sich in jener Nacht auf den fernen undeutlichen Küstenstrich, ziemlich flaches Land schien es zu sein, keine barschen Berge oder scharfen Klippen, leicht zu bemeistern …; nun kam es darauf an, wer dort wohnte. Ach, da sie weder in einen Abgrund gesegelt waren noch der Himmel auf sie herabgestürzt war, keine Magnetnadel sie angezogen, keine Sonne sie versengt oder Meerungeheuer sie verschlungen hatten, so würde es sich wahrscheinlich auch zeigen, daß dort drüben ganz gewöhnliche Menschen wohnten; auch in dieser Beziehung hatte der Admiral dann eine Aufgabe gelöst, die verhältnismäßig leicht war.

Zwischen denen, die von der Santa Maria zum Lande hinüberblickten, war ein Mann mit einer dicken Oberlippe; er war so taktlos gewesen, einen Kameraden an die Wachslichter zu erinnern, die er der Jungfrau Maria versprochen hatte; flugs hatte er einen auf den Schnabel bekommen, hatte er die Wachslichter zugute? Handgemenge, wobei der Kamerad mit einem blauen Auge davonkam; und so gab es auch einen, der mit einem geschlossenen und einem offenen Auge zum Lande hinüberblickte.

Irgendwo in der Dunkelheit singt Diego in den höchsten Kehltönen, kräht gedämpft wie ein einsamer Wachtelhahn in Frühlingsnächten: wer wohl dort drüben für ihn schlief, das Ohr voll heißer Träume? Die Liebliche, die er in kurzer Zeit erblicken sollte, jetzt, jetzt lebte sie schon und schlummerte unter demselben Mond, sehnte sich vielleicht wie er ihrem Schicksal entgegen – ahnte vielleicht, daß es so nah war!

Auf dem Achterdeck geht der Admiral mit seinem verkleinerten Kopf und seiner neuen großen Würde, die er morgen, in vollem Harnisch und mit den kastilianischen Farben, an Land führen soll. Woran denkt er? Er ist erfüllt von tiefen Gefühlen für die Güte und Gnade Gottes. Große Gedanken, mögliche und unmögliche, beschäftigen ihn, während das Schiff hin- und herschaukelt, die Wellen den Bug umplätschern und die Masten zwischen den Sternen stricheln; jedesmal, wenn das Schiff in seinem Kielwasser dreht, tanzt der ganze Sternenhimmel um sich selbst herum, und ebenso tanzen Welt und Gedanken in seinem Kopf. Was harrt seiner dort drüben?

Seltsam ist die Nacht und warm, die Brise hat sich gelegt und ein Luftzug vom Lande trägt warme Düfte auf das Meer hinaus, viele merkwürdige, kräutrige, geheimnisvolle, starke Düfte von Feuer, Schlamm, Gewächsen, dem ganzen schweren Nachtschweiß, der von den Tropen kommt und wie ein Mantel vom Lande über dem Meer hängt, der uralte, süße, schwangere Lebensgeruch.

Welches Leben? Dem Admiral schwindelt der Kopf. Während der letzten Tage, als sie nach Süden fuhren, war etwas wie eine vergessene und doch bekannte Seele im Wetter gewesen, eine zunehmende Sommerlichkeit, eine Luft der Verjüngung, voll entschwundener Sommer, der Frühling der Kindheit, ein ewiger Mai, Himmel, Luft und Meer wie im immerwährenden Jungfrau-Maria-Monat ruhend …; sollte es möglich sein, würde er, wenn es nun Tag wurde, mit den drei kleinen Schiffen ins Paradies einfahren können, ins Land des ewigen Sommers, in die Gestade der heiligen Jungfrau? Würde er sie zu sehen bekommen?

Der Atem stockt ihm, er bleibt stehen, nimmt sich zusammen. Unmöglich ist es nicht. Aber es darf nicht gedacht werden, bevor es geschieht, so vermessen darf ein Mensch nicht sein. Die ganze Nacht wollen die Gedanken wieder in ihm aufsteigen, aber er hält sie nieder, zwingt sich, an Dinge zu denken, die näher liegen: daß er dort Indiens Küste im Mondschein dämmern sieht, oder die Inseln, die dem Festland vorgelagert sind, wahrscheinlich Antilia, die Gewürzinsel, von wo all die köstlichen Spezereien kommen, man spürt sie ja schon durch den Duft der Nacht; insofern könnte es die Wohnung der Seligen sein. Doch würde dann wahrscheinlich eine größere Leuchtkraft von ihr ausgehen als die einsame Fackel, die er gesehen hatte.

Und dennoch, ist die Ewigkeitslampe, die in der Kathedrale vor dem Bild der Jungfrau brennt, ein großes Licht, ist sie nicht wie ein einsamer Funke mitten in einem Meer von Dunkelheit? Wie groß war das Licht, das die Hirten in jener Christnacht, als die Mutter Gottes ihren Erstgeborenen wickelte, aus der Herberge schimmern sahen? Der Duft, der ihm durch die Nachtluft zugetragen wird, die Feuerstätten auf der Insel mit wohlriechendem Holz, sind sie nicht wie das Räucherwerk, die Kathedrale, und alles, was sie in ihren Zauberkreis zieht? Er wagt die Gedanken nicht zu Ende zu denken, sie erregen ihn maßlos – ist der Garten Eden ihm nah? Mit Gewalt zwingt er sich wieder zu menschlichen Spuren zurück.

Mit Mühe hält er die Überzeugung in sich wach, daß es Antilia ist, die dort liegt, und überlegt, was ihrer dort wartet und ausgerichtet werden muß.

Flüchtig kehren seine Gedanken auch nach Spanien zurück: Die Kleinmütigen dort, er gedenkt des vielen Spottes, und der Mensch wird in ihm wach – unten auf dem Schiff hören sie den Admiral prusten, wie ein Pferd im Zaumzeug – der Admiral und Vizekönig dort oben scheint wild geworden zu sein!

Droben auf dem Achterkastell aber hat der junge Pedro Gutierrez heute nacht wieder Wache. Er ist schweigsam, blickt forschend zum Mond hinauf, blickt forschend zum Lande hinüber. Das Schicksalsbuch ist dunkel wie diese Nacht, nur der blutige Mond leuchtet wie eine rote Initiale. Ahnt ihm etwas? Wenig nur weiß er, doch soll er nicht unter denen sein, die Spaniens braune Küste wiedersehen. Nie soll er den Guadalquivir wiederschauen!

 

Sonnenaufgang am 12. Oktober, die lange grüne Insel im vollen Tageslicht, eine gute Meile entfernt. Die Segel gesetzt, knarrendes Takelwerk und freudiger Gesang der Mannschaft, festliche Fahrt auf das Land zu!

Voran Pinta, der flotte Segler, steif in der Brise die Wellen mit sicherem Nicken teilend, hinterdrein Nina, wie immer mit Grazie, eine Verbrämung von Schaum um sich breitend, mädchenhaft im Wasser knixend; und zu guter Letzt die Santa Maria, mit gekrümmtem Rumpf, wie das Viertel eines Rades, die Nase tief ins Wasser tauchend und die Wellen mit unnötiger Heftigkeit pflügend, aber auch sie folgt mit, und bevor sie da ist, geht es nicht los.

Der Tag ist blau, die See, der Himmel; fliegende Fische streichen vor dem Schiff aus den klaren, tiefen Wellen, wie ein Vortrab von nassen, sonnenglänzenden Seelen des Meeres, und zwischen den Schiffen spielt eine befreundete Schar Delphine, meerjungfräulich; auch sie galoppieren auf die Küste zu, auf der Höhe der Wogen, das Ganze wie ein Bild, wie eine Apotheose des Meeres und der glücklichen Entdecker.

Bald sehen sie Rauch am Lande, das Wahrzeichen menschlicher Wohnstätten, Bäume und grüne Wiesenstrecken öffnen sich dem Blick, es ist eine schöne, handgreifliche Insel, mit einer Brandung ringsum, leibhaftig, ausgezeichnet.

Der Admiral steht hoch auf dem Achterdech von früher Morgenstunde an im höchsten Staat, von Kopf bis Fuß in Eisen, dazu der Scharlachmantel – puh, warm muß das sein, man bedenke, in vollem Harnisch! Die Mannschaft blies sich den Schweiß von der Oberlippe, stöhnte vor Hitze, in leinenen Hosen, den Panzer auf dem bloßen Leib. Der Staat war wahrlich nicht zum Vergnügen allein, man mußte dafür leiden! Außer dem Eisenpanzer, aus blauen Platten und Schuppen, trug der Admiral einen Helm mit einer Feder des Vogel Strauß, vermutlich Bergegut von seinen Reisen in Afrika. Den ganzen Staat hatte er mit sich geführt und aufbewahrt, so sicher war er seiner Sache gewesen! An den Beinen hatte er nagelneue hirschlederne Wasserstiefel, man stelle sich vor, Wasserstiefel bei seiner Beinlänge, ein einzigartiges Paar Stiefel, jeder einzelne konnte eine Tonne Weizen fassen! Solche Sehenswürdigkeiten gab es zu Hause, und man war so weit gereist, um Merkwürdiges zu sehen! Das war freilich etwas anderes als die alten geflickten Schnabelschuhe, – wo waren sie übrigens geblieben, müßte man sie nicht aufbewahren, selbst wenn sie ein Wrack waren, als Reliquien? Um auf die Stiefel zurückzukommen, es war doch komisch, daß der Admiral während der ganzen Seereise Schuhe getragen hatte, und jetzt, wo man an Land gehen wollte, zog er Wasserstiefel an! (Freisprache von Diego).

Der Admiral hört Gelächter und frohen Zeitvertreib unter sich auf Deck, ist aber selbst sehr ernst. Ist er nicht zu ernst an diesem wonnigen Tage, wo alles singt und alle Welt ihm in seiner Glorie entgegenlächelt?

Hätte jemand den Admiral zeitig am Morgen beobachtet, als die Sonne aufging und die Umrisse der Insel in ihren Strahlen zum Vorschein kamen, dann hätte er gesehen, wie es sich wie ein Schatten auf sein Gesicht legte, und je klarer die Aussicht wurde, desto dunkler schien er zu werden. Und seither war er ernst geblieben.

Jetzt aber sehen sie, wie er sich aufrichtet, die Brust wölbt und den Befehlshabern winkt. Als sie neben ihm auf dem Achterkastell Aufstellung genommen haben, tut er ihnen kund, daß die Insel einen Namen haben soll, noch bevor sie landen, sie soll nach dem Erlöser genannt werden und San Salvador heißen.

Juan de la Cosa blickt überrascht auf – soll das Land nicht nach der Mutter Gottes genannt werden, in deren Namen die Reise unternommen ward? Der Admiral aber schweigt, und es bleibt bei dem Gesagten.

Hochragend hebt er sich vom blauen Himmel ab und blickt dem Lande entgegen, mit den verwachten geschwollenen Augen blinzelnd, er sieht, wie die Brandung sich an der Küste bricht, wie weiße Gestalten, die aus dem Meer springen, sich einen Augenblick halten und wieder zurücksinken, ein lautloses Spiel, das den Seeleuten wohlbekannt ist, es sind die Geister von draußen, die beständig Land suchen. Die Orgel des Meeres umtost ihn, wie sie es so viele Wochen und die meiste Zeit seines Lebens getan hat, ein Ton, der zu einem Teil seines Selbst geworden ist; der Wind greift seinen trägen Harfenakkord in Takel und Tauen, auch ein Teil seines Selbst, es braust, wogt, singt in ihm und um ihn herum, der blaue Tag atmet und ist stark, vorm Bugspriet springt eine farbige Seele in die Luft und verschwindet wieder, der Regenbogen in fliegenden Tropfen, hinter ihm erklimmt die Morgensonne den Himmel, und vor ihm breitet sich der Tag.

Und wie er dort steht, unter fliegenden Wimpeln und Bannern, wahrend die Schiffe sich über dem Meeresspiegel salutieren, Feuer aus den Hälsen der Kanonen speit, treibende Rauchwolken, Vögel erschrocken auffliegen, ein Jubelchor der Mannschaft erschallt, wie er dort steht und dem neuen Land entgegenblickt, schwillt ihm das Herz und er sieht sein Leben vor sich, das Leben hinter ihm ist machtlos, jetzt erst will er die Reise beginnen!

 

Aber sie war zu Ende. Viel, viel stand ihm noch bevor, schwerere Jahre, als er gehabt hatte, kleine Triumphe und ein Abgrund von Beschwerden, die Schrift, die auf der Tafel der Geschichte am tiefsten eingegraben ward.

Der Schatten, der an jenem Morgen über sein Gesicht huschte, sollte der Hoffnung weichen und wiederkehren, bis alle Hoffnung vertrieben und von seinem Gesicht nichts anderes als eine Maske übrig war, die stumme Form, die der Tod verleiht.

Arbeit, Menschenlos erwartete ihn noch, sein Werk als Werkzeug der Zeit aber war abgeschlossen. Durch die Macht, die in seinem Herzen war, war es ihm gelungen, die Zeit über sich selbst hinauszuführen, jetzt sollte sie in seinem Kielwasser folgen und dann über ihn hinwegfegen, der Weg war offen.

Hinter ihm, in dem Europa, das er verlassen hatte, standen die Seelen dicht gedrängt bis an die Ufer, jetzt würden sie sich gegenseitig ins Meer und hinüberschieben, der Fährmann hatte ihnen den Weg gezeigt. Der Trieb im Blut seiner Vorfahren hatte sie zum Süden geführt, jetzt hatte er denen, die nach ihm kamen, den Weg zur anderen Seite der Erde geöffnet.

Landeroberung und Besitznahme sollten von anderen übernommen, das Thema ohne ihn fortgeführt werden. Er selbst verfolgte noch eine Zeitlang die Ziele Sterblicher, von dem Augenblick aber, als er das Licht in der Nacht gesehen und die Brücke über den Atlantischen Ozean geschlagen hatte, war sein Wesen in die Zeit übergegangen.


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