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Mirbeau und Natanson: Das Heim

Kein Grund zu neuer Empörung. Es wird wirklich langweilig, jeden transleithanischen Zeilenschinder sein reines Deutschtum gegen die entsittlichende Macht welscher Pornographen – zum höhern Ruhm wessen? schließlich ja doch nur unsrer Sudermänner – verteidigen zu hören. Ein Mann wie Mirbeau war immer und wird immer bleiben: ein Spekulant. Nichts dümmer als das. Man betrachte einmal ganz unbefangen dieses ›Heim‹. Wird ein Spekulant mit allen Machthabern anbinden, gegen Akademie, Parlament, Klerikalismus – ich will nicht pathetisch sagen: zu Felde ziehen, aber immerhin Spott und Hohn richten? Wird ein Spekulant, als welcher sich ja wohl dem Publikum gefällig zu machen sucht, unerhörte Greuel auf die Bühne schleppen, von denen sich Männer und Frauen entsetzt und gepeinigt abwenden? Wird ein Spekulant vier Stunden lang mit kunstlosester Umständlichkeit und in pedantischer Vollständigkeit seine sozialen Beobachtungen ausbreiten, statt in zwei Stunden einen runden, knappen, theatergerechten Ausschnitt zu geben? Oder wäre das über Mirbeaus Fähigkeiten gegangen? Man muß sich schon der Erinnerung an seine frühern Leistungen entschlagen, um es anzunehmen. Er konnte abermals ein Epigramm, wie den ›Dieb‹ und die ›Brieftasche‹, oder einen Reißer, wie ›Geschäft ist Geschäft‹, verfassen – und er verachtet alle Techniken und Tricks, um einfach das Bild eines Sumpfes so getreu zu zeichnen, daß es förmlich zu duften anfängt. Es liegt also nahe, den Vorwurf des Spekulantentums, der sich nicht aufrecht erhalten läßt, durch den Vorwurf eines überwundenen Naturalismus zu ersetzen. Aber müssen denn überhaupt Vorwürfe erhoben werden? Ich sehe ein Stück Leben, das nicht um seiner selbst willen, sondern zu satirischen Zwecken dargestellt wird. Etwas ist faul im Staate Frankreichs. Kinder werden schamlos ausgebeutet, fallen sadistischen und lesbischen Gelüsten anheim und haben so lange in verschlossenen Wandschränken zu stehen, bis sie krepieren. Präsidenten derartig humanitärer Anstalten, Abgeordnete und Unsterbliche zugleich, unterschlagen die Gelder wohltätiger Bürgerinnen und dulden, ja fördern im Interesse der eigenen Existenz und Reputation das einträgliche Dirnentum ihrer Frauen. Die Presse wird gekauft. Die Regierung deckt, unter gewissen Bedingungen, den Mantel katholischer Nächstenliebe über Sünden und Sünder. Alles bleibt beim alten. Darf aber nicht genau so, wie in den Leitartikeln weniger unabhängiger Blätter, von der Bühne herab der Versuch gemacht werden, die Verhältnisse durch schonungslose Aufdeckung zu verbessern? Erfordernis ist nur, daß diese Verhältnisse richtig geschildert werden, und daß die Schilderung über ihre Richtigkeit hinaus aesthetischen Wert erhält.

Ob die Schilderung Zustände und Modelle richtig wiedergibt, weiß ich nicht. Aber sie klingt in sich wahr. Das Stück hat vier endlose Akte. Darin wird man viele belanglose, viele brutale, viele widerwärtige Züge, aber nicht einen einzigen falschen Zug finden. Mirbeau hat für die Niedrigkeiten und Verlogenheiten seiner Mitmenschen jenen bösen Blick, der nicht zu betrügen ist, und der sich an der Freude über sich selber immer von neuem entzündet. Daher diese Verbissenheit der Detailmalerei, diese Gefräßigkeit eines menschenfeindlichen Sarkasmus, der sich stark genug fühlt, um mit den Gesetzen dramatischer Komposition nach Gutdünken umspringen zu können. Eine Exposition von fast chinesischer Dauer; eine Elendsphotographie, die für die Handlung entbehrlich ist; Katastrophe; Arrangement. Man sieht sofort, daß die erste Hälfte auf der Bühne verpuffen, die zweite einschlagen wird. Aber gerade diese freiwillige Enthaltsamkeit eines erprobten Handwerkers ist sympathisch. Ich schätze in der ersten Hälfte alles, was fehlt. Es fehlt die mühsame Vorbereitung von Nervenchocs, die planvolle Minenlegung zu krachenden Kulissengewittern. Es fehlen Geschraubtheiten und Sentimentalitäten. Es fehlt die anklägerische Geste, das polemische Temperament, der laute Eifer für die bessere Sache. Von dieser Ruhe auf die innere Uninteressiertheit oder gar auf die Heuchlernatur eines Satirikers zu schließen, ist doch wohl jämmerliche Psychologie. Er glaubt nur, sein kleines oder großes Weltbild, seinen Beitrag zur Sittengeschichte, sein document humain in dem Augenblick zu fälschen, wo er sich erweichen oder erhitzen läßt. Er hält den kalten Blick, dem durchaus kein kaltes Herz zu entsprechen braucht, unbeirrt auf sein Ziel gebannt und erinnert sich erst im dritten Akt, daß er ja seiner unaufgeregten und deshalb um so aufregendern Philippika die Form eines Schauspiels gegeben, daß er eine Art Fabel angezettelt, und daß diese nun auch weiter und zu Ende geführt werden muß.

Es geschieht in der zweiten Hälfte, und nachdem mich bis dahin Octave Mirbeau mitsamt seinem Kompagnon Thadée Natanson von seiner ernsten Absicht überzeugt hat, beweist er mir jetzt seine Befähigung zum Dramatiker. Der Sumpf gerät in Bewegung und droht zwei Menschen in seinem Schmutz zu ersticken. Wie sie sich in der Gefahr benehmen, und wie sie von einem Dritten daraus gerettet werden: das bildet den Inhalt der letzten beiden Akte, gegen die es ein nichtssagender und aus einer kunstfremden Region geholter Einwand ist, daß es den Reinen schaudert, diesen drei Menschen die Hände zu reichen. Dramenfiguren können überhaupt nur zwei Todfehler haben: schlecht gezeichnet und in unwahre Situationen gestellt zu sein. Mit ihrer Verderbtheit will ich mich abfinden; mit der Ohnmacht ihres Autors niemals. Mirbeau also läßt einen Zusammenbruch erfolgen, in dem jener unsterbliche Abgeordnete als Defraudant und Zuhälter, die eigene Frau als würdige Genossin seiner Schmach und ihr zahlungsfähigster und gichtbrüchigster Liebhaber als unersättlicher Faun nicht zum ersten Mal, aber im intensivsten Maße sich enthüllen. Dies ist Mirbeaus persönliche Note. Bei uns pflegt man alle Franzosen in einen Topf zu werfen. In Wirklichkeit liegt es so, daß etwa Bataille mit schauerlichen Ereignissen droht, die nie eintreten; daß Bernstein schauerliche Ereignisse heraufbeschwört, die niemand erwartet hat; und daß Mirbeau schauerliche Ereignisse gar nicht um ihrer selbst und ihres theatralischen Effektes willen, sondern nur zur grellern Beleuchtung menschlicher Gemeinheit gebraucht. Ein Familienidyll. Wir erkennen es gleich am Anfang; aber am Ende erstrahlt es in augenbeizendem Schwefellicht. Von diesem Anfang zu diesem Ende führt eine dramatische Linie, die wenig gekurvt, aber mit witzigen Bosheiten, politischen Pointen und Aphorismen zur Lebensweisheit, wie mit Stacheln und Dornen, aufs amüsanteste eingefaßt ist. Wir sind habgierig und verlangen dazu noch leibhafte, nicht blos flächenhafte Menschen. Im Buch werden sie vielleicht nicht zu finden sein. In den Kammerspielen gab es eine üppige Menagerie.

Es ist wieder einmal eine ganz geglückte, eine schlagende, geistig belebte, höchst appetitliche Aufführung; und wenn mir nicht das Stück an sich gefiele, so wäre ich wahrscheinlich unliterarisch genug, es mir um dieser Aufführung willen gefallen zu lassen. Fast jede, auch die kleinste, Nebenfigur hat ein Gesicht: das lustigste Hans Pagay als alter jüdischer Fapresto, das bedrohlichste Frau Margarete Kupfer als sadistisch-lesbische Mädchenaufseherin. Der Präsident ihres ›Heims‹ ist Herr von Winterstein, dem es vorzüglich gelingt, Hochmut und Geducktheit, geölte Würde und innere Angst zu vereinen. Als es mit der Herrlichkeit zu Ende ist, nimmt Herr von Winterstein glücklicherweise nicht die Gelegenheit zu einer Soloszene wahr, sondern hält sich mit einem möglichst beschleunigten Ausbruch in den Grenzen des Ensembles. Seine Frau ist die Durieux, die sich, wie immer, einen berückenden Luxus an anmutigen Linien leistet und noch als Dirne Dame bleibt. Der Gichtknoten schließlich ist Wegener, der sich immer freier und reicher entfaltet und mit diesem sechzigjährigen Millionär eine Figur von delikatester Drastik geschaffen hat, schlauen Kerl mit einem Fond von Ironie und Überlegenheit, den nur ein quälender sexueller Heißhunger auf diese bestimmte Frau um Ruhe und Besinnung bringt, bis er sie endlich, endlich mit stillfrohlockender Schadenfreude kapitulieren sieht. Der Weg von Mirbeau bis Shakespeare ist weit: aber nach dieser prachtvoll saftigen Gestalt möchte man Wegener auch einen Falstaff zutrauen.


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