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Ibsen: Gespenster

Am achten November 1906 wurden die ›Kammerspiele‹ mit Ibsens ›Gespenstern‹ eröffnet. Aber ich bin des trockenen Tons nach diesem einen Satz schon satt. Ich werde nicht an mich halten und kritisch tun und sondern und abwägen. Wer hier nicht jubelt, fälscht seinen Eindruck, wenn anders er überhaupt fähig ist, Kunst zu empfinden. Ich wenigstens habe niemals und nirgends einen ähnlichen Eindruck an mir verspürt, noch an einem ganzen Publikum bemerkt. Hier blieb kein Erdenrest, zu tragen peinlich. Eine Kritik, die das Erreichte am Erreichbaren mißt, hat einmal nichts zu messen. Sie kann nur suchen, dem Geheimnis dieses ungeheuern Eindrucks auf die Spur zu kommen.

Jede Kleinigkeit zählt mit. Der Zuschauerraum ist nicht breiter als die Bühne, liegt nicht tiefer als die Bühne, ist von ihr durch kein Orchester, keinen Souffleurkasten getrennt und hat es darum leicht, von unvergleichlicher Geschlossenheit und Intimität zu sein. Im Hintergrund der Szene ist uns eine Menschengruppe näher als sonst dicht an der Rampe. Kein Hauch geht verloren. Das ermöglicht einer Gemeinschaft von Schauspielern die Spielweise, die bisher das Vorrecht Sauers und der Duse war. Diese Feinheit wird da wenig nützen, wo die Muskeln wichtiger als die Nerven sind; und sie wird dem wenig nützen, dessen Wesen eine Rolle gänzlich widerstrebt. So war es das Glück unsrer Eröffnungsvorstellung, daß fünf Menschendarsteller mit ihrem Blut und ihren Nerven fünf Dichtergebilde zu begaben hatten, die gerade durch dieses Blut und diese Nerven lebendige Menschen werden konnten und werden mußten.

Durch die Art seiner fünf Darsteller war dem Regisseur die Auffassung der ›Gespenster‹ fast vorgeschrieben. Brahm als Ibseninterpret war vor lauter Sachlichkeit grau geblieben; die Russen waren bis zur Unsachlichkeit bunt geworden. Hier kam zu der angeborenen Farbenfreudigkeit wahrhafter Spieltemperamente ein durch Bildung und Beispiel erworbener Respekt vor dem größten Dichter seiner Zeit. Diese Mischung verhieß einen guten Klang. Nicht zu dünn und nicht zu grell. Voll, warm, tief, aus den Herzen in die Herzen. Ibsens Herz war ja nach seinem Tode entdeckt worden. Jetzt mußte der Ton nicht mehr auf die Empörerstimmung, sondern auf den Mutterschmerz gelegt werden. Das Aufrührerdrama war für uns längst von den Resignationsdramen überholt worden. Jetzt galt es den menschlichen Gehalt, nicht mehr die Tendenz. Die Tendenz der ›Gespenster‹ hat unsre eigene Sittlichkeit reformiert; sie ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, ist von uns aufgebraucht worden; sie hat ihre Schuldigkeit getan; sie kann gehen. Ewig jung bleibt Ibsens Menschlichkeit. Sie ganz und rein ans Licht gehoben zu haben, ist der Fortschritt, die Tat und die unsägliche Schönheit dieser Vorstellung.

Diese neue Vision der ›Gespenster‹ hat Reinhardts Genialität so restlos in künstlerisches Leben umgesetzt, daß daneben seine wertvollsten Leistungen geringer werden. Jeder Satz scheint eben erst geboren. Jede Situation hat ihr eigenes Gesicht. Jede Pause hat ihre Bedeutung. Jede Figur steht richtig im Raum. Jede Nuance dient dem großen Zug. Nichts stört, nichts ist Selbstzweck. Wer, weil er naturgemäß aus andern Augen sieht, um Einzelheiten rechten wollte, müßte vor der Evidenz verstummen, die diese Einzelheiten in gerade diesem Ganzen haben, und die dieses Ganze selber hat. So wüßte ich nicht, was ich mir an Reinhardts Engstrand, was an Fräulein Höflichs Regine etwa anders wünschen sollte. Sint ut sunt aut non sint. Die Regine der Sorma hat vor Jahren die Brahmsche Vorstellung beherrscht. Hier wäre dergleichen ein Unheil. Hier gibt es nur die Menschen des Dichters, nicht die Personen der Schauspieler. Darum ist es eine solche Wonne, als Manders Kayßler zu hören und zu sehen, der nach all der verzerrenden Heldenspielerei zu sagen scheint: »Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!« und der, zum Vorteil der Gestalt, dem Pastor die Salbung vorenthält. Darum ist es ein entscheidendes Glück für die Aufführung, daß Moissi ein Oswald und doch nicht der Mittelpunkt ist.

Bisher hatten wir nämlich die Wahl. Rittner stand nicht im Mittelpunkt, aber er war nicht wurmstichig, war frisch, gesund, unfähig, je zu verblöden, also mit allen seinen Herzenstönen kein Oswald. Kainz war Oswald, aber Mittelpunkt, nicht als Virtuos, sondern als gefeierter Gast, und verfälschte so unabsichtlich den Sinn der Tragödie, die ja niemals die Tragödie Oswald Alvings gewesen ist. Moissi steht auf dem richtigen Fleck und ist Oswald. Persönliche Anlage und verstandesmäßige oder intuitive Charakteristik geben ein überzeugendes Bild von Oswalds äußerer Erscheinung und seiner geistigen und körperlichen Auflösung. Dieser Oswald geht selbst wie ein Gespenst um, ohne aber, wie Zacconi, auch nur einen Augenblick dem Zuschauer Unbehagen zu bereiten und durch auffällige Symptome den Hausgenossen zu früh seinen Zustand zu verraten. Uns fesselt er durch seine Zartheit, seine Bescheidenheit, seine Hilfsbedürftigkeit. Wenn ihn die tödliche Angst befällt und er sich immer wieder gewaltsam beruhigt, so ist bis zum dritten Akt lediglich das Publikum Zeuge und Mitwisser seiner Seelenpein; nicht die Mutter, die es nicht sein darf. Die Verblödung wird so sorgfältig vorbereitet, daß ihr die effektvolle, aber unwahre Plötzlichkeit genommen wird. Trotzdem bleibt ihre dramatische Kraft gewahrt, da die Mutter tatsächlich so überrascht wird, wie sie nach Ibsens Absicht überrascht werden soll.

Die Mutter! Agnes Sorma! Worte nennen Dich nicht! Alles verblaßt: die Bertens ist ein Aschenputtel, die Dumont eine Volksrednerin, die Butze eine Wirtschafterin, die Hennings eine Salondame, die Bleibtreu eine Heroine. Hier haben wir erst die volle Tragödie. Wie falsch ist es, Frau Alving so intellektuell zu nehmen, als ob sie die revolutionären Broschüren selbst geschrieben haben könnte, während sie ihr doch nur zum Bewußtsein gebracht haben, was dumpf in ihr gelegen hat! Sie hat schon Hirn und hat Geist. Aber ihr Hirn sitzt in ihrem Herzen, ihr Geist in ihrem Instinkt. Herrlich, wie mühelos und erschöpfend die Sorma das trifft! Sie ist, in ihrem weißen Haar, noch die Frau, der man glaubt, daß einmal ein Liebesleben in ihr getötet wurde. Aber sie ist längst auf der andern Seite. So lange schon, daß sie für den komischen Pastor keine Ironie, nicht einmal mehr ein Lächeln hat. Wichtiger als die Vergangenheit Manders ist denn doch die Gegenwart, die Oswald heißt. Und hier verzage ich, das Meer von Liebe und die Gewalt der Schmerzen zu schildern, die die Sorma nicht leidenschaftlich auszuströmen braucht, die sie in einen lächelnden Blick, in ein wehes Zucken des Mundes, in einen zärtlichen Ton, in ein unterdrücktes Schluchzen, in ein Anschmiegen des Kopfes, in ein angstvolles Hochziehen der Augenbraunen, in eine jähe Umarmung, in die winzigste Bewegung des alltäglichen Lebens zu legen weiß. Ecce homo! Ecce mater dolorosa!


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