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Es ist schade um ihn. Er hätte von Hause aus das Zeug, im Mittelpunkt einer dramatischen Dichtung die ungewöhnliche Existenz zu führen, durch die sich tragische Helden von den mittelmäßigen Söhnen dieser Erde unterscheiden. Aber Herbert Eulenberg hat in diesem seinem jüngsten Schauspiel nicht das Zeug, viel mehr als die Peripherie lebendig zu machen. Ein deutsches Kleinfürstentum zu Mozarts Zeit. Mit ein paar Strichen steht es da: französelnd, zopfig, physiognomielos; ein Gefängnis. Es ist das Drama denkbar, daß Fürst Ulrichs sehnsuchtsvoller Feuergeist die Fesseln sprengt und in der großen Welt, entwurzelt, untergeht. Es sind noch andre Dramen denkbar. Eins, gleichviel welches, hätte Eulenberg erleben und gestalten müssen. Er fängt auch verheißend genug an. Er erzählt nicht blos, sondern er zeigt, wie Ulrich leidet: durch die Dummheit, die Servilität, die Untermenschlichkeit der Schranzen, und wie Ulrich liebt: sein junges Weib, voll von Musik, zum Menuettschritt wie geschaffen, ein Mondscheinseelchen und seit kurzem Mutter. Die Taufe gibt Gelegenheit, den kargen Glanz, die Enge und die Glücksenklave des Duodezhofs in schnellen Bildern, unaufdringlichen Kontrasten und träumerischer Lyrik zu entwickeln. Dieser erste Akt zeigt Eulenberg auf seiner Höhe. Die Gemeinschaft, die er malt, hat, ob sie dumpf ist oder licht, bei allen trüben Ahnungen zunächst idyllischen Charakter. Da naht das Schicksal – roh und kalt …
Es muß nahen, wenn ein Drama entstehen soll, und es hat die Eigenschaft, verhältnismäßig roh und kalt zu sein. Selbst Schicksale von einer schreienden Sinnlosigkeit sind gar nicht selten. Das Schicksal, das Eulenberg ausgedacht hat, ist die Voraussetzung des Dramas. Bei solchen Voraussetzungen darf man nicht allzu heikel sein. Wenn es nicht anders geht, mag der Dramatiker auf einem Zufall, meinetwegen auf einem höchst unglaubhaften Zufall bauen. Aber Eulenbergs Voraussetzung, die seines Helden Schicksal wird, ist von vollkommener Unnatur, ist schlechterdings unmöglich. Den Fürsten Ulrich haßt die eigene Mutter so, daß sie sein Weib vergiftet, um ihn auf diese Weise aus dem Weg zu räumen. Ein zuckersüßes Mütterchen; Sophie heißt die Kanaille. Was ist ihr Ziel, und was ist ihr Motiv? Sie will den zweiten Sohn als Herrscher sehen, und sie verabscheut ihren ältesten, seitdem er ihr bei der Geburt besonders schmerzhaft zugesetzt hat. Aus solchem Grunde pflegen Mütter ihre Kinder dreifach heiß zu lieben. Solange dieser Grund von Eulenberg hintangehalten wird, steht man vor einem Rätsel. Man möchte fast wünschen, daß diese Mutter mit ihrem zweiten Sohn durch jene nahe Beziehung verknüpft wäre, die Geijerstams Nils Tufvesson an seine Mutter fesselt. Das würde die Sache noch grausiger, aber zugleich möglich machen. Es läge ein pathologischer Fall von Naturwidrigkeit vor, der immerhin in seiner Unerbittlichkeit und Unbezwingbarkeit grandios sein könnte. Eulenbergs Fall, sobald er sich aufklärt, ist pathologisch, ohne irgendwie groß und ohne auch nur einen Augenblick überzeugend zu sein. Es ist eine Monstrosität von krassester Willkürlichkeit, und wenn der ältere Sohn, im vierten Akt, an der entmenschten Mutter das Strafgericht vollzieht, dann entspinnt sich eine Szene, die in einem Publikum für Autodafés und Stiergefechte die rechte Resonanz finden würde.
Dann sieht es so aus, als führte Eulenberg sein eigenes Motiv ad absurdum, indem er den Fürsten Ulrich, der nach dem Tode seines Weibes in die Wildnis gestürmt ist, zur Heimkehr bestimmt werden läßt – wodurch? Durch die Kunde, daß sein Kind von der freundlichen Großmutter in den Stall geworfen worden ist und dort verblödet. Aber es ist nicht so ernst gemeint. In Eulenbergs Welt wird nicht aus psychologisch kontrollierbaren Beweggründen, sondern aus jähen Impulsen gehandelt. Derselbe zärtliche Vater hat ja das Kind vergessen, als ihn der erste Schmerz um sein Weib überwältigte, und er vergißt es wieder, da er zum Schluß in die Wildnis zurückflüchtet. Er hält sicherlich, mit Seumes Kanadier, sich und seine wilden Brüder aus Eulenbergs Blut für bessere Menschen. Sie sind nur primitivere Menschen. Sie sind in jedem Moment voll von Empfindung, aber es braucht nicht immer dieselbe Empfindung zu sein. Sie sind Balladenexistenzen, und ihr Erzeuger wird nicht früher siegen, als bis er entweder diese Geschöpfe in ihre eigenste Gattung, nämlich in die Ballade, verpflanzt oder zu der Einsicht kommt, daß das Drama eine andre Art von Lebewesen erfordert. Tatsächlich fehlt Eulenberg zu einem Dramatiker nichts, als die Fähigkeit, dramatische Menschen zu schauen und körperhaft zu machen. Wie im ›Blaubart‹, so ist in manchen Szenen des ›Ulrich‹ ein Atem und eine Schlagkraft, die zu selten geworden sind, als daß sie nur so obenhin anerkannt werden dürften. Wie dort, so hier kann dieser melancholische, sehnsuchtsbange, wirklichkeitsscheue Dichtersmann zu Zeiten sich aufrecken, kann er ausgreifen, packen und festhalten. Er hat szenische Visionen von der sinnlichen Farbe der starken, naiven, ungebrochenen Theaterinstinkte. Wenn, im zweiten Akt, die junge Fürstin gestorben ist und Ulrich zwischen der Toten, dem konventionell ergriffenen Hofstaat und dem Verbrecherpaar hin- und hergerissen wird, so steht einer legitimen Wirkung von äußerster Gewalt nichts im Wege als eben die lächerliche Fragwürdigkeit der Todesursache. Wie schön könnte der (dritte) Akt im Walde sein, ließe sich nur der Einwand beschwichtigen, daß es bei einem halbwegs vernünftigen Verlauf der Dinge nie bis dahin gekommen wäre. Im vierten Akt denkt man an Hebbels ›Nibelungen‹ und ihren unheimlichen Schlußakt. Ähnlich wie dort Volker der Spielmann nachts im Burghof sitzt, die Heunen scheucht und todgeweiht ist und voll Sterbensstimmung, so sitzt hier Masolino mit einer Geige unter einem Baum, während nebenan im finstern Turm der Sohn die Mutter zur Strecke bringt. Die beiden Elemente Eulenbergscher Poesie sind da vereinigt: eine weiche, durchempfundene, märchennahe, musikalisch abgetönte Lyrik und eine groteske Schaurigkeit, die unbekümmert über alle Forderungen der Menschenmöglichkeit hinwegsetzt. Sobald Eulenberg gelernt haben wird, seine phantasievolle Kraft in den Grenzen der Menschenmöglichkeit zu entfalten, wird die Bühne seinen unablässigen Umwerbungen erliegen. ›Ulrich Fürst von Waldeck‹ hat ihn seinem Ziel nicht sonderlich genähert.
Das Deutsche Theater scheint von vornherein kein Zutrauen zu dem Stück gehabt zu haben: es hätte wohl sonst nicht bis in den Mai damit gewartet. Vielleicht wollte es aber auch durch die Wahl dieser theaterfeindlichen Jahreszeit einen Skandal verhüten, zu dem sich etwa im Oktober entzündbare Gemüter durch das metzgerhafte Duell zwischen Mutter und Sohn hätten hinreißen lassen können. In der Aufführung war jedenfalls von Unlust oder Argwohn nichts zu merken, was bei gefährlichen Premieren in Berlin bekanntlich keineswegs so selbstverständlich ist, wie es sein sollte. In der Ausstattung hatte man sich nur für den Waldakt jeden Einfall erspart: dieser lückenlose Blätterteppich hinter den plastischen Stämmen des Vordergrundes – welch eine üble Mischung von Schlendrian und Fortschritt! In der Darstellung war individualisierendes Bestreben einheitlicher. Drei Gruppen unterschieden sich nicht so sehr durch ihre Schauspielkunst wie durch ihre Stellung im Drama. Den Hintergrund bildeten drei fürstentreue Seelen von durchschnittlicher Menschlichkeit. Herr Josef Klein, eine Spezialität für alle Sorten Horatios; Herrn Biensfeldts Masolino, mehr Vasall als Künstlerblut; ein paar Sprossen höher Hans Pagays Hassenstein, das leibhaftige Zeitkolorit, die verkörperte Achtzigjährigkeit, ein beschränktes Hirn, aber ein goldenes Herz. Links davor das Verbrecherpaar. Paul Wegener von löblicher Entsagungsfähigkeit, von einer bleichen, nervenfeinen Diskretion und glücklich pierrothaften Zügen; Frau Mangel, als die mütterliche Puppenspielerin, von unbeabsichtigter Komik frei, allein für diese vorsintflutliche Bestialität zu bürgerlich. Rechts das sinnlos tot- und wundgehetzte Wild. Fräulein Eibenschütz, in ihrer einen kleinen Szene, von einer abendmatten Lieblichkeit in Bild und Klang. Als Titelhelde Friedrich Kayßler: in allen stillen Schmerzlichkeiten herrlich; in allen Ausbrüchen von exaltierter Mimik und einem lange überwunden geglaubten Pathos.