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Maeterlinck: Aglavaine und Selysette

Die zwei Menschen, die Maeterlincks Dichtung den klangvollen Namen gegeben haben, sind Frauen, aber nicht Mütter. Das ist kein Zufall. Ein Kind würde bei der, die es gebar, und bei dem, der es zeugte, einen Körper voraussetzen. Maeterlincks Gestalten sind körperlos. Sie haben eine Großmutter und eine Schwester, aber weder haben noch sind sie Eltern. Sie kommen aus dem Märchen her. Sie erleben in einem Märchenschloß, in einem Märchenpark, an einem Märchenweiher, auf einem Märchenturm ein einfaches Märchenschicksal der großen, verwandelnden, entsagenden, verklärenden und verklärt opfernden Liebe. Daß das Märchen einen Konflikt, eine Entwicklung dieses Konflikts und eine Katastrophe hat, macht es, aller Handlungsarmut zum Trotz, dramatisch. Das Seelchen Selysette, die arme kleine Selysette, die ihren Meleander auf ihre kindlich ahnungslose Art geliebt hat, muß ihn zu Aglavaine hinübergleiten sehen. Aglavaine ist schöner, spricht weise und scheint bedeutend. Es ist nicht ihr Wille, Meleander ausschließend zu besitzen. Ihr Kuß gilt, wenn nicht der ganzen Welt, zum mindesten der ganzen Gemeinschaft dieses Schlosses. Aber der Mann ist ihrem Ideal nicht reif. Er wird schuld, daß Selysette leidet. Leiden macht tief und stark und frei, selbst solch ein kleines Ding wie Selysette. Das Seelchen wird sich in seiner Not des rechten Wegs bewußter, als alle programmatisch kluge und zukunftsstolze Lebensführung sich je werden könnte. Es tut, wovon die andern immerzu nur reden. Aglavaine sieht, daß sie kein Glück gebracht hat, und spielt mit dem Gedanken, den Rückzug anzutreten. Selysette führt den Gedanken aus. Sie räumt sich aus dem Weg und legts mit Umsicht darauf an, den Todessprung als Unglücksfall erscheinen zu lassen.

Das alles ist nicht sonderlich neu. Manch altes Märchen endet so. Maeterlinck wollte ja aber auch gar nichts andres sagen, als daß sich das Leben der Seele in ein paar einfachen und unverändert immer wiederkehrenden Grundempfindungen, wie Sehnsucht, Liebe und Treue, erschöpft. Am reichsten ist, wer sie am innigsten durchfühlt. Am reichsten ist die arme kleine Selysette. Vor ihrer opferfreudigen Selbstlosigkeit steht alle hochgemute Geistigkeit leer und beschämt. Meleander selbst bekennt zum Schluß: »Meinst Du, daß wir etwas verstehen, was Du nicht verstehst? Ach, meine arme Selysette, der Unterschied ist so klein, wenn wir den Dingen auf den Grund gehen.« Maeterlinck ist ihnen auf den Grund gegangen und hat das Ergebnis in spinnwebdünnen Vorgängen und zarten, herzlichen und schlichten Worten ans Licht gebracht. Wer sich zuerst im Buche überzeugte, wie winzig die Begebenheiten von fünf ausgewachsenen Akten, und wie über alle Maßen breit und zahlreich die Gespräche sind, mußte für eine Darstellung viel fürchten. Wer nach der Aufführung der Kammerspiele abermals zum Buche greift, steht, noch erstaunter als während der Aufführung, vor einem Wunder der Bühnenplastik.

Die Aufgabe war schwer und mannigfach. Unwirklichen Vorgängen war so viel Faßbarkeit zu geben, daß unser Anteil erregt wurde, und doch nicht so viel, daß der Maßstab der Realität in Kraft treten konnte. Langen Sätzen von ziemlich gleichförmigem Inhalt mußte so viel von ihrer Eintönigkeit genommen werden, daß unser Interesse wachblieb, und doch nicht so viel, daß etwa Maeterlincks besondere Melodie verloren ging. Es galt, mit dem Bild der Bühne den Ton der Schauspieler zusammenzustimmen, und das Bild konnte bei aller Einfachheit nicht schön genug, der Ton bei aller Lautlosigkeit nicht wohlklingend genug sein. So weit diese Aufgabe von Reinhardt allein zu lösen war, ist sie lückenlos und wahrhaft vorbildlich gelöst worden. Dichte, schwere, hohe Plüschvorhänge in dunkelm Rot schnitten von links nach rechts ein schmales Stück Bühne als ein Gemach ab, ließen durch einen rechteckigen Mittelausschnitt im Hintergrunde einen zweiten, teil- und schließbaren Vorhang sehen und riefen durch diese und andre Öffnungen, die auf Gänge, in Säle und ins Freie führen mochten, den Eindruck eines unheimlichen, weitverzweigten alten Schlosses hervor. Was für das Schloß die dunkelroten Plüschvorhänge, taten hellgrüne Laubflore für den Park, in dem man sich mit ähnlicher Wirkung auch in allen Richtungen Wege denken konnte. Die echteste Märchenstimmung wurde lebendig, wo in solch einem Stück Park hinter einer Marmormauer ein Weiher fühlbar war. Sonne, Mond und Sterne in allen ihren Nacht- und Tagesstadien übergossen oder überhauchten die Landschaft mit matten oder bunten Farbenübergängen. Das Auge trank sich satt. Auf fünf Akte glücklichster Stilisierung kamen nur drei Szenen regelrechter Dekoration. Der Turm war beidemal ein Turm und Selysettes Schlafzimmer ein Schlafzimmer. Aber auch darauf lag volle Poesie. Die Musik des Worts war schwieriger zu treffen. Maeterlinck ist selber an Musik des Worts so reich, daß ein Komponist wie Claude Debussy durch melodramenartige Vertonung ein Werk wie ›Pelleas und Melisande‹ höchstens ärmer machen kann. Die Musik der menschlichen Sprechstimmen wird hier mehr erreichen als Orchester und Gesang zusammen, wenn die Stimmen nur einzeln so geschult sind und symphonisch so herrlich ineinandergreifen, wie es in den Kammerspielen der Fall war. Selysettes Sopran, Malines Mezzosopran, Meligranes tiefer Alt und Meleanders Bariton machten für sich und im Verein einen Eindruck, der auch ohne das Verständnis des gesprochenen Worts künstlerisch klar und rein gewesen wäre. Aglavaine ist da nicht ohne Absicht weggelassen worden. Fräulein Heims war die einzige in der Aufführung, die trotz allem rühmlichen Bemühen den Ton nicht traf, nicht den musikalischen und nicht den geistigen Ton ihrer Rolle. Sie schien nicht immer verstanden zu haben, was sie sagen sollte, weil sie es sonst nicht hätte so laut sagen können, und wenn einmal die Stärke des Tons etwas nicht schlecht machte, machte die unverkennbar berlinische Klangfarbe es ganz gewiß schlecht. Das war eigentlich störender als das Wesensmanko. Wir stehen ja dieser Aglavaine von vornherein, im Gegensatz zu ihrem Dichter, skeptisch gegenüber, und da ihre wortverliebte Weisheit vor Selysettes stiller Herzenseinfalt doch zu schanden werden soll, kommts auf ein bischen früher oder später nicht mehr an. Man war schließlich auch zufrieden, daß Fräulein Heims sich wenigstens in das malerische Element der Vorstellung durch Schönheit der Gestalt und der Gewänder einordnete. Man durfte zufrieden sein, denn die Seele der Vorstellung war die Eysoldt, und hier war einmal die äußerste und innerste Vollendung Ereignis geworden. Aus dieser Kehle kam ein Konzert von Tönen, dem nicht anzumerken war, daß es das feinste Frauenhirn in seiner Wirkung klug und scharf berechnet hatte. Unmittelbarstem seelischen Erleben schien jedes Wort entsprungen. Einzelnen Eysoldt-Sätzen war auch früher mit Bewunderung beizukommen. Hier aber sagt sie einmal: »Du gehst morgen fort.« Sie sagts zu Aglavaine und legt unmerklich in zwei Wörter Freude, in zwei andre Wörter Schmerz über Aglavaines Scheiden, verwischt nicht nur diese Kunstfertigkeit, sondern dazu noch die Kunstfertigkeit des Verwischens und treibt mir Tränen in die Augen. Denn hier ist nicht nur die deutsche Sprache von ihrem Gewicht befreit und zu allen musikalischen Künsten des Zwitscherns, des Sich-Ängstigens, des Fieberphantasierens tauglich gemacht worden: hier wimmert ein kleines Menschenherz, das ein großes Menschenherz werden will, wie in Übergangswehen. Die Eysoldt trifft dann auch die Todbereitschaft Selysettes. Aus ihrem Kinderkörper leuchtet die Ahnung eines heldenhaften Opfers, das sie, mit allen ihren Wunden, stark und standhaft macht. Wenn die Bühne solchen Wirkungen verschlossen bleiben muß, weil Maeterlinck an spannender und abwechslungsreicher Handlung zu wünschen übrig läßt, oder weil er selbst im feinern Sinne kein Dramatiker ist, so stimme ich für das umgekehrte Verfahren: unsre Begriffe von den dramatischen Wirkungen zu erweitern und dem ganzen frühern Maeterlinck die Bühne oder doch die Kammerspiele einzuräumen.

siehe Bildunterschrift

Ludwig von Hofmann: Aglavaine und Selysette. Erstes Bild


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