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Shakespeare: Der Kaufmann von Venedig

Reinhardts Anfänge waren echtes, gutes, aber neues Meiningertum. Zweck und Ziel des alten Meiningertums war gewesen, der dramatischen Aktion durch eine liebevolle Behandlung des szenischen Rahmens zu ihrem poetischen Recht zu verhelfen und die Aufführung jedes Dramas zu einem einheitlichen und unverwechselbaren Kunstwerk zu machen. Das war auch Zweck und Ziel des neuen Meiningertums. Aber die Mittel waren grundverschieden. Dort war die bildende Kunst dazu benutzt worden, ›natürliche‹ Milieus zu schaffen, durch naturgetreueste Illustration über die gleichgültige Wahrheit der Außenwelt zu informieren. Hier hatte die bildende Kunst nicht ›Wirklichkeit‹ wiederzugeben, sondern durch tiefgründige Umbildung der äußern Dinge, durch die einfachsten Grundformen von Farben und Linien, durch das melodische Weben der Perspektiven und Fernsichten das innere Wesen des Dramas zu veranschaulichen. Dort war der Maler der Gehülfe des Regisseurs gewesen; hier war er der dienende Pair des Dichters. Dort hatte die Geschichtsechtheit gegolten; hier galt die Stimmungsechtheit. In diesem Sinne hatte Reinhardt ›Salome‹, ›Elektra‹, ›So ist das Leben‹ und manches andre Werk nachgebildet und gleichermaßen über den Hang zur Dürftigkeit wie zum Protzentum gesiegt. Jetzt hat er am ›Kaufmann von Venedig‹ dasselbe edle Rettungswerk geübt.

Die Aufführungen seit der Zeit der deutschen Shakespeare-Renaissance bis heute hatten fast alle aus dem Lustspiel des königlichen Kaufmanns von Venedig ein Trauerspiel des zu Tode gehetzten Shylock und damit seines ganzen Volkes gemacht. Von den paar Versuchen, sich von dieser Auffassung zu befreien, hat keiner so viel Glück gehabt wie der Reinhardtsche. In frühern Fällen lag es an der Unzulänglichkeit des Shylock, wenn etwa ein Bassanio oder eine Porzia vorherrschten. Hier hatte ein bewußter fester Wille das christliche Element in die Mitte geschoben. Dieses Völkchen bildet nicht den lichten Hintergrund für Shylocks düstere Gestalt, sondern Shylock ist der Störenfried, der unter dieses Völkchen tappt. Venetianische Lebenslust ist die Dominante der Aufführung, hebräisches Lebensleid nur ein dissonierender Ton. Wer auftritt, hüpft vor Freude; wer abgeht, trällert vor sich hin. Bei Bassanios Kästchenwahl verdichtet sich dieser Frohsinn zu einer Reihe von »Leibern junger Mädchen, welche singen«, bei Jessicas Entführung zu einer schwellenden Serenade der jungen Kavaliere. In der meisterhaft abgetönten und grandios gesteigerten Gerichtsszene ist nichts so packend wie der Schrei der Erlösung beim Urteilsspruch. Die volle Höhe wird erreicht, wenn auf den Jammer der Jubel folgen darf. Der fünfte Akt ist von einem Märchenhauch umflossen, vom Vorgefühl süßer Wonnen durchglüht. Shakespeares erotische Poesie, die von Mondschein und Liebesgirren lebt und duftig ist wie ein Traum, wird im Deutschen Theater in ein Notturno eingefangen, das an köstlicher Zartheit seinesgleichen nicht hat.

Dieser Eindruck wird von Reinhardt erreicht gegen eine ganze Schar von Schauspielern, die mittelmäßig sind, oder gerade diese Rollen mittelmäßig und noch schlechter spielen. Drei Akte lang ärgert man sich über ihre Übertreibungen und Geschmacklosigkeiten, über ihren Mangel an Stilgefühl; in den letzten beiden Akten denkt man kaum noch dran. So stark hat Reinhardt diese amusischen Naturen schließlich doch mit seiner Persönlichkeit durchdrungen. Ich möchte ihm trotzdem sagen, was alles mir im einzelnen mißfallen hat. Durch Verschleierung erweist man ihm vielleicht einen materiellen, sicherlich keinen ideellen Dienst. Man unterschätze auch diese Kleinigkeiten nicht. In Fällen, wo weder die Dichtung so stark, noch der Boden für seine Regiekunst so günstig, noch die Besetzung der Hauptrollen so glücklich ist, wird es ihn vor Schaden bewahren, wenn Umgebung und Beiwerk besser bedacht sind. Diesmal hat mir davon niemand weiter gefallen als der Doge, der würdig aussieht und spricht; als Jessica, die zum ersten Mal eine echte Jüdin ist; als der alte Gobbo von Pagay, der mir noch nie mißfallen hat.

Herr von Winterstein wird primitive Brutalität immer, Adel und Anmut niemals lebendig machen. Er wäre ein wirksamer Marocco, den Herr Steinrück durch ein forciertes Gebaren umbringt. Arragon ist ein geschraubter Hidalgo, kein lächerlicher Cretin. Lorenzo darf nicht die schönsten Verse des fünften Aktes fallen lassen. Antonio, der königliche Kaufmann, ist selbstsicherer, als Herr Kayßler erscheint. Lanzelot Gobbo gebührt Herrn Richard Leopold. Tubal ist eine der wichtigsten Rollen des Stücks. Nerissa sollte nicht einzig deswegen von Frau Mangel gespielt werden, weil in der Gerichtsszene parodistische Komik von ihr zu erwarten ist; dafür ist sie vorher von allen Grazien gemieden und drückt mindestens einen Akt lang auf die Stimmung der Sorma.

Die Sorma gibt im Anfang äußerlich aufgesetzte Putzigkeiten, die nicht gerade der Porzia zukommen, sondern schon vielen frühern Rollen zugekommen sind. Erst die zweite Werbung offenbart diese Porzia als ein Wesen höchst erlesener Art, keck und geistreich, stolz und doch voll Sehnsucht nach dem wahren Mann. Wenn er erscheint – wie viel schöner noch müßte bei einem ebenbürtigen Bassanio ihre Hingebung, der keusche Ausdruck ihrer Sinnlichkeit klingen! Nachdem sich die Sorma so lange ohne Partnerin und Partner hat behelfen müssen, richtet sie auch ihre Gnadenrede weniger an Shylock als ans Publikum. Es schadet nichts. Weise, hoheitsvoll und selber tiefbewegt führt sie die Menschlichkeit zum Siege und ist dann im Triumph der frohste Schelm.

»Shakespeare hegte vielleicht die Absicht, zur Ergötzung des großen Haufens einen gedrillten Werwolf darzustellen, ein verhaßtes Fabelgeschöpf, das nach Blut lechzt und dabei seine Tochter und seine Dukaten einbüßt und obendrein verspottet wird. Aber der Genius des Dichters, der Weltgeist, der in ihm waltet, steht immer höher als sein Privatwille, und so geschah es, daß er in Shylock trotz der grellen Fratzenhaftigkeit die Justifikation einer unglücklichen Sekte aussprach, welche von der Vorsehung aus geheimnisvollen Gründen mit dem Haß des niedern und vornehmen Pöbels belastet worden und diesen Haß nicht immer mit Liebe vergelten wollte.« Auch ohne Heine gelesen zu haben, haben Edmund Kean und Ludwig Devrient aus Shylock einen Rachehelden gemacht, dieser einen greisenhaft gebrochenen, jener einen männlich widerstandsfähigen. Dem einen oder dem andern sind alle gefolgt, bis auf Possart, der eine geschickte Synthese von beiden herstellte, und Mitterwurzer, der sich zur grellen Fratzenhaftigkeit, zum Fabelgeschöpf bekannte. Herr Rudolf Schildkraut, Mitterwurzers Schüler, ist als Shylock meines Wissens ganz selbständig. Er will kein Prinzip verkörpern und keinen komischen Werwolf machen. Er spricht kein Mitleid an für seinen Juden und läßt doch kein Lachen aufkommen. Er lacht selbst sehr viel oder lächelt wenigstens im ganzen ersten Akt. Daß Dulden das Erbteil seines Stammes sei, gesteht er weder haßerfüllt noch grambeschwert, sondern im schlichten Ton des sachlichen Berichts. Das ist überhaupt die Gefahr dieser zurückhaltenden Einfachheitsmethode: es wird zuviel berichtet, zu wenig erlebt. Die berühmte Stelle von der Gleichgeartetheit und Gleichberechtigung des Juden ist bei Herrn Schildkraut ein einziges Referat. Aber vielleicht ist das der einzige Weg, diese Auffassung durchzuführen, und wahrscheinlich ist ohne diese Auffassung Reinhardts Auffassung des ganzen Stückes nicht möglich. Ob freilich Herr Schildkraut nicht doch aus der Not eine Tugend macht, ob er überhaupt großer Leidenschaften fähig ist, müssen weitere Proben ergeben. Vorläufig freut man sich seiner schauspielerischen Qualitäten. Er hat einen männlichen Gang und die eindringlichsten Gesten. Er unterscheidet Shylock in der Ruhe von Shylock im Affekt. Jenem gelingt ein leidenschaftliches Hochdeutsch, dieser fällt gleich in den Jargon. »Und er gurgelte gar lieblich«. Er hat kräftige Farben, kann in seiner Rede grinsend und hündisch wie kühl und wägend sein und durch erstickte, gezwängte oder offene, volle Laute seine Stimmung verraten. Er zeigt sogar manchmal Herz, wenn der Kopf auch wohl überwiegen wird. Er fesselt jeden Augenblick als Persönlichkeit und tritt keinen Augenblick aus dem Rahmen. Die Aufführung des ›Kaufmanns von Venedig‹ ist ganz und gar nicht auf ihn zugeschnitten, und man würde sich doch sehr fürchten, sie ohne ihn anzusehen.


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