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Reinhardt sieht die Tragödie als wildes Märchen aus grauer Vorzeit. Um einen Märchenkönig führen fünf märchenhaft gute mit fünf märchenhaft bösen Menschen einen Kampf, dessen Ergebnis ebenso märchenhaft ist wie sein Verlauf: Liebe erkaltet, Freundschaft fällt ab, Brüder entzweien sich, Spaltung im Staat, Drohungen und Verwünschungen gegen König und Adel, Auflösung des Heeres, Trennung der Ehen, Gift, Dolch, Wahnsinn und Tod. Ein Bild ohne Gnade, das seinen Charakter verliert, wenn es abgeschwächt wird. Reinhardt wagt denn auch so ziemlich alles. Er läßt Gloster auf, nicht hinter der Bühne blenden und macht höchstens das Zugeständnis, daß er die schauerliche Szene vom Schluß des dritten Aktes an den Anfang des vierten verlegt, wo ihr die besänftigenden Äußerungen von Edgars Kindesliebe gleich hinterhergeschickt werden können. Sonst hat er nur in das Verhältnis Edmunds zu den Schwestern eingegriffen, nicht, um zu mildern, sondern, um zu kürzen. Ich hätte nirgends eine Silbe missen mögen: so köstlich ist Reinhardts Fähigkeit, abgestempelte Gestalten individuell aufzufassen, festgelegte Szenen wie in jungem Licht erglänzen zu lassen, bekannte Worte gleichsam wieder zu erschaffen. Dieser ›Lear‹ ist das beste, reifste, künstlerischste Theater, das es heute irgendwo in Deutschland gibt. Der Rahmen ist, wie das Gemälde, zeitlos. Thronsaal, Halle, Zelt und ›Gegend‹ bestehen teils aus einfachen Vorhängen, teils aus niedrigen Prospekten, auf die Carl Czeschka die eckigen und kreisförmigen Arabesken einer barbarischen Kultur geworfen hat. Schloßhof, Heide, Hütte, Kornfeld und Heereslager sind wie wirklich, ohne einem bestimmten Land, einem bestimmten Jahrhundert anzugehören. Im Schnitt und in der Zeichnung der Gewänder waltet ornamentale Phantasie, in ihren Farben eine Symbolik, die auf liebenswürdig primitive Art die Echten von den Falschen scheidet. Die Gefolgschaften leben. Ihr plumper Gang, ihr roherer Gesichtsschnitt, ihr derbes Lachen, was alles wie von ungefähr da zu sein scheint, ist bewußt angestrebt von einem Regisseur, der die Hand über die ganze Bühne und sein Auge in jedem Winkel hat. Alles ist ein Fluß. Gruppen bilden und lösen sich. Sprechchöre schwellen an und ebben ab. Menschenleiber und Menschenstimmen schießen hinüber, herüber. In prachtvoller Breite entfaltet sich eine Märchenwelt, deren Schönheit auch da bewundernswert ist, wo ihre Atavismen auf verstockte Herzen stoßen. Nur in der Mitte sind ein paar Szenen ganz tot. Man nennt sie die Gipfelszenen. Vielleicht sind sie das vor dreihundert Jahren gewesen. Heute beißen sich Regisseure und Darsteller die Zähne daran aus. Wir bleiben kalt und werden uns endlich entschließen müssen, die Schuld auf Shakespeare zu schieben. Die Wahrheit ist, daß Lears Aussetzung eine Tatsache von zu grauenhafter Größe ist, um nicht durch jede Ausgestaltung verkleinert zu werden. Heide und Hütte verlieren sich in eine Zuständlichkeit, die die Vorstellungen unsrer Einbildungskraft doch niemals erreicht, in einen bei aller Monumentalität fast pedantischen Naturalismus. In meinem illustrierten Shakespeare sieht man am Schluß des zweiten Aktes eine Frauenhand den Vater aus der Türe stoßen. Das ist eine übertreibende Verdichtung des Vorgangs, die keine Steigerung zuläßt, und die der schöpferische Dramaturg meiner Sehnsucht nur einmal für die Bühne umzusetzen brauchte, um Regisseure und Darsteller mit einem Schlage der Sisyphusarbeit der nächsten zwei Szenen zu überheben. Ich wenigstens habe noch keine Aufführung erlebt, der diese Szenen gelungen wären, und wer sich die Mühe machen will, bei Rossis zeitgenössischen Beurteilern nachzufragen, der wird erfahren, daß sie auch bei ihm verpufft sind. Reinhardts Leistung zerfällt in drei Teile. Sie steigt in den ersten beiden Akten mächtig an, sinkt im dritten Akt zu völliger Gleichgültigkeit herab, wird aber gerade in diesem aussichtslosen Kampf gegen die Dichtung zu sehr hergenommen, um für den neuen Aufschwung der letzten beiden Akte noch Atem genug zu haben. Pietät, oder richtiger: Angst vor den Cerberussen der Pietät, hat verhindert, daß der Mittelteil herausgebrochen wurde. Pietät ist der Feind alles Fortschritts. Hier hat sie Reinhardt einen seiner legitimsten Siege, uns eine der reinsten Kunstfreuden geschmälert.
Die Aufführung ist nämlich auf dem Wege zur vollen Höhe auch schauspielerisch so weit gekommen, wie im neuen Deutschen Theater keine Aufführung einer klassischen Tragödie zuvor. Sie hätte, wär' sie ganz hinaufgelangt, unfehlbar sich höchst königlich bewährt. Es ist ein Genuß, mitanzusehen, wie Reinhardts Ensemble immer reicher, immer vollständiger, immer farbiger wird: wie die Wünschelrute dieses unheimlichen Menschen Talente aus der Verborgenheit holt; wie sein Spürsinn in altbewährten Kräften ungekannte fruchtbarere Gegenden wittert; wie seine Energie die einen wie die andern bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit und manchmal auch darüber hinaus peitscht. Vor zwei Jahren noch begann und schloß selbst die Freundeskritik fast jeder Klassiker-Aufführung Reinhardts mit Klagen über die Lückenhaftigkeit des Ensembles und über die Mangelhaftigkeit der Sprechtechnik. Heute stehen an einem Abend auf beiden Bühnen der Schumannstraße fünfundzwanzig Schauspieler, die auf dem anspruchsvollsten Boden Figur machen würden, und nicht einmal die Feindeskritik behauptet, daß die Sprache des ›König Lear‹ zu kurz gekommen sei. Im einzelnen ist selbstverständlich allerlei auszusetzen. »Soll,« sagt Tieck, »der ›Lear‹ mit allen seinen Personen und unzähligen Bedingnissen nur ganz vollendet dargestellt werden, so muß das deutsche Theater auf dieses Werk Verzicht leisten.« Auch das Deutsche Theater. Unter den Bösen ist Regan allenfalls passabel abgerichtet. Als ihr geliebter Edmund fällt Herr Beregi durch die Allüren eines Hoftheaterlieblings aus dem mehr demokratischen Ensemble. Dann kommt es besser. Von links liebt Glosters Bastard Frau Helene Fehdmer, deren Weichheit ein so entschiedener Ausdruck störrischer Bestialität kaum zuzutrauen war. Beim Haushofmeister dieser Goneril, Herrn Friedrich Kühne, ist die Bestialität servil und bis zu einem solchen Grad der Täuschung widerwärtig, daß man, fast wie ein Schmierengast, den Hundsfott prügeln möchte. Die sämtlichen Kanaillen aber meistert, bei Shakespeare wie bei Reinhardt, Herzog Cornwall. Herrn Hartau sprüht die Schändlichkeit aus allen Poren. Er schwelgt in seinen Roheiten mit einer Wollust, die nur sadistisch zu erklären ist. Es ist nicht einzusehen, warum nicht auch der kleinen Menschenwelt der Shakespeareschen Tragödien nach dieser physiologischen Methode Blut zugeführt werden soll. Im großen ist der Erneuerer Mitterwurzer ganz genau so vorgegangen. Die Partei der Guten hat naturgemäß derlei nicht nötig. Ein volles Herz auf dem rechten Fleck zu haben, ist ihre vornehmste Tugend. Den wackern Edgar zwingt die Not der argen Zeit, sein volles Herz unter einer Hülle zu verstecken, die nicht Theaterkritiker, sondern nur armes Volk von Narren, Irren, Blinden zu betrügen braucht. Herr Walden wendet zu viel virtuose Mühe an den Mummenschanz, um einen Ton von schlichter Innigkeit ganz rein erklingen lassen zu können. Bei Moissi ist es umgekehrt. Der süß und bittere Narr erscheinen nicht zugleich; der süße geht voran, wenn man nämlich seinen Witz bitter, seine Melancholie süß nennen will. Moissis Gestalt steht auf Besorgtheit, Wehmut, Gram und all den seelentiefen Eigenschaften, die ihren grauen Haaren angemessener sind als schellenlaute Lustigkeit. Die bricht nur manchmal wild hervor, um sich dann desto scheuer zu verkriechen. Dieser Narr härmt sich nicht erst, wenn seines Königs jüngstes Kind zu Schiff nach Frankreich, sondern weit mehr noch, wenn sie nah. Er liebt Cordelien, und liebt sie, da sie Lucie Höflich heißt, aus Gegensätzlichkeit und Wahlverwandtschaft. Die herbe Blonde hat die Sprache nur erhalten, um zu verbergen, was sie fühlt. Sie ist spröde und eigenwillig, trotzig und hart, von gänzlich anderm Schlag als die Blauveigelein der Bühnenkonvention, und noch beim Wiedersehen von keuschester Verhaltenheit. In einem Teilensemble rein norddeutscher Schauspieler wäre die Höflich Führerin der Frauen. Unter den Männern wäre der ersten einer Herr Paul Wegener. Sein Eisbart Gloster scheint von Hebbel. Intuition gehört dazu, um aus den kargen Zügen dieser Parallelfigur ein Menschenkind von solcher Evidenz der Adligkeit zu formen. Dem Titel nach ist Kent dem Grafen Gloster gleich. Dem Wesen nach ist er von gröberm Faden, doch nicht von kleinerer Zuverlässigkeit. Gewissermaßen der Horatio Lears. Noch in der Erinnerung ergreift es mich, mit welchen Blicken der Kent des Herrn von Winterstein an seinem König hängt, mit welchen Lauten von rauher Ungesittetheit der treuste Diener seines Herrn den Anschein weckt, als litt' er nichts, indem er alles leidet.
Sei Kent nur ohne Sitte, wenn Lear verrückt. Wenn Lear verrückt, ist Schildkraut am vernünftigsten. Für den Wahnsinn hat er gar keine Phantastik, und so fest meine Überzeugung steht, daß die Tragödie sich nicht früher auf unsrer Bühne einbürgern wird, als bis die Bühne auf die Ausmalung des Wahnsinns verzichtet hat, so unzweifelhaft ist es mir doch, daß dieser Wahnsinn vorläufig noch erschütternder ausgemalt werden kann und muß. Im ersten und im dritten Teil hat mich niemals ein Lear wie dieser mitgenommen. Soll ich vor diesem Eindruck mit den andern heucheln, daß ›Majestät‹ gefehlt hat, weil Schildkraut klein und kein Germane ist? Er hat, was schwerer wiegt, die Majestät des Schmerzes und die Majestät eines unendlich gütigen Herzens, und übrigens: da Lear sich jeden Zoll 'nen König dünkt, ist er bereits verrückt. Schildkraut wird weder in seinem Schmerz larmoyant noch in seiner Güte hausväterisch, und damit hält er nach unten eine Grenze ein, diesseits von welcher ich mir einen achtzigjährigen König durchaus denken kann. Die Könige, die ringsherum von Gottesgnadentum umflossen sind, gibts mehr im neuen Deutschland als in einem fabelhaften Britenland. Wenn andre Lears cholerisch sind, ist dieser hier ein Melancholiker. Seine Versunkenheiten sind am packendsten. Sein Zorn geht schließlich immer in ein Schluchzen über. Vorher hat er Momente, wo er in seiner Herzensnot auf einmal sachlich wird, daß es den Hörer eiskalt überläuft. Die überlieferten Effekte der Tragödie fallen untern Tisch. Was sie ersetzt, ist stark genug, um dieser Schöpfung einen Ehrenplatz zu sichern.