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Shakespeare: Ein Sommernachtstraum

Der Reinhardtsche ›Sommernachtstraum‹ auf der unausgiebigen und unbeweglichen Reliefbühne? Dieser Sommernachtstraum, der nach der Meinung seiner Verkleinerer von der Drehbarkeit des Podiums, von der Unübersehbarkeit eines echten Waldesinnern und von der Riechbarkeit seines natürlichen Mooses lebte? Der Eindruck war auch in München bezwingend und um so höher zu bewerten, als alle diese und andre Hilfsmittel der berliner Inszenierung fehlten. Der Wald rückte und rührte sich nicht. Die Elfen mit ihrem Königspaar kehrten von jedem Umzug schließlich an denselben Fleck zurück, und es blieb der Imagination des Zuschauers überlassen, sich wie die Zeit, so den Ort verändert zu denken. Aber war das denn überhaupt ein Wald? Am Rande der Szene standen in ziemlich gleichen Abständen vier kahle Baumstämme, über denen ein bischen Gerank das Zweigwerk, hinter denen ein ausgespannter Vorhang den Horizont, und vor denen ein hingebreitetes Tuch den grünen Boden vortäuschen sollte. Die Täuschung gelang vollkommen. Man stellte sich diesen Ausschnitt als eine kleine Kuppe vor, von der es auf keiner Seite waldeinwärts, sondern auf allen Seiten talwärts führte. Mensch und Feenwelt klomm mühsam den Berg empor, um mühelos wieder hinunterzugleiten. Das kam und ging unaufhörlich und erzeugte eine Gesamtbeweglichkeit, die verdeckte, wie einförmig notgedrungen die Bewegungen der einzelnen schwirrenden, huschenden, flackernden, tanzenden Elfen waren. Kaum daß Grete Wiesenthal sich in dieser Enge bemerkbar machen konnte. Doch sag' ich nicht, daß dies ein Fehler war. Es galt ja nicht, eine Sonderproduktion zu zeigen; es galt, die Illusion eines Geisterreiches zu erzeugen. Mondlicht schimmerte, und Morgenlicht zog blendend herauf. Aus der Tiefe tönten Stimmen tellurischer Herkunft. Hier und da leuchtete ein Glühwurm. Laub raschelte, und Äste knackten. Das alles war viel primitiver als in Berlin, aber vielleicht gerade darum noch suggestiver. Wenn die Phantasie des Zuschauers willig ist, dann sind alle Gewaltsmaßregeln einer naturalistischen Regie überflüssig. Oder wurde sie willig, weil ihr hier so viel vertraut wurde, weil sie sich mit so sanftem Zwang geleitet fühlte? In der Stube der Handwerker hatte sie keinerlei Arbeit. Aber im Saal des Theseus mußte sie wieder einen ärmlichen Prospekt für die Burg von Athen und anderthalb Statisten für den Hofstaat eines Herzogs nehmen. Sie tat auch das. Auf andern Bühnen ist der Hochzeitsmarsch ein vielfarbiges, goldrauschendes, pompöses Prunkstück. In München spielte er sich, ohne daß eine Einbuße an Heiterkeit und Sinnenfreude zu vermerken war, hinter dem Vorhang ab, und als dieser sich hob, war das Brautpaar mit seinen Intimsten bereits auf den Plätzen, ach, wie schmalen und unbequemen Plätzen angelangt. In einer Längslinie birschte sich das Rüpelspiel an das fürnehme Auditorium heran, und rechthaberische Bajuvaren konnten triumphierend auf dieses Bild als auf eine stillschweigende Anerkennung ihrer Reliefprinzipien hinweisen. Töricht genug. Hier war der Raum einmal nicht anders als in der Längsrichtung auszunutzen. Im übrigen aber wurde von Reinhardt kreuz und quer, von hinten nach vorn, von oben nach unten, im Kreis und im Achteck inszeniert. Der Erfolg, noch einmal, war enorm. Denn so geringen Respekt Reinhardts Selbständigkeit den Theorien dilettierender, als Bühnenreformatoren dilettierender Maler bezeigte, so rein und groß hatte sich sein Verständnis für die Dichtung Shakespeares und die Besonderheit seiner Schauspieler erhalten.

Die Kräfte dieser Schauspieler aber waren gewachsen. Fünf Jahre vorher hatte Reinhardt mit dem ›Sommernachtstraum‹ in gewissem Sinne gegen die Schauspielkunst seiner eigenen Bühne gesiegt. Er wußte schon damals genau, worauf es ankam, und hatte schon damals zum Teil die richtigen Persönlichkeiten herausgefunden. Aber diese selbst waren zum Teil noch unentwickelt, unfrei und, vor allem, höchst unzulängliche Sprecher. Diesmal siegte er mit der Schauspielkunst seiner Bühne, mußte er mit ihr siegen, weil ohne sie schwerlich die Widerspenstigkeit dieses unglückseligen Künstlertheaters zu überwinden gewesen wäre. Zwar: die Eysoldt ist noch immer kein Puck geworden und wird auch keiner werden. Ihr Humor ist forciert, ihre Derbheit steckt im Kostüm, und erst wo sie lyrisch werden darf, wie im Epilog, wird sie echt. Hätte Reinhardts berliner Publikum jemals das Königliche Schauspielhaus betreten und jemals den ganz ursprünglichen, vor Übermut jauchzenden, ausreichend robusten und doch wieder rechtzeitig mozartischen Puck der unvergeßlichen und unersetzten Paula Conrad gesehen, dann wäre die Gequältheit der Eysoldt von vornherein nach Gebühr abgelehnt worden. Damals spielte Vollmer, in seinem unerschöpflichen mimischen Reichtum, den Pyramus auf drei verschiedene Arten, von denen jede einen andern Schauspielertypus darstellte und zugleich kritisierte. Es waren Studien von kunstgeschichtlichem Wert, zu denen ich manchmal noch um neun Uhr ins Hoftheater ging. Von Herrn Waßmanns blühender Jugend ist solche Meisterschaft nicht zu verlangen. Es genügt, daß er, unbekümmert um die Würde des alten Knaben Shakespeare, alle komischen Wirkungen bis auf die letzte aus der Rolle herausholt. Auch bei ihm, und gar wenn sich Herrn Arnolds ›Thipse‹ dazugesellt, wimmert man schließlich nur noch. Das war von Anfang an so. Das Liebespaar des Fräulein Heims und des Herrn von Winterstein war in der Anlage gleichfalls immer so reizend drastisch und hat sich höchstens besser eingespielt. Ein wichtiger Fortschritt ist dann schon, daß die erfreulich untheatralische Rhetorik des Herrn Diegelmann – mag er auch mehr der Vater als der Bräutigam der Hippolyta sein – die schönen und aufschlußreichen Verse des Theseus, ohne die der Sinn des sommernächtlichen Traumspiels kaum zu verstehen wäre, zur eindringlichsten Geltung bringt. Der schauspielerische Mittelpunkt der Vorstellung aber, ihr Glanz und ihre Musik ist Moissis Oberon, König der Elfen. Der Moissi von 1904 und der Moissi von 1909! Jener radebrechende Anfänger mit siebzehn Händen und Füßen und dieser Zauberer des Wortes, an den man später einmal in Hofmannsthalschen Bildern zurückdenken wird: … Und wie im Tritonshorn der Lärm des Meeres eingefangen ist, so war in ihm die Stimme alles Lebens. In seinem Mund war eine Bucht, drin brandete das Meer. Er war der ganze Wald …!

Dann trennt man sich von dieser Aufführung gleich wie von einem hohen Fest, beglückt und lange gegen Ungemach gefeit und voller Dankbarkeit für Reinhardt, und begreift nicht, wie es möglich ist, ihm nachzusagen, er selbst habe keinen persönlichen Ton in die deutsche Kunst gebracht, und der eigentliche Reiz seiner Persönlichkeit bestehe darin, keine zu haben. Dieser Reinhardt ist ein Visionär, und Visionen kann man nicht erhorchen und nicht zusammensuchen, nicht bei Helfershelfern bestellen und um keine Summe Geldes kaufen. Die Welt dieses Sommernachtstraums – sie war nicht, ehe Reinhardt sie erschuf, eh' er sie sah. Ein Kunstwerk so sehen, wie kein menschliches Auge es je zuvor gesehen hat, und es, das erste Mal ohne schauspielerische, das zweite Mal ohne szenische Mittel, so wiedergeben, wie erst recht kein menschliches Auge es je zuvor gesehen hat: wenn das nicht Genialität, wenn das nicht Persönlichkeit ist, so werden wir diese Begriffe aus dem gesamten Gebiet der nachschaffenden Theaterkunst ausschalten müssen.


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