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Goethe: Clavigo

Der wunderbare Reinhardt nimmt es, das alte Trauerspiel, in seine starken Hände, bläst ihm den Feueratem seiner Jugend ein, und es ist neu. Der kompliziert sich die Dinge ganz unnötig, der den Unterschied zwischen solch einer Aufführung der Kammerspiele und der voraufgegangenen Einstudierung des Königlichen Schauspielhauses auf aesthetische Grundgesetze zurückführt. Es ist einfach der Unterschied zwischen einer mitleidswürdigen Gedankenarmut und Talentlosigkeit und dem höchsten Grad jener nachschaffenden Begabung, die wie zum ersten Mal bis auf den Grund des Kunstwerks sieht und alles wiedergeben, in Kraft und Schönheit wiedergeben kann, was sie gesehen hat. Bei der Besetzung fängt es an. Für jede der vier Hauptgestalten wären in diesem Ensemble mindestens zwei andre Darsteller in Betracht gekommen, wenn Reinhardt sich seinen freien Künstlersinn durch die Überlieferung des Theaters und die Weisheit der Literaturgeschichte hätte einengen lassen. Aber er befragt nichts weiter als den Wortlaut Goethes, findet darin die Wesenheit der einzelnen Figuren deutlich umschrieben, sucht sich diejenigen Persönlichkeiten heraus, die dieser Wesenheit am glücklichsten entsprechen, die zu einander am reinsten passen, und die schließlich dem Goetheschen Wortlaut im eigentlichen Sinne am besten gewachsen sind. Denn jede Silbe dieser blutvollen Menschen ist wichtig, und das ist eben der Grund, warum eine auch nur befriedigende Vorstellung des ›Clavigo‹ zu den Seltenheiten gehört: entweder zelebrieren akademische Sprecher ohne Körperlichkeit den Text, oder temperamentvolle Naturburschen hauen auf ihn ein, wie Götzens Georg auf die Hecken und Dornen. Reinhardt hat die Harmonie erreicht. Seine Spanier und Franzosen haben eine Existenz, der eine letzte nationale Echtheit gar nicht anzusinnen ist, dieweil die Sprache, die aus ihrem Munde kommt, unsre Muttersprache ist. Es wäre aber für die Bühne zu wenig, wenn jeder Satz gleichmäßig zur Geltung gebracht würde. Reinhardt hat für den Rhythmus auch des ganzen Dramas das empfindlichste Ohr. Er hört das Atemholen eines Dialogs, kennt wie ein großer Psycholog die Isobaren aller seelischen Bewegungen und zieht sie als ein reifer Künstler nach. Man achte hier einmal darauf, mit welcher Gelassenheit die Exposition gegeben wird, mit welcher Feinspürigkeit für die ungreifbarsten Valeurs die Auseinandersetzung zwischen Clavigo und Beaumarchais sich zuspitzt, gipfelt und abschwillt; wie sich gegen eine so gradlinige Erregtheit die flackernde Unruhe von Mariens Sterbeszene abhebt – und man vergesse darüber nicht zu bewundern, mit welcher Allgegenwärtigkeit dieser Regisseur zu der Musik des Dichters und des Dramas Bilder stellt, die sie womöglich noch verstärken und vertiefen. Bei ihm ist alles von Bedeutung. Seine Gruppierungen, Konfrontierungen und Isolierungen der handelnden Personen könnten nicht durch irgend welche andern Anordnungen ersetzt werden, ohne daß der Akzent der Szene Schaden nähme. Bisher wars ungewiß, ob Reinhardt sich schon an den spätern Lessing wagen dürfte. Nach dem ›Clavigo‹ wird ›Emilia Galotti‹ zweifellos ein Fest.

›Clavigo‹ hat acht Rollen. Davon sind zwei mehr, zwei weniger unbedeutend. Von jenen zweien bleibt Saint George in seiner Blässe, während Guilbert als wackerer, hilfsbereiter Schwager sichtbarer wird als sonst. Von diesen zweien ist Frau Mangel ihrem Mann an treuer Sorglichkeit naturgemäß noch überlegen. Sie bildet mit ihrer begütigenden Weiblichkeit, Schwesterlichkeit, Mütterlichkeit das optimistische Gegengewicht zu Buenco, der bei Goethe ein melancholischer, bei Herrn von Jacobi ein cholerischer Unglücksvogel ist. Diese Verwandlung ist so einer von Reinhardts kleinen fruchtbaren Regie-Einfällen; denn es ist klar, daß dadurch Leben in jene ganze Nebengruppe kommt, die neben der Hauptgruppe meistens ratlos ist – neben Clavigo, Carlos, Beaumarchais, Marie.

»Wen begrabt ihr?« »Marien Beaumarchais«. Das ist in ihrer düstern Knappheit eine der ergreifendsten Stellen des Trauerspiels, vielleicht die einzige, die in dieser Musteraufführung zu keiner Geltung kam, weil sie nicht nach ihrer lyrisch-dramatischen Bedeutung, sondern so gleichgültig gesprochen wurde, wie sie unbeteiligtes Gesinde in der Wirklichkeit wohl sprechen wird. Die da begraben wurde, war eine Gestalt der Eysoldt und hatte mich bei Lebzeiten aufs innigste entzückt. Bei dieser außerordentlichen Schauspielerin ist Takt nicht blos eine negative Eigenschaft, nämlich die Unfähigkeit zu jeder Taktlosigkeit, sondern eine allerpositivste Qualität. Gewöhnlich ist Marie entweder die zahme Sentimentale der Schablone, die einen Clavigo nie gefesselt haben kann, oder jene trippelnde, kleine, hohläugige Französin, der die Auszehrung aus allen Gliedern spricht, eine Probiermamsell für klinische Übungen. Die Marie der Eysoldt macht durch blumenhafte Anmut Clavigos Liebe, und sie macht durch eine auch nicht im leisesten pathologisch betonte Hinfälligkeit Clavigos Wortbruch verständlich. Wenn man ihr Geist nachsagt, so ist das keine leere Galanterie, und wenn sie es ist, die selbst am langsamsten verzagt, so zeigt sie sich als würdige Schwester ihres Bruders. Dieser Rächer seiner Ehre ist bei Herrn Beregi beträchtlich besser aufgehoben, als man erwartet hatte. Man erwartete nämlich von diesem zu drei Vierteln konventionellen Liebhaber jenen lodernden Beaumarchais, den die Bühnentradition weitergibt, und der nur bei einer Natur wie Matkowsky seine Originalität zurückgewinnen kann und zurückgewonnen hat. Hätte Herr Beregi auch gelodert, so wäre es ein neuer Mißerfolg für ihn geworden. Aber ein Viertel dieses Schauspielers ist entwicklungsfähig, und aus diesem Viertel hat Reinhardt einen Beaumarchais herausgeholt, dessen männliche Beherrschtheit ein reiches Innenleben so glaubwürdig vortäuscht, daß man es für vorhanden nehmen mag. Es ist nicht zu tadeln, sondern, im Interesse einer Neubeleuchtung und Neubelebung des Trauerspiels, zu loben, daß Carlos mit Beaumarchais gewissermaßen die Rollen getauscht hat: daß der Feuerkopf sich in sich selbst verschließt, und daß aus der üblichen Vorstudie zum Mephisto eine offene Seele geworden ist, die mit Goethe nicht zu widerlegen, die, im Gegenteil, mit seinen Worten zu belegen sein wird. Carlos äußert, daß er niemand weiter liebe als Clavigo, daß er dessen Schicksal wie sein eigenes im Herzen trage; und Clavigo wünscht sich einen Funken von des Carlos Mut und Stärke. Darauf stellt Herr Abel die Figur. Er bewahrt Clavigo vor dem dummen Streich durch keinerlei Dämonie, sondern durch den energischen Gefühlston des uneigennützigen Freundes, der in seiner Wärme überzeugen muß. Es macht seiner Menschenkenntnis alle Ehre, daß er gerade den Clavigo Harry Waldens so behandelt.

Der ist selbst ganz Wärme. Von den kanarischen Inseln gebürtig. Wirft sich nieder, springt auf, fliegt entgegen, umarmt in der Runde herum. Es ist was Bezauberndes in seinem Anblick, den er auch sich bei jeder Gelegenheit verschafft, und in dem Ton der runden, vollen Bruststimme, die zu verführen gewohnt ist und sich noch in Momenten der Erschütterung an sich selbst berauscht. Clavigo brauchte blos ohne Talent auf die Welt gekommen zu sein, um den ersten Hjalmar Ekdal des germanischen Dramas vorzustellen, und es ist die schönste Verheißung für die Zukunft des Schauspielers Walden, daß seinem Clavigo eine geistige Betätigung durchaus zuzutrauen ist. Es hieße aber die blühende Gegenwart dieses Schauspielers herabsetzen, wenn ich mich verwundern wollte, daß er keinen von den Fehlern begeht, in die ich noch jeden Clavigo habe verfallen sehen. Er verbirgt während der Erzählung des Beaumarchais sein Gesicht nicht hinter einem Schnupftuch, sondern begleitet sie mit einem ebenso maßvollen wie eindringlichen Mienenspiel, und es gelingt ihm, das erste Entsetzen beim Wiedersehen mit Marien ihr und der Umgebung zu verhehlen, aber uns zu übermitteln. Er ist der vollendete Höfling von der bestrickendsten Liebenswürdigkeit aller weltmännischen Umgangsformen, er ist der kluge Kopf von der spezifischen Behendigkeit des echten Journalisten, er ist der impulsive Liebhaber von weichem und schwankendem Herzen, und er vereinigt diese Teile mühelos zu einer Gestalt, die einmal unter seinen Gestalten obenan stehen wird.


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