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Lisas Leid

Lisa, arme Lisa, was treibt dich so unerwarteterweise zu uns?« waren Marias erste Worte, als sie das Zimmer betrat, um die Freundin zu begrüßen. »Annchen sagt mir, daß du in strömendem Regen angekommen bist; hoffentlich schadete dir der schreckliche Weg von der Bahn hierher nicht.«

»Mir ist alles gleich, Maria. Am liebsten wäre ich tot. Ich bin eine arme, unglückliche Frau. Es muß einmal heraus, es muß gesagt werden, ich kann es nicht mehr allein tragen. Immer habe ich versucht, es vor dir zu verbergen, aber das Maß meines Elends ist voll. Ich bin – meinem Mann davongelaufen.«

Maria, die Lisa noch am Fenster sitzend gefunden, war erschrocken über das blasse, abgehärmte Gesicht ihrer Freundin. Es erzählte ihr mehr als Worte von dem bittern Leid, das sie durchgemacht hatte. Sie wurde von großem Mitleid erfaßt, als Lisa die Worte schluchzend herausstieß.

»Ja, Maria«, fuhr sie fort, »ich hätte es dir längst sagen müssen, daß mein Mann sich von einer Leidenschaft ganz beherrschen läßt. Schon seit Jahren hat er sich dem Trunk ergeben, es ist je länger, je ärger mit ihm geworden. Unzählige Auftritte habe ich mit ihm gehabt, nachts kommt er in berauschtem Zustand nach Hause, und wenn ich ihm Vorwürfe mache, tobt er. Gestern gab es einen Auftritt, der aller Beschreibung spottet. Ich machte ihm Vorwürfe, da drohte er mir, sagte, ich sei an allem schuld, ich sei verschwenderisch und leichtsinnig, und als ich das nicht gelten lassen wollte, da – erhob er seine Hand gegen mich. Das war mehr, als ich ertragen konnte, mein Entschluß stand fest, zu dir zu gehen. Nur du allein kannst mir helfen in meiner großen Not, kannst mir sagen, was ich tun soll.«

»Arme Lisa«, sagte Maria, »das kann ich dir nicht sagen, das mußt du selbst am besten wissen. Ich will dich ja gerne hier behalten, aber was würde deine Schwester, was würde Gundchen davon denken? Und dann – dann glaube ich, es ist das richtigste, du gehst wieder zurück. Du kannst deinen Mann doch nicht allein lassen. Leicht ist es nicht, nein, es ist sogar ein schweres Kreuz, was Gott der Herr dir auferlegt hat, aber wenn du ihn bittest, so wird er dir Kraft verleihen, auszuharren in Geduld. Wenn ich dir raten soll, versuche es einmal, sanftmütig und freundlich zu sein, es hat schon manche Frau Einfluß auf ihren Mann geübt durch ihre sanfte, stille Art. Versuche es einmal!«

»Meine Natur ist nun einmal lebhaft. Ich kann sie nicht nach Belieben ändern.«

»Du kannst es nicht, aber der Herr kann dir ein neues Herz schenken. Er kann die Kraft verleihen, daß du es durchführst. Versuch es, Lisa.«

»Maria, du hast gut reden. Du kennst diese Art von Menschen nicht. Mit Sanftmut kommt man da nicht weit.«

Maria schwieg und sah traurig vor sich hin. »Sage mir doch, was ich tun soll«, rief Lisa ungeduldig.

»Ich habe dir meine Meinung gesagt. Einen andern Rat weiß ich vorderhand nicht.«

»Es ist zu hart, zu bitter«, sagte Lisa, und die Tränen flössen wieder. »Wenn ich denke, wie gut es andere im Vergleich dazu haben, wie du dastehst, Maria –«

»Ich habe auch manches Schwere durchkämpfen müssen und muß es noch. Anders als durch Trübsal geht es nicht ins Reich Gottes. Hat der Herr gelitten, so sollen wir, seine Diener, auch willig leiden, sollen das Kreuz, das er uns sendet, still und demütig tragen. Wenn nur alles dazu dient, uns geschickt zum Reiche Gottes zu machen.«

»Ach, ich bin sehr weit davon«, gestand Lisa ehrlich. »Ich habe mich seit meiner Einsegnung wenig um geistliche Dinge gekümmert.«

»Und doch ist der Glaube an unsern Herrn und Heiland das einzige, was uns Halt gibt im Leben und im Sterben, das einzige, was das Herz stille macht im Gewirre des Lebens, was der Seele Frieden schafft.«

»Ja, nach Frieden verlangt die Seele mitunter; es ist alles so unruhig und in Aufruhr in mir. Mein Gott, wenn ich denke, ich soll wieder zurück in dies elende Leben! Not im Hause und täglich diese Szenen mit einem haltlosen Mann – es ist furchtbar.«

»Du mußt erst ruhig werden, liebe Lisa, du bleibst morgen bei uns, erfreust dich an deiner Kleinen, die recht aufgeblüht ist, siehst, wie deine Schwester hier ein Heim gefunden hat, das ihr zusagt, ruhst bei mir aus, und übermorgen gehst du in Gottes Namen zurück zu deiner Pflicht.«

»Ich wollte Gundchen nicht gleich sehen, weil ich zu aufgeregt war. Aber schicke sie mir morgen früh herein. Und nun, Maria, ich will versuchen, ruhiger über alles zu denken, vielleicht morgen, heute schmerzt der Kopf so sehr.«

Maria machte der Freundin alles so behaglich wie möglich. Sie umgab sie mit zarter Liebe und Rücksicht, sorgte für jede mögliche Bequemlichkeit, so daß Lisa ganz überwältigt ausrief: »Maria, wenn ich dich nicht hätte, du schaffst mir äußerlich und innerlich Ruhe, du bringst mich immer wieder auf den rechten Weg. Was habe ich dir alles zu danken!«

»Nichts«, war Marias einfache Antwort, »als daß du mich ein wenig liebhast.«

Maria ging, weil sie glaubte, Lisa würde so eher zur Ruhe kommen. Auch wollte sie die Sache mit ihrem Mann überlegen. Er hielt es auch für richtig, daß Frau Wernigge, je eher, je lieber, zu ihrem Mann zurückging, »denn«, sagte er, »die Frau gehört zum Mann, sie muß verstehen, ihn an sich zu fesseln, es ihm zu Hause lieb und angenehm zu machen, damit er so wenig wie möglich außerhalb des Hauses sein Vergnügen sucht. Was sollte wohl ich armer Mann machen«, fügte er scherzend hinzu, »wenn mein Frauchen davonliefe, Grund genug hätte es wohl mitunter.«

»Wenn ich einen so lieben, treuen Mann wie den meinigen, verlassen wollte, da müßte ich schon ein sehr böses Frauenzimmer sein.«

Am andern Morgen war Marias erster Gang zu Lisa. Sie sah matt und müde aus und hatte wenig geschlafen. Aber nachgedacht hatte sie viel und zwar zum Guten, denn sie erklärte, sie wolle heute wieder nach Hause, man solle Gundchen sagen, sie sei gestern auf Besuch gekommen, müsse heute aber wieder fort. Ein längeres Bleiben nütze nicht, es würde die Sache nur schlimmer machen.

Strahlend trat Gundchen nach einer Weile in das Zimmer ihrer Mutter. Diese war so überrascht über das frische und gesunde Aussehen des Kindes, daß sie ausrief: »Was ist denn mit dir los, mein Gundel, dir ist es, das sieht man, sehr wohl ergangen.«

Sie dankte Maria bewegt für alles, was sie an ihrem Kinde getan hatte, und fragte, ob sie Gundchen denn noch dalassen dürfe. Maria meinte, am liebsten den ganzen Sommer, die Kur müsse radikal sein. Gundchen fragte nicht, wann und warum die Mutter gekommen sei; es war ihr genug, daß sie da war, sie nahm es für selbstverständlich, daß sie ihretwegen die Reise gemacht habe.

Auch Gretchen begrüßte Lisa später, doch herrschte zwischen den Schwestern keine so innige Zuneigung, wie man es sonst bei den Geschwistern zu finden pflegt. Sie waren im Alter zu verschieden, und ihre Lebenswege waren weit auseinandergegangen.

Maria erbot sich, Lisa in die Hauptstadt zurückzubegleiten, doch die Freundin lehnte nach kurzem Nachdenken mit Dank ab. »Ich kann dich ja doch nicht immer bei mir behalten«, sagte sie, »muß sehen, wie ich mich allein durchschlage.«

»Der Herr ist bei dir, liebe Lisa. Er hilft dir tragen, halte dich allezeit an ihn. Und solltest du – solltest du einmal wirklich in Not sein, nicht aus noch ein wissen, dann rufe mich, ich bin jederzeit bereit, dir beizustehen.«

Herr Mersburg, der seines Kopfes wegen länger liegen und sich vom Familienzimmer noch fernhalten mußte, sah Lisa nicht. Es war für beide Teile angenehmer. Der Mittagszug führte Frau Wernigge wieder nach Hause. Maria war das Herz schwer. Wie gern hätte sie Lisas Lage erleichtert, ein tiefes Mitleid hatte sie mit der armen Frau. Sie bat Gott, sich ihrer zu erbarmen, sie durch Nacht zum Licht, durch Kreuz zur Krone zu führen. Vielleicht hatte sie doch noch die Freude, zu sehen, daß Lisa sich der wahren Quelle dürstend nahte, um von ihr das Wasser des Lebens zu schöpfen.

 


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