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Onkel Ulrich

am 22. Dezember

In zwei Tagen haben wir Weihnacht! Es gibt zwar sehr viel zu tun und zu schaffen, aber den gestrigen Tag muß ich beschreiben, er war zu schön. Am Morgen wurden die Feststollen gebacken, da gab es eilfertiges Hin- und Herlaufen. Diesmal durfte ich mit zum Bäcker gehen, als die Mädchen den Teig, den wir zu Hause angerührt hatten, hinübertrugen. Mutter hatte mir von allem gesagt, wie sie es haben wollte, und ich habe alles zu ihrer Zufriedenheit besorgt. Gerade, als die fertigen Stollen und Kuchen ins Haus getragen wurden und der würzige Duft des frischen Gebäckes die Räume erfüllte, kamen eilfertige Tritte die Treppe herauf. Diese Tritte kannte ich, das konnte niemand anders sein als Matthias und Christian.

»Ihr kommt schon?« rief ich verwundert, »wir haben euch erst morgen erwartet.«

»Das tut uns leid«, sagte Matthias, »wir haben einen Tag früher Ferien bekommen, haben gestern abend schnell gepackt und sind mit dem Nachtzug gefahren. Wir sind müde und hungrig.«

»Ja, sehr hungrig«, fügte Christian hinzu. »Hier riecht es nach frischem Kuchen, da können wir wohl gleich anfangen?«

»Der Kuchen darf noch nicht angeschnitten werden, der muß erst auskühlen. Es gibt andere Sachen, euren Hunger zu stillen«, entgegnete ich.

»Du siehst ja kolossal wirtschaftlich aus mit deiner großen Schürze, Annchen«, bemerkte Christian. »Du hast wohl überhaupt jetzt die Aufsicht in der Speisekammer. Mit dir wollen wir schon fertig werden, wenn wir auf Raub ausgehen.«

Da kam Mutter zum Glück, die sehr froh war, als sie ihre Jungen gesund und munter vor sich sah. »Willkommen, ihr Buben, zum lieben Christfest«, sagte sie und ging mit den Brüdern in die Eßstube, wo der Vater Tannenzapfen vergoldete, die zum Schmuck des Christbaumes verwendet werden sollten. Der schöne Baum war tags zuvor aus unsern eigenen Waldungen gekommen. Die Knechte waren mit Korn in der Stadt gewesen und hatten ihn mitgebracht.

Nun war die Familie wieder vollzählig. Die kleinen Schwestern freuten sich besonders, daß die Brüder wieder da waren, da sie sie im Sommer auch nicht gesehen hatten. Sophie kann schon etwas herumhumpeln; sie kam und begrüßte die Brüder, die immer viel auf die älteste Schwester hielten und zu Michaelis sehr traurig waren, als sie sie nicht mehr zu Hause fanden. Vor ihr haben sie entschieden mehr Respekt als vor mir, obgleich ich ihnen erzählte, daß ich schon als Stütze der Hausfrau in einem fremden Hause gewesen sei und einer alten Dame den Haushalt geführt habe. Sie lachten und meinten, deshalb binde ich wohl die riesige Wirtschaftsschürze vor, um ihnen mehr Achtung einzuflößen.

Sie hatten außer dem Koffer eine Menge großer, versiegelter Pakete mit, alles Weihnachtsgeheimnisse, die uns Schwestern natürlich sehr neugierig machten. Thildchen und Olga befühlten und berochen die Sachen und versuchten mit den Fingerchen kleine Löcher in die Pakete zu bohren, was ihnen von Mutter streng untersagt wurde.

Die Brüder fragten nach ihrem Zimmer, um ihre Sachen dort unterzubringen. Ein O! der Enttäuschung ließ sich hören, als ich die Tür zu einem einfenstrigen, schmalen Zimmer öffnete, das außer zwei Betten nur die notwendigsten Möbel enthielt.

»Das ist ja eine traurige Bude«, ließ sich Christian vernehmen, und Matthias setzte hinzu:

»Ja, eine richtige Mausefalle.«

»Ihr müßt in den Ferien damit zufrieden sein; Sophie, die wir zum Fest nicht erwarteten, hat das Zimmer, das für euch bestimmt war. Ihr müßt nicht denken, daß in der Stadt alles so groß und geräumig ist, wie bei uns daheim.«

In Grüneichen hatten die Brüder freilich ein großes, zweifenstriges Zimmer mit Aussicht auf den Gutshof, hier war ein Fenster, von dem aus man auf einen düstern, mit Gebäuden umgebenen Hof sah. Die Brüder legten ihre Sachen ab und fügten sich in das Unvermeidliche. Als sie dann, nachdem sie sich gerichtet hatten, in das große geräumige Eßzimmer traten, schien es ihnen behaglicher zu werden, doch sahen sie sich immer fremd um, betrachteten die Wände und die Möbel und platzten endlich heraus: »Es ist ja ganz anders bei uns geworden.«

»Glaubt ihr denn«, lachte Mutter, »daß wir mit Sack und Pack umgezogen seien? Unser Haus steht mit allen Sachen in Grüneichen; wir werden es, so Gott will, im Frühling wieder haben, jetzt, beim Winteraufenthalt in der Stadt, müssen wir uns mit einer möblierten Wohnung behelfen, da kann nicht alles so sein, wie wir es gewohnt sind, und die jungen Herren müssen zufrieden sein und froh, daß sie bei Vater und Mutter sind.«

»Ja, das sind wir auch«, stotterte Christian, »aber –«

»Der See!« fiel ihm Matthias in die Rede, »der schöne, blanke See, der wird uns aber fehlen.«

»Ja, der See«, fielen wir drei Schwestern im Chor ein, und plötzlich bekamen wir alle Heimweh nach den Winterfreuden in Grüneichen. Die Brüder hatten es getroffen. Wir waren über all dem Neuen und Schönen, das die Hauptstadt zur Weihnachtszeit brachte, gar nicht darauf gekommen, was uns hier eigentlich fehlt. Die Brüder fanden es sofort heraus. Es kommt wohl daher, weil die Jungen, sobald es friert, an nichts sonst denken als an Schlittschuhlaufen und Eisvergnügen.

»Ja«, sagte Christian traurig, »sonst konnten wir die Weihnachtsferien zum Schlittschuhlaufen auf unserem See benutzen. Bei uns ist nicht viel los, und wenn wir gehen und ein wenig länger bleiben, dann denken unsere alten Damen, wir seien ertrunken und weinen. Vorgestern noch fanden wir sie in Tränen unsertwegen, das ist so peinlich, wir wissen in solchem Fall gar nicht, was wir sagen sollen.«

»Haltet nur punktuell die Zeit ein, die euch gesetzt ist, das will ich euch geraten haben«, sagte Vater ernst.

Wir waren aber nun einmal mit unsern Gedanken auf den See gelenkt und ergingen uns in Erinnerungen. Wir hatten einen niedlichen, viersitzigen Schiebeschlitten; welch ein Vergnügen, wenn wir Schwestern uns von den Brüdern fahren ließen. Und wenn alsbald die Scharen der Dorfkinder herangezogen kamen und mit sehnsüchtigem Verlangen auf den großen Schlitten sahen, und wenn wir dann ausstiegen und winkten, und vier gleichzeitig einsteigen und einmal um den See herumfahren ließen, bis sie durch andere ersetzt wurden, was gab es da für leuchtende Augen, für Jubeltöne, für Lachen und Freudenrufe. Es war das schönste für sie, im Schlitten von den »Herrschaftskindern« gefahren zu werden, und daß unser Vergnügen nicht geringer war, läßt sich denken. Da sagte Vater plötzlich:

»Weißt du, Mutter, wir wollen die Kinder morgen einpacken und nach dem Grüneichener See fahren lassen. Da mögen sie Weihnachten feiern, während wir mit Sophie hierbleiben.«

Wir wußten wohl, daß Vater spaßte, denn er fügte hinzu, er freue sich, daß wir an der Heimat hingen, aber wir sollten daran denken, daß die Eltern aus Liebe zu den Kindern diesen Winter in der Stadt verbrächten, darum sollten wir dankbar sein und das Gute, das es hier gäbe, anerkennen. Ich fand, daß Vater recht hatte, erzählte meinen Brüdern, was ich alles Schönes gesehen und genossen hätte, so daß sie auch anfingen, sich für die Dinge, die es in der Hauptstadt gab, zu interessieren. »Schließlich«, fügten sie hinzu, »muß es hier auch Eisbahnen geben, wir müssen uns einmal erkundigen.« Das war und blieb der Hauptpunkt.

Seit die Brüder da sind, ist ein ganz anderes Leben bei uns. Sie rennen in die Stadt und tun sehr wichtig mit ihren Besorgungen. Wenn sie wiederkommen, machen sie uns neugierig, besonders Thildchen und Olga, die sie viel mit ihren Neckereien plagen.

Gestern nachmittag nach dem Kaffee, der allen sehr mundete – denn Mutter spendete, weil die Brüder es so sehr wünschten, ein Stück Festkuchen –, wanderten Christian und Matthias mit dem Vater in die Stadt, während ich mich in mein Zimmer zurückzog, weil ich noch etwas für Mutter zu tun hatte. Da hörte ich jemanden kommen. Es war mir, als ob ich die Stimme kennen müsse, und doch wieder klang sie fremd. Es mußte ein Herr sein, also mich ging dieser Besuch nichts an, dachte ich, denn ich wollte gern ungestört bei meiner Arbeit bleiben.

Da erschien Friederike mit der Botschaft, ich möchte ins Besuchszimmer kommen. Wer begehrte denn mich zu sehen oder, wem wollte die Mutter mich vorstellen?

Als ich in die Tür trat, sah ich einen Herrn im Lehnstuhl sitzen, den ich sehr wohl kannte. Es war der Herr mit dem Barte. Er stand auf, und mit den Worten: »Sie sind es«, ging ich auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Ich hätte es sonst vielleicht nicht getan, aber durch die Geschichte mit Sophie waren wir schon recht bekannt miteinander geworden.

»Nun, Annchen«, sagte meine Mutter lächelnd, »du scheinst Herrn Doktor Schwarz ja schon zu kennen. Da ist wohl keine Vorstellung nötig.«

»Herr Doktor Schwarz« hieß also der Unbekannte. Ich wußte es bis jetzt noch nicht. »Der Herr hat ja Sophie mit hergebracht, Mutter«, bemerkte ich.

»Das waren Sie, Herr Doktor?« rief nun meine Mutter. »Ich war so erschrocken über den Unfall, daß ich nur auf meine Tochter sah, und als ich mich nach dem Helfer umschauen wollte, war er verschwunden. Jetzt freue ich mich doppelt, daß ich Ihnen –«

»– den Dienst erweisen konnte, liebe Frau Mersburg«, sagte der Herr freundlich und reichte Mutter seine Hand. Es war mir wunderbar, die beiden so vertraut miteinander zu sehen und Mutter sagen zu hören, sie könne noch gar nicht glauben, daß er es wirklich sei.

Mutter wandte sich dann an mich und sagte: »Denke dir, Annchen, Herr Doktor Schwarz ist Tante Lisas Bruder, den ich so gut gekannt habe als kleinen Jungen.«

Da fuhr es mir heraus: »Das ist der ›Bubi‹ von dem du uns so oft erzählt hast!«

Herr Doktor Schwarz lachte so herzlich und schien sich außerordentlich zu freuen, daß ich das gesagt hatte, denn er rief:

»Freilich, der Bubi ist's und weiter niemand, Sie haben ganz recht, Fräulein Annchen.« Dann wandte er sich zu Mutter:

»Liebe Frau Mersburg, ich bin zu glücklich, Sie wiederzusehen. Sie gehören zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Die blonde Mädchengestalt, die mir immer so schöne Geschichten erzählte, die mich tröstete, wenn ich gefallen war, die mir Bilder zeigte, wenn ich krank war, die mit mir im Sommer auf dem Sandhaufen kleine Torten und Kuchen formte, sie steht mir so in der Erinnerung, daß nichts sie verwischen kann und wird. Wie schön, daß wir uns einmal wiedersehen im Leben. Hätte ich im Sommer geahnt, daß ich mit den Söhnen meiner Jugendfreundin – so darf ich doch sagen? – reiste, so hätten wir schon damals ein Wiedersehen feiern können. Wie schade. Ich sah Sie ja flüchtig, als Sie mit Ihrem Gatten an der Bahn standen, aber wiedererkannt hätte ich Sie nicht.«

»Haben Sie damals vielleicht Gundchen besucht? Sie erzählte später, ihr Onkel sei dagewesen.«

»Gewiß habe ich mich nach meiner kleinen Nichte umgesehen, die damals sehr leidend war. Ich hatte jedoch nur zwei Tage Zeit. Ihre Fräulein Tochter traf ich einmal mit den Brüdern im Wald.«

Ich wurde dunkelrot, mir fiel das zerrissene Kleid ein und alles, was damit zusammenhing. Er berührte aber nichts weiter, sondern stand nun auf und sagte mit einem schelmischen Seitenblick auf mich: »Es wird die höchste Zeit, daß der ›Bubi‹ geht, Lisa erwartet mich.«

»Sie müssen aber oft, recht oft herüberkommen«, sagte meine Mutter und drückte Herrn Doktor Schwarz die Hand so herzlich, als ob er ihr bester Freund sei. Ich sah ihn mir recht genau an, während sie miteinander sprachen und fand, daß er noch gar nicht so sehr alt aussah. Der große Bart ist wohl schuld, daß ich ihn für bejahrter hielt.

»Wie schade, daß unsere Jungen fortgegangen sind«, sagte Mutter. Kaum hatte sie dies ausgesprochen, da hörte man Getrappel, lautes Stimmengewirr, die Tür wurde aufgerissen und eine Menge Menschen strömten herein. Voran der Vater, hinter ihm Gundchen und Kurt, die den Onkel holen wollten, den Beschluß machten Matthias und Christian. Die beiden schienen sehr aufgeregt, denn Kurt, dessen Bekanntschaft sie eben gemacht, hatte ihnen erzählt, daß im Schloßgarten auf dem großen Teich eine herrliche Eisbahn sei, und daß er morgen mit ihnen dahin gehen wolle. Als Doktor Schwarz das hörte, sagte er, er würde sich anschließen, er habe seine Schlittschuhe mitgebracht; so gab es viele Freude und Frohsinn.

Gundchen eilte auf mich zu und drückte ihre Freude aus über Onkel Ulrichs Besuch. Sie rühmte ihn sehr und meinte, es sei so gemütlich, wenn er da sei, er gebe sich viel mit ihr und ihrem Bruder ab.

»Wie alt ist dein Onkel eigentlich?« fragte ich sie leise.

»Ich weiß es nicht«, war die Antwort. Ehe ich's hindern konnte, ging sie zu Doktor Schwarz, zupfte ihn am Ärmel und fragte halblaut: »Onkel, wie alt bist du?«

»Siebenundzwanzig«, antwortete er auch halblaut. »Wer will es denn wissen?« Sie zeigte mit dem Daumen rückwärts nach mir, und er sah mich wieder so lustig an wie im Anfang, als ich den verwunderten Ausruf tat. Ich wurde wieder rot und war recht ärgerlich auf Gundchen. Sie konnte es gar nicht begreifen, daß es mir peinlich war, und meinte: »Onkel Ulrich ist so gut, der ist dir deshalb nicht böse.«

Der Vater hatte Onkel Ulrich gleich als den Herrn erkannt, der Sophie herbegleitete. Doktor Schwarz sagte, er habe seine Schwester Lisa auf der Durchreise einige Stunden besuchen wollen, habe aber keine Ahnung gehabt, daß so nahe Beziehungen zwischen uns und Tante Lisa seien. Deshalb habe er auch gar nicht von dem Unfall gesprochen, dessen Zeuge er gewesen. Die Zeit sei überdies so kurz bemessen gewesen, daß man nur das Notwendigste habe miteinander reden können.

Mutter konnte sich gar nicht genug wundern, was aus Tante Lisas Bruder geworden war. »Er hat mir ganz außerordentlich gefallen«, sagte sie, und ich mußte ihr im Herzen recht geben, denn mir gefällt er auch ganz außerordentlich, abgesehen davon, daß er ein wenig neckt, was ja die Brüder auch tun.

Nun liegt eine festliche Stimmung über dem ganzen Hause. Die Zimmer sind gescheuert und mit weißen Vorhängen versehen; die Kuchen duften lieblich, die Festgäste sind eingetroffen. Überall birgt man Geheimnisse, der Christbaum steht schön geschmückt im Saal.

»Nun, ihr Kinder«, sagte Mutter heute beim Gutenachtsegen, »vergeßt nicht, Gott zu bitten, daß er eure Herzen bereite und heilige, damit der König der Ehren einziehen könne und Wohnung in euch machen.«

Ich bete oft im stillen den schönen Adventsvers:

Ach, mache du mich Armen
in dieser heilgen Zeit
aus Güte und Erbarmen,
Herr Jesu, selbst bereit.
Zeuch in mein Herz hinein
vom Stall und von der Krippen,
so werden Herz und Lippen
dir allzeit dankbar sein.

 


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