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Ein Unglücksfall

Der Auftritt zwischen dem Maler Wernigge und seiner Gattin, den Anna in ihrem Tagebuch erwähnt, hatte einige Tage vor dem traurigen Ereignis stattgefunden. Herr Wernigge hatte ein Bild auf eine Ausstellung gesandt in der Hoffnung, dafür große Anerkennung zu finden und vor allen Dingen durch seinen Verkauf eine größere Summe zu erzielen, die ihm jetzt, da wieder einmal Ebbe in der Kasse eingetreten war, höchst wünschenswert erschien. Statt dessen wurde das Bild, ganz wider Erwarten, ungünstig beurteilt, besonders eine Besprechung erregte ihn dermaßen, daß er das Zeitungsblatt hinwarf und sich in unschönen Äußerungen über den Kritiker erging.

»Ob du nicht selbst schuld bist, Arnold, daß deine Bilder keine so günstige Aufnahme mehr finden? Du verwendest lange nicht mehr die Sorgfalt und Genauigkeit darauf wie früher«, sagte seine Frau.

Ob sie wohl soviel Sorgfalt und Fleiß auf ihre Wirtschaft verwende, war die Antwort. Ausgegeben werde immer viel, man wisse nicht, wofür. Geschont würde nichts, das Alte würde vergeudet und immer darauf losgekauft. Sie wäre schuld, wenn sie schließlich noch an den Bettelstab kämen.

Da konnte Lisa sich nicht halten. Sie hielt ihm seinen Leichtsinn vor, sein flottes Leben, ein Wort gab das andere, bis er tobend hinausging und die Tür hinter sich zuwarf. Seitdem gab es täglich gegenseitige Vorwürfe. So war es auch an einem der letzten Tage des Januar gewesen. Gundchen war zu Kurt geflüchtet, der ein ruhiges, nach hinten gelegenes Zimmer zum Arbeiten hatte. Er war ein fleißiger junger Mann, besonders viel hatte er jetzt zu arbeiten, da er in einem Vierteljahr seine Abgangsprüfung machen wollte.

»Kurt, laß mich hierbleiben«, bat Gundchen, »der Vater ist jetzt immer so aufgeregt, und seitdem er letzthin in mein Zimmer lief und sich dort aufhielt, mag ich gar nicht dort sein.«

Kurt nickte ihr freundlich zu und sagte: »Mach dir's bequem, ich bin gleich mit meinem Aufsatz fertig, dann überlaß ich dir das Reich allein. Ich muß die hellen Tagesstunden dazu benutzen, um frisch zu bleiben.«

»Willst du einen Spaziergang machen?«

»Nein, ich will Schlittschuhlaufen. Es ist eine gesunde Bewegung und lange wird das Eis nicht mehr halten. Der kleine See im Dorf, wo wir in der Weihnachtszeit mit dem Schlitten waren, ist famos; ich habe schon mehrere meiner Mitschüler darauf aufmerksam gemacht, wir sind dort unter uns, es ist sehr viel angenehmer als auf dem Teich des Schloßgartens, wo die halbe Stadt sich versammelt.«

»Wirst du heute auch mit deinen Freunden gehen?«

»Ich weiß noch nicht, ob sie Lust haben. Ich gehe jedenfalls.«

Er schrieb seinen Aufsatz fertig, legte die Bücher weg und gab Gundchen einige Zeichnungen und Skizzen. »Das kannst du dir ansehen und mir dann sagen, ob dir's gefällt. Ich habe einiges aus der Schnorrschen Bilderbibel, die Herr Mersburg mir vor einiger Zeit borgte, abgezeichnet.«

Gundchen griff danach und sagte: »Du wirst doch gewiß noch ein Maler.«

»Ganz gewiß nicht, Gundchen. Man kann sein Talent ja auch in einem andern Beruf gebrauchen. Vor allen Dingen möchte ich ein brauchbarer Mensch werden und, was die Hauptsache ist, ein gläubiger Christ. Seit ich Herrn Mersburg kennengelernt habe, ist mir eine ganz andere Welt aufgegangen. Ich verdanke dem prächtigen Manne viel. Eine Unterredung mit ihm ist mir Goldes wert.«

»Ja«, sagte Gundelchen eifrig, »so geht es mir mit Tante Maria und Annchen. Drüben ist unsere eigentliche Heimat.«

»Droben!« antwortete er und zeigte mit dem Finger nach dem Himmel. Sie nickte und fügte hinzu: »Drüben lehrt man uns den Sinn nach droben richten.«

Er nahm seine Schlittschuhe und verabschiedete sich mit einem Kuß.

»Du bist ja heute besonders zärtlich. Nimm dich nur ja in acht, Kurt. Du sagst es doch den Eltern, daß du gehst?«

»Ich will versuchen, ob ich hinein kann. Oft ist ja bei der Mutter zugeschlossen.«

Gundchen hörte ihn noch klopfen, mehrere Male, aber sie konnte nicht hören, ob aufgemacht wurde.

Bis zur Kaffeezeit blieb sie in Kurts Zimmer, dann ging sie, wie üblich, ins Eßzimmer, wo sie die Mutter am Kaffeetisch fand.

»Kommt Vater nicht?« fragte sie schüchtern. In diesem Augenblick kam Herr Wernigge herein, trat an den Kaffeetisch, schenkte eine Tasse ein und trank sie stehenden Fußes.

»Willst du dich nicht setzen?« fragte Lisa.

»Habe keine Zeit. Erroli wartet auf mich. Zum Abendessen werde ich heute nicht da sein, es wird überhaupt heute spät werden.«

»Wie immer«, sagte Lisa. Er hörte es nicht mehr, denn er war schon zur Tür hinaus.

»Wo bleibt nur aber Kurt?« fragte Lisa. »Er pflegt doch sonst pünktlich zu sein. Gewiß steckt er noch in der Arbeit. Geh, rufe ihn doch, Gundchen.«

»Hat er dir nichts gesagt, Mutter? Er ist Schlittschuh laufen gegangen.«

»Jetzt noch? Es hat ja schon seit mehreren Tagen stark getaut. Das hätte er nicht tun sollen.«

»Er wollte es dir sagen. Du hast vielleicht sein Klopfen nicht gehört, Mutter.«

Lisa schwieg, sie entsann sich, daß es zweimal geklopft hatte, als sie sich eben hingelegt hatte, um sich nach den unangenehmen Erörterungen, die sie mit ihrem Mann gehabt, auszuruhen.

»Aber er müßte doch jetzt kommen. Es dunkelt schon.« Sie zog die Hängelampe herunter und zündete sie an. Gundchen eilte ans Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen.

»Draußen ist es noch nicht so finster, Mutter; er ist gewiß längst zurück und bei einem Freund eingekehrt.« Damit beruhigten sich beide. Wie traulich war es nun in dem Gemach, aber so still, unheimlich still. Die Mutter sprach nicht oder gab auf Gundchens Fragen einsilbige Antworten. Sie hatte gewiß ganz andere Dinge zu denken.

So verging eine Stunde. Die Uhr schlug mit lautem Klang sechs. Dann tickte sie ruhig fort, und der Zeiger rückte immer weiter.

»Es beunruhigt mich, daß Kurt noch nicht kommt.« Mit diesen Worten sprang Lisa auf und ging ans Fenster. Sie schob die Vorhänge zurück und sah hinaus. »Überall brennen die Lampen, es ist dunkle Nacht! Wo bleibt er? Sieh nur, Gundchen, drüben bei Mersburgs sind die Vorhänge noch nicht zugezogen, dort laufen sie alle so unruhig durcheinander, es wird doch nichts vorgefallen sein?«

Was gab es denn bei Mersburgs? Sie hatten noch kurz zuvor ebenso ruhig zusammengesessen wie Lisa und ihre Tochter. Da ertönte lautes Klingeln an der Wohnung. Friederike, das Hausmädchen, öffnet und sieht zwei Kinder draußen stehen, anscheinend Bettelkinder, denn sie sind ärmlich gekleidet und haben keine Kopfbedeckung. Atemlos fragen sie nach der Dame des Hauses. Friederike will wissen, was sie wollen und wie sie heißen. Aber ohne zu antworten, laufen sie an dem Mädchen vorbei, reißen die Tür zum Wohnzimmer auf, und das kleine Mädchen ruft mit weinerlicher Stimme: »Kommen Sie doch schnell, es ist jemand ertrunken!«

Erschrocken springen alle auf; sie haben noch keine Klarheit, was geschehen ist, aber eine Ahnung, daß es sie in irgendeiner Weise angehen muß, erfaßt sie. Sie erkennen in der Kleinen das Kind aus dem Dorf, das sie anbettelte und dem sie in der Weihnachtszeit die Bescherung zuteil werden ließen.

»Wer ist denn ertrunken, und warum kommst du zu uns, Kleine?«

»Weil ich den jungen Herrn hier bei Ihnen gesehen habe«, sagte das Kind angstvoll.

»Aber unsere Söhne sind wieder abgereist, das ist wohl ein Irrtum, Kleine.« Das Kind schüttelte den Kopf. »Er war dort, dort am Klavier stand er, ein junger Herr mit dunklem Haar und dunklen Augen.«

»Es ist Kurt gewesen«, schrie Annchen, während Frau Maria erbleichte und stöhnte: »Um Gottes willen, Lisas Kurt! Komm her, Kleine, sage uns schnell, was geschehen ist.«

Mit fliegendem Atem berichtete das Kind, daß der junge Herr seit Weihnachten oft auf ihrem See Schlittschuh gelaufen sei. Auch heute wieder. Aber die Leute meinten, es seien wohl dünne Stellen im Eis gewesen, da es schon stark getaut habe. Einige Fischer hätten es bemerkt, aber zu spät. Sie hätten versucht, ihn zu retten, aber er sei schon tot gewesen, als sie ihn herauszogen. Das ganze Dorf habe sich versammelt, ihre Mutter habe gleich gesagt, er solle in ihre Wohnung getragen werden, sie aber solle laufen, so schnell sie ihre Füße tragen könnten, um den Herrschaften Botschaft zu bringen, denn der junge Mann gehöre zu ihnen.

»Und ich erkannte ihn auch,« setzte das kleine Mädchen hinzu, »darum bin ich schnell hergelaufen.«

»Nun gilt es zu handeln«, rief Herr Mersburg, »Maria, wir müssen beide zu den Nachbarn hinüber.«

Lisa, die schon aufgeregt und unruhig hin und her gegangen war, merkte gleich an den Gesichtern der Freunde, daß etwas vorgefallen sei. Maria suchte sie in zarter, schonender Weise vorzubereiten, während Herr Mersburg das Dienstmädchen nach dem Herrn fragte. »Er ist ausgegangen«, hieß es.

»Wohin?«

Das wisse sie nicht, der Herr habe nur gesagt, er würde erst spät wiederkommen.

»Bestellen Sie mir schleunigst eine Taxe und sagen Sie dann den Damen, ich sei hinausgefahren auf das Dorf.«

»Nein, ich kann es nicht glauben, kann es nicht glauben«, klagte Lisa händeringend, »mein Kurt, mein einzig geliebter Sohn, o mein Gott, womit habe ich das verdient?« Gundchen saß bleich und zitternd in einer Ecke des Zimmers; sie fand keine Tränen und sah starr vor sich hin.

Es war ein schwerer Abend, wohl der schwerste, den Lisa und Maria bis jetzt miteinander verlebt hatten. Die eine aufgelöst in Schmerz, ohne Trost und Hoffnung, die andere tieftraurig, versuchend, der Freundin Balsam auf das wunde Herz zu legen, durch liebevollen Hinweis auf den, der ein Helfer in der Not ist, der nicht Gedanken des Leides, sondern des Friedens über uns hat.

Als dann nach einigen Stunden Herr Mersburg wiederkam, von einigen Männern begleitet, die den Ertrunkenen brachten, da brach der Jammer noch einmal los. Herr Wernigge, der nach langem Suchen gefunden wurde, stürzte nun auch herein, bleich, erschrocken und, wie es schien, erschüttert. Herr und Frau Mersburg hatten vollauf zu tun, die beiden armen, haltlosen Menschen zu trösten und zu beruhigen, erst spät kehrten sie heim und brachten Gundchen mit, die der größten Ruhe und Schonung bedurfte.

Maria nahm das arme, müde, traurige Vöglein unter ihre Flügel. Sie nahm sie in ihre mütterlichen Arme und tröstete sie, während Annchen neben ihr stand und ihre eiskalten Hände rieb.

Da, unter den Liebesworten der beiden treuen Menschenkinder, löste sich die Starrheit, ein Tränenstrom brach hervor und unter krampfhaftem Schluchzen kamen die Worte in Absätzen heraus: »Was soll – ich – nun auf der Welt! Ich bin ja ganz einsam, wenn ich meinen Kurt nicht mehr habe. Mein lieber – lieber Kurt, warum hast du mich verlassen!«

Maria und Anna brachten Gundchen selbst zu Bett; sie wollte nicht, klagte, sie würde nicht schlafen können, aber auf liebreiches Zureden ließ sie sich willenlos auskleiden. Maria blieb an ihrem Bett sitzen, hatte ihre Hand gefaßt und sagte ihr Worte des Trostes, so daß Gundchen, elend, müde und abgespannt, endlich doch unter den linden Worten der Frau einschlief und so für einige Stunden den tiefen Kummer vergaß, den der Herr, dessen Wege oft dunkel und verborgen sind, über sie verhängt hatte.

 


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