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Adelgund

am 22. Juli

Dem Vater geht's besser«, sagte Mutter, als sie mir den Morgenkuß gegeben hatte.

»Und wie geht's dir, liebe Mutter?« fragte ich.

»Du hast die vorige Nacht gar nicht geschlafen, hat das Unwetter vom zwanzigsten dir nicht geschadet?«

»Ein wenig erkältet bin ich«, antwortete Mutter, ich hörte es ihrer Stimme an, daß es mit dem Hals nicht ganz in Ordnung war. »Es tut aber nichts«, fügte sie hinzu; »es ist nicht der Rede wert, wir wollen froh sein, daß wir den Vater wieder so weit haben.«

Er kam gerade jetzt herein; ich sah es ihm an, daß er wieder bei guter Gesundheit war, und dann ist er ein so lieber, guter Vater, daß man ihm ungestraft in die Arme fliegen kann. Er nannte mich seine liebe Kleine, strich mir die widerspenstigen Locken aus dem Gesicht und fragte mich, ob ich mich denn vorgestern auch so vergnügt habe wie Mutter.

»Es war himml–wunderschön«, sagte ich, worauf er lächelnd meinte: »Bis auf die Rückfahrt, da ist das Vergnügen wohl mäßig gewesen.«

»Schadet nichts, lieber Vater«, lachte die Mutter; »der Tag wird mir dennoch unvergeßlich bleiben. Das einzige, was mir leid tut, ist, daß ich nichts von meiner Jugendfreundin Lisa erfahren konnte, was ich so sicher hoffte. Ihre Mutter ist sehr bald weggezogen, man konnte mir nur sagen, daß Lisa verheiratet sei, wußte aber ihren jetzigen Namen nicht. Wäre sie noch Lisa Schwarz, könnte man sie vielleicht eher ausfindig machen.«

»Nun, die Erde ist nicht so groß, ihr werdet einander schon einmal begegnen«, tröstete der Vater, zog die Mutter zu sich aufs Sofa und schlang den Arm um sie. Nun kamen auch die Brüder, es gab eine sehr gemütliche Kaffeestunde, deren Freude noch erhöht wurde durch Briefe von Sophie und den kleinen Schwestern.

Ich habe bisher nicht gesagt, wer Sophie ist, auch meine Schwestern habe ich noch nicht erwähnt. Das wird aber alles kommen, wenn wir erst zu Hause sind, jetzt gibt es von hier noch allerlei zu berichten. Ich will nur so viel sagen, daß Sophie unsere Pflegeschwester ist und daß die Kleinen Mathilde und Olga heißen. Die haben schon große Sehnsucht nach den Eltern, was ich ihnen nicht verdenken kann; ich fühle mich nie wohl, wenn ich nicht bei den Eltern bin.

»Nun, ihr Jungen, was wird heute vorgenommen?« fragte Vater die Brüder. Matthias sagte, sie dächten erst ein Moorbad zu nehmen und dann mit mir spazierenzugehen, um die Gegend zu erforschen. Das erstere redeten die Eltern ihnen aus, das letztere fanden sie annehmbar, da die Eltern Vaters wegen heute nicht weit gehen wollten. Vater muß Moorbäder nehmen, die sind sehr teuer und werden nur aus Gesundheitsrücksichten benutzt. Sie greifen an, und wer eins nimmt, muß eine Stunde lang danach liegen, das wäre nichts für die Brüder.

Entdeckungsreisen habe ich immer gern gemacht, bin zu Hause mit Matthias und Christian durch Feld und Wald gestreift; wir rüsteten uns also nach dem Frühstück, während die Eltern ins Badehaus gingen.

»Wir wollen zunächst einmal auf die Höhen klettern und uns den Ort von oben ansehen«, entschieden die Brüder. Ich war's zufrieden. Wir gingen durch die Anlagen und begegneten Adelgund mit ihrer Tante. Sobald sie mich von weitem erblickte, kam sie auf mich zu. »Wie habe ich Sie vermißt«, sagte sie, »ich habe Sie schon zwei Tage lang nicht gesehen.«

Ich sah die erschrockenen und unzufriedenen Gesichter der Brüder, die gewiß glaubten, ich würde ihnen entführt oder sie würden verurteilt, mit den fremden Damen im Schritt spazierenzugehen. Ich sagte deshalb gleich: »Jetzt beabsichtige ich mit meinen Brüdern auf die Berge zu steigen –«

»Da kann ich nicht mit«, fiel sie mir traurig in die Rede, »ich kann das Bergsteigen nicht vertragen.«

»Aber heute nachmittag wollen wir beide miteinander gehen; ich hole Sie ab, und wenn Sie dürfen, können wir ein paar Stunden zusammenbleiben.«

»O das ist schön«, rief sie sichtlich erfreut; »aber nicht wahr, wir können jetzt auch noch ein Stückchen zusammen gehen bis zum Ende der Anlagen?«

»Gundchen, geh du mit Fräulein Annchen und komm dann zu mir zurück; ich erwarte dich hier auf der Bank.«

Mit diesen Worten setzte sich die alte Dame; Adelgund, die ganz rot vor Freude geworden war, faßte mich unter mit einem lieblichen: »Darf ich?« und die Brüder trabten vor uns her. Plötzlich fragte mich Adelgund ganz laut: »Haben Sie schon in Ihr Tagebuch geschrieben?« Bei diesen Worten drehten sich Matthias und Christian beide um und sahen mich gespannt an. Ich gab Adelgund einen Wink zu schweigen, aber Christian sagte treuherzig:

»Wir haben es nun doch schon gehört.« Adelgund aber drückte meine Hände und bat mich, nicht böse zu sein, sie habe nicht gewußt, daß es ein Geheimnis sei. Ich beruhigte sie, aber unangenehm war es mir doch.

Am Ende der Anlagen verabschiedete sie sich, um zu ihrer Tante zurückzukehren. Nun begannen unsere Wanderungen. Die Brüder liebten die ungewöhnlichen Wege mehr als die ebenen, sie suchten sich die steilsten Aufstiege, so daß ich oft Mühe hatte zu folgen. Wir wurden aber durch eine herrliche Aussicht belohnt. Nachdem wir uns ein Weilchen ausgeruht hatten, gingen wir auf ein Gehölz zu.

»Nun wollen wir den Urwald durchforschen«, sagte Matthias, als wir uns unter den schattigen Bäumen des Waldes befanden. Er war eine Art Naturforscher und schleppte Käfer, Raupen und anderes Gewürm zusammen, während Christian sich aufs Steinesammeln legte und sich die Taschen vollpfropfte, daß sie beinahe platzten. Es wäre mir fast langweilig geworden, wenn ich nicht plötzlich Heidelbeerkraut entdeckt und mich nun aufs Heidelbeeressen gelegt hätte; denn unter den grünen Blättern versteckt, luden die niedlichen blauen Beeren zum Schmausen ein. Ich verlor mich so immer weiter und merkte es kaum. Wie schattig und kühl war es unter den hohen Bäumen, so geheimnisvoll still, nur wenn ich auftrat, knisterte es leise unter meinen Füßen. Hin und wieder zwitscherte ein Vöglein in den Zweigen, wie schön war es in der Waldeinsamkeit; ich wollte nur, Adelgund wäre bei mir gewesen, hier war der Ort zum Freundschaftschließen, hier hätte ich ihr gleich das Du angeboten. Doch ritsch – was war das? O weh, mein Kleid! Warum sind die Sommerkleider auch so dünn und warum gibt es so spitze Haken an den Büschen! Vollkommen ist doch nichts in der Welt; Freude und Leid wechseln so schnell. Denn leid ist es mir um das schöne Kleid! Mutter sagte noch beim Weggehen, ich solle mich recht in acht nehmen. Wenn ich nur Stecknadeln bei mir gehabt hätte, denn es war ein langer Riß. Jetzt fiel mir ein, daß Matthias immer sehr viel Stecknadeln auf seinen Ausflügen mitnahm, da war mir ja vorderhand geholfen.

»Matthias«, rief ich, aber keine Antwort. Nun erst merkte ich, daß die Brüder gar nicht in der Nähe waren. Ich ging, so schnell ich konnte, den Weg zurück, den ich gekommen; endlich hörte ich ihre Stimmen. Aber es schien eine fremde, männliche Stimme dabei zu sein. Wie peinlich! Ich konnte mich unmöglich so sehen lassen. Ein großer Busch trennte mich noch von ihnen, ich konnte hindurchlugen, wurde aber nicht gesehen. Ein großer, schon etwas älterer Herr mit einem riesigen Bart stand bei ihnen.

»Suchen Sie das kleine Mädchen, das Ihnen, als wir zusammen ankamen, entgegenlief?« fragte er.

»Kleines Mädchen«, wiederholte ich für mich empört, am liebsten wäre ich aus dem Busch gesprungen und hätte mich in meiner ganzen Länge vorgestellt. Aber ich konnte ja nicht. »Matthias«, rief ich schüchtern. Sie drehten sich alle drei nach dem Busch um.

»Da ist sie, es war wenigstens ihre Stimme«, rief Christian. »Annchen, komm doch.« Da ich es aber aus guten Gründen vorzog, nicht zu kommen, bequemte sich endlich Matthias, nach mir zu sehen. Ich hielt ihm den Riß vor die Augen und sagte flehentlich: »Matthias, du hast Stecknadeln, hilf mir doch endlich.« Er öffnete seinen Rock und holte aus der Kehrseite den gewünschten Artikel herbei; ja, er kniete sogar vor mir und half den abscheulichen Riß zustecken.

»Wer ist der Herr?« fragte ich ihn leise.

»Unser Reisegefährte«, antwortete er mit dröhnender Stimme.

»Sei doch ruhig, Matthias, schreie nicht so, nun wird's gehen. Der Herr scheint zu denken, daß ich noch ein kleines Kind bin«, sagte ich wieder ganz leise.

»Nein, dafür hält er dich nicht.«

»Bitte, nicht so laut«, flehte ich. Er hatte natürlich alles gehört, was Matthias sagte, denn als ich hinter dem Busch vorkam, wurde er etwas verlegen, nahm den Hut tief ab und verbeugte sich. Christian war so gewandt, mich als Schwester und den Herrn als »den Reisegefährten« vorzustellen. Der murmelte zwar einen Namen, den ich aber nicht verstand. Er hatte große kluge Augen, die mich sehr verwundert ansahen, ich glaube, er hat sich über den zugesteckten Riß gewundert, denn gesehen hat er ihn natürlich.

Er interessierte sich sehr für die seltsamen Steine, die Christian gefunden hatte, Matthias' Schachteln mit Raupen und Würmern ließen ihn kalt, wie es schien. Er unterhielt sich ein wenig mit mir, nannte mich »Fräulein« und war außerordentlich höflich, das kann ich nicht anders sagen. Wir gingen eine ganze Strecke miteinander; als wir an einen Kreuzweg gelangten, verabschiedete er sich, und nun merkte ich erst, daß er eine schwarzlederne Tasche umgehängt hatte.

»Er verläßt den Ort wieder«, sagten die Brüder. »Er will bis zur nächsten Eisenbahnstation gehen.«

»Wer ist er und wie heißt er?« fragte ich, »ich habe den Namen nicht verstanden.«

»Den wissen wir auch nicht, aber er ist ein ganz famoser Herr, wir haben ihn unterwegs kennengelernt und glauben, daß er ein Arzt oder dergleichen ist. Seitdem nennen wir ihn ›den Arzt‹, wenn wir von ihm sprechen.« –

Mutter freute sich nicht über den Riß in meinem Kleide. »Annchen, du mußt vorsichtiger werden«, sagte sie. »Du wirst den Riß morgen in den Vormittagsstunden ganz fein zustopfen.« Das ist eine schöne Aussicht für morgen, aber gemacht muß es werden, Mutter hat's gesagt.

Bei Tisch fingen die Jungen vom Tagebuch an. Ich hoffte schon, sie hätten es vergessen, aber nein, sie verlangten, ich solle es zum besten geben. Ich wandte mich an Vater und bat ihn, das nicht zuzulassen. Ich kann doch nicht alles preisgeben, was ich geschrieben habe.

Darauf sagte er: »Matthias und Christian, ihr laßt eure Schwester in Ruhe. Sie soll ihr Tagebuch für sich allein haben, weder Mutter noch ich wollen es lesen, wenn sie es nicht freiwillig zeigt.« Wie glücklich bin ich, daß Vater so gesprochen hat. Nun ist es mein innerstes Eigentum, ich darf ganz so schreiben, wie es mir ums Herz ist. Die Brüder brummten zwar, es stehe gewiß von ihnen etwas darin, ich tat, als ob ich es nicht hörte.

Am Nachmittag gingen wir mit den Eltern ins Freie. In der Nähe liegt ein liebliches Dorf, dorthin wollten wir. Vorher durfte ich mir Gundchen holen.

Nun gingen wir beide miteinander. Ich schlug ihr vor, ob wir uns nicht du nennen wollten, da drückte sie meinen Arm fest an sich und sagte: das habe sie sich so sehr gewünscht. Ich fragte sie allerlei, und sie erzählte, daß sie immer in großen Städten gelebt haben, zuerst in Düsseldorf, dann eine Zeitlang in München, nun in Berlin. Aber sie glaube, die Eltern wollten in kurzer Zeit auch von dort wegziehen, sie wisse nicht wohin. Ich beneidete sie fast, daß sie schon so viel von der Welt gesehen habe, aber sie meinte, sie dächte es sich viel schöner auf dem Lande zu leben, wo die Menschen nicht so eingeengt nebeneinander wohnten und immer die schöne, reine Luft genießen könnten. Ich fragte nach ihren Eltern; sie sagte, sie liebe ihre Mutter sehr, vom Vater sehe sie wenig. Er sei Maler und viel im Atelier beschäftigt. Er mache oft Reisen und die Mutter begleite ihn meistens, auch jetzt seien die Eltern unterwegs. Sie aber habe auf Anraten des Arztes in ein Nervenbad gemußt, da sie so schwach sei. –

Sie sieht allerdings sehr zart aus, man mag ihr nichts zumuten. Der Weg ermüdete sie so, daß sie sich eine ganze Stunde ausruhen mußte. Sie kommt mir recht zerbrechlich vor. Als Mutter mich später fragte, wie mir die kleine Freundin gefiele, und ich äußerte, sie sei etwas zimperlich, viel lasse sich nicht mit ihr anfangen, ermahnte sie mich, recht rücksichtsvoll und gut mit ihr zu sein. »Denke immer daran, daß sie kränklich ist, und kümmere dich oft um sie; suche ihr Freude zu machen, dann wirst du selbst im Umgang mit ihr Freude finden.«

Das will ich tun. Was meine Mutter mir rät, ist immer das beste, ich fühle mich am wohlsten, wenn ich genau das tue, was sie mir sagt.

 


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