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Die Pflegetochter

Frau Maria ging bedrückt einher. Auf ihrem sonst so klaren Angesicht lag eine Wolke, sie hatte keine Freudigkeit beim Schaffen und Wirken im häuslichen Kreise. Und sie hatte sich doch nach den Wochen des Nichtstuns auf die täglichen Pflichten, die ihrer harrten, so gefreut. Ihre Pflegetochter Sophie machte ihr Kummer. Maria hatte schon bei ihrer Erziehung mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, keines ihrer eigenen Kinder hatte es ihr so schwer gemacht; es war ihr mitunter der Gedanke gekommen, ob es nicht besser gewesen sei, wenn sie das Kind damals seinem Schicksal überlassen hätte, aber nein, so wie die Dinge lagen, mußte sie sich des armen Würmleins erbarmen. Wie konnte sie nur so denken! Sophie hatte manche vortreffliche Eigenschaften, sie war geschickt und praktisch veranlagt, hatte Ordnungssinn und war sparsam – aber sie konnte mißtrauisch und neidisch sein und zeigte kein dankbares Herz, was man doch eigentlich hätte erwarten dürfen.

So hatte ihr Frau Maria ein wertvolles Geschenk von der Reise mitgebracht, Sophie hatte sich aber nichts anmerken lassen, ob es ihr Freude gemacht oder nicht.

Es war Abend. Sophie war mit den drei Schwestern ins Dorf gegangen. Herr Mersburg war auf dem Hof und gab seine Anordnungen für den folgenden Tag. Frau Maria stand allein am Fenster der großen Eckstube, auch Musikzimmer genannt, und schaute sinnend hinaus, da klopfte es. Die Erzieherin, eine kleine Blondine von zartem Wuchs, aber kräftigem Auftreten, kam herein, um mit der Frau des Hauses zu sprechen; sie hatte den Zeitpunkt günstig gewählt, da die anderen Familienglieder abwesend waren. In wohlgesetzten Worten bat sie um ihre Entlassung zu Michaelis, und als Frau Mersburg befremdet fragte, was sie zu der Kündigung veranlasse, und hinzusetzte, sie habe gehofft, Fräulein Schwabe fühle sich in ihrem Familienkreis heimisch, da brach es los. Sie wolle sich nicht von der ältesten Tochter beherrschen lassen. Sie habe sie von oben herab behandelt und ihr Vorschriften gemacht, so etwas sei sie nicht gewöhnt, das könne und wolle sie sich nicht mehr gefallen lassen.

Frau Maria hörte sie ruhig an, bedauerte dann, daß die beiden jungen Mädchen so wenig daran gedacht hätten, es ihr zu erleichtern. Was bedeute es schon, wenn ihre Kinder tüchtig gelernt hätten in ihrer Abwesenheit, und wenn Sophie das ganze Haus hätte reinigen lassen, wenn sie beide den Kindern und den Leuten ein so schlechtes Beispiel von Zwist und Uneinigkeit gegeben hätten. Sie habe geglaubt, Haus und Kinder in ihrer und Sophiens Obhut wohl verwahrt zu wissen.

Darauf antwortete Fräulein Schwabe, Frau Mersburg kenne Sophie nicht von der schlimmen Seite, sie habe keine Lust, noch einen Winter mit ihr im Hause zu verbringen. Maria hemmte den Wortschwall, indem sie ruhig sagte, sie nehme die Kündigung an und werde sich nach einer anderen Lehrerin umsehen. Daß Fräulein Schwabe ihre Kinder nicht gut beeinflussen könne, habe sie jetzt aus ihrer ganzen Denkungsweise gemerkt, so wäre es ja das beste, man trennte sich. –

Aber Sophie! Es tat Maria weher, als sie sagen konnte, daß sie ihr so wenig Liebe und Vertrauen entgegenbrachte. Sie mußte jetzt nach der Aussprache mit Fräulein Schwabe mit Sophie reden, fürchtete sich aber davor und verschob es auf den andern Morgen.

Nachdem der Kaffee vorüber und die Erzieherin mit den Kleinen nach oben gegangen war, verweilte Frau Maria noch ein wenig im Eßzimmer. Annchen räumte den Kaffeetisch ab, wie es immer ihr Amt war. Sie hatte die Mutter, die sich ans Fenster gesetzt hatte, schon ein paarmal verstohlen angesehen. Es war etwas nicht in Ordnung, das merkte sie, denn sonst pflegte die Mutter gleich nach dem Kaffee hinauszugehen, um über wirtschaftliche Dinge zu verhandeln oder häuslichen Pflichten nachzugehen.

Plötzlich eilte sie auf die Mutter zu, umschlang sie und rief: »Liebste Mutter, du siehst traurig aus, das kann ich nicht sehen, bitte, bitte, laß die Sonne wieder scheinen auf deinem lieben Angesicht, bitte, liebste Mutter.«

»Wenn aber Wolken die Sonne verhüllen, dann vermag sie nicht durchzudringen.«

»Ich küsse die Wolken alle weg, sei wieder fröhlich, willst du?«

»Ja, wenn Sophie wollte. Ich muß einmal ernstlich mit ihr sprechen, so kann es nicht fortgehen.«

Da, wie von einem plötzlichen Entschluß übermannt, legte Annchen ihren Mund an Mutters Ohr und flüsterte ihr zu: »Ich weiß, Mutter, warum Sophie so hochmütig ist. Sie denkt, ihr Vater sei ein Graf gewesen, deshalb sieht sie auf uns alle herab.«

»Wa – was denkt sie? Ein Graf sei ihr Vater gewesen?!« Maria wußte nicht, sollte sie lachen oder weinen.

»Wer in aller Welt hat ihr das eingeredet?«

»Mutter Krusen hat es ihr anvertraut.«

»Und woher weißt du das schöne Märchen?«

»Sophie hat es mir einmal gesagt, aber ich sollte es dir nicht wiedersagen, habe auch geschwiegen bis heute. Nun mag sie mich darum schelten, es ist doch besser, du weißt es, ich mag keine Geheimnisse vor dir haben.«

»Allerdings ist es besser, daß ich den Unsinn weiß. Es ist die höchste Zeit, hier klare Linien zu schaffen. Schicke Sophie zu mir herein; sie ist im Garten beim Himbeerpflücken. Übernimm du einstweilen ihre Arbeit.« –

Es währte geraume Zeit, bis das junge Mädchen erschien. Frau Maria, die in allen Anliegen zu Gott betete, bat auch diesmal um die rechte Weisheit und die rechten Worte, um dies störrische Herz zurechtzubringen.

Sophie hatte eine hochmütige Miene angenommen, als sie hereinkam. »Setze dich, mein Kind, ich habe mit dir zu reden. Du hast dich während unserer Abwesenheit mit Fräulein Schwabe entzweit; es tut mir doppelt weh, als ich so großes Vertrauen in dich setzte und dir nicht allein mein Haus mit allem drum und dran, sondern auch meine Kinder, deine Schwestern, übergeben habe, daß du sie, mit Fräulein Schwabe zusammen, überwachen solltest. Ihr habt kein gutes Beispiel gegeben.«

»Daran ist Fräulein Schwabe ganz allein schuld. Sie widersetzte sich mir in allem vom ersten Tage an.«

»Du bist ihr vielleicht herrisch entgegengetreten; Fräulein Schwabe ist schon ein ganzes Jahr hier, ich bin immer gut mit ihr ausgekommen.«

»Ja, du, Mutter. Ich habe eben nicht deine sanftmütige Natur. Bei mir heißt es: biegen oder brechen. Sie wollte sich mir nicht fügen, da habe ich ihr tüchtig die Wahrheit gesagt. Höre nur, ich werde dir alles erzählen.«

»Ich mag die häßlichen Geschichten gar nicht wissen; es ist schlimm genug, daß die Kinder alles gesehen und gehört haben. Sophie, du solltest mir meine Aufgabe erleichtern, könntest ein klein wenig dankbarer sein für das, was deine Pflegeeltern an dir getan haben.«

»Nun, vielleicht kann ich euch einmal glänzend vergelten, was ihr mir geopfert habt«, sagte Sophie mit einem hochmütigen Zurückwerfen des Kopfes.

»Wohl schwerlich«, war Marias Antwort. »Hingebende Liebe und kindliches Vertrauen wären der Dank, der mich vollkommen befriedigte.«

»Warum läßt du mich nicht wissen, wer meine Eltern sind? Ich bin alt genug, um darüber aufgeklärt zu werden, ich wüßte gern, ob noch Verwandte von mir leben.«

»Die gewünschte Aufklärung kann ich dir geben«, sagte Maria ruhig und begann:

»Wir waren erst kurze Zeit verheiratet, da hatte meine Tante, bei welcher ich die letzten Jahre zugebracht, sich entschlossen, ganz zu uns zu ziehen. Sie hatte ein unheilbares Leiden, und da sie an meine Hilfe gewöhnt war und sich am liebsten von mir pflegen ließ, so nahm sie unser Anerbieten, in unser Haus zu kommen, mit Dank an. Wir mußten ihrer Besitzung wegen, die verkauft wurde, eine Reise unternehmen und kamen auf der Hinfahrt durch ein Dorf, wo, wie ich wußte, ein Mädchen verheiratet war, die lange meiner Tante treu gedient hatte. Ich fand sie schwer krank; ihre alte, fast erblindete Mutter war um ein kleines, elendes Kind von etwa zwei Jahren bemüht, das jämmerlich weinte. Die Mutter erhielt von uns eine Summe Geldes, um dafür Stärkungsmittel und was sonst nötig sei für die Kranke zu besorgen, und ich bedauerte, mich nicht weiter um sie kümmern zu können, da wir nur eine halbe Stunde Aufenthalt hatten. Als wir nach etwa acht Tagen zurückkamen, bat ich meinen Mann, einen Tag in dem schöngelegenen Ort Rast zu machen. Ich konnte das traurige Bild der sterbenden Frau nicht loswerden; ich konnte das arme Würmlein nicht vergessen. Schon im Gasthof, wo wir abgestiegen, hörte ich, daß die Frau gestorben sei. ›Ja‹, hieß es, ›die arme Frau hat keine goldenen Tage gehabt, es ist gut, daß sie erlöst ist. Der Mann war ein Trunkenbold, er hat sie oft mißhandelt. Und einmal hat er in der Trunksucht das Messer gezogen und einen Menschen tödlich verletzt. Da haben sie ihn eingesteckt und das arme Weib hat sich zu Tode gegrämt.‹ Ich fragte nach dem Kindlein und seiner Großmutter. ›Noch ist es bei der Alten‹, hieß es, ›aber es wäre das beste, das Würmchen stürbe auch, bei der alten Frau kann es nicht bleiben, sie ist ja selbst gebrechlich.‹ Es zog mich zu dem hilflosen kleinen Wesen; ich sah, daß es nicht bei seiner Großmutter bleiben konnte, Verwandte waren nicht da, so nahm ich, mit meines Mannes Einwilligung natürlich, die Kleine mit mir, gelobend, ihr eine treue Mutter zu sein. Ich weiß nicht, ob ich mein Wort gehalten habe, Sophie.«

»Du willst doch nicht sagen, daß ich das Kind der armen Frau gewesen bin«, rief Sophie, die unter der Erzählung bleich geworden war. »Und der Mann, der schreckliche Mann –«

»Seiner brauchst du dich nicht mehr zu schämen, er lebt nicht mehr.«

Sophie hatte beide Hände vors Gesicht gelegt und stöhnte.

»Jetzt begreifst du, liebes Kind, warum ich nie mit dir über deine Herkunft gesprochen habe. Ich hätte es auch heute nicht getan, wenn du es nicht gefordert hättest. Wir haben dich in unser Haus und an unser Herz genommen und haben es dich nie fühlen lassen, daß du nicht unser eigenes Kind warst.«

»Und doch habe ich es oft gefühlt. Seit Anna erwachsen ist, wird sie mir vorgezogen, natürlich, nun verstehe ich es; ein armes Bettelkind kann keine Reisen mitmachen, es muß daheim bleiben und den Haushalt führen.« Um Marias Mund zuckte es schmerzlich: »Also, da will's hinaus! Sophie, konnte ich das junge unerfahrene Kind allein hier lassen und dich mitnehmen? War es nicht ein Zeichen des Vertrauens, daß ich dir alles übergab, mein Eigentum, meine Kinder; hätte ich das mit meiner eigenen ältesten Tochter nicht auch so gemacht? Ich hoffe, wenn du nachdenkst, wirst du selbst zu der Erkenntnis kommen, daß du mir großes Unrecht tust, wenn du solche Behauptungen aufstellst.«

»Ich werde fortgehen; hierbleiben kann ich nun nicht mehr, seit ich alles weiß. Ich werde mir selbst meinen Unterhalt verdienen und euch nicht länger zur Last fallen.«

»Bitte Gott um Demut, mein Kind. Erkenne deine Schuld und diene deinen Eltern wie bisher, aber mit einem andern Sinn.«

»Es wird sich alles finden«, versetzte Sophie und verließ das Zimmer, als eben Herr Mersburg hereintrat.

»Was hat's denn gegeben, Maria? Wieder Aufregungen? Du zitterst –«

»Undank ist der Welt Lohn«, kam es von Frau Marias Lippen. »Du weißt, welche unsägliche Mühe mir dies Kind gemacht, wie viele Sorge ich mit ihm gehabt, und nun wirft sie mir vor, ich hätte sie vernachlässigt, zurückgesetzt.«

»Da soll doch – das ist ja eine Unverschämtheit sondergleichen. Ich werde ihr einmal den Standpunkt klarmachen.«

»Laß sie, ich hoffe, sie besinnt sich. Ihr Stolz hat einen argen Stoß bekommen, daher war sie so aufgeregt.« Maria erzählte nun in kurzen Worten die Unterredung mit Sophie, worauf er erwiderte: »Laß sie ruhig gehen, laß sie sich die Hörner ablaufen. Wir werden ja sehen, wie weit sie kommt.«

Maria dachte nicht so. Sie hoffte bestimmt, Sophie würde ihr Unrecht einsehen und alles würde beim alten bleiben.

 


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