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Die Schlittenfahrt

am 30. Dezember

Die Feiertage sind vorüber, aber es liegt noch ein goldener Glanz über dem Ganzen. Wenn wir auch mitunter Heimweh hatten nach Grüneichen, nach den großen luftigen Zimmern, in denen die Weihnachtslieder so voll tönten, nach dem Kirchlein in Holzenau, wohin uns der Schlitten mit Schellengeläute brachte, und wo unser lieber Pfarrer der dichtgedrängten Landbevölkerung die frohe Botschaft verkündigte: »Euch ist heute der Heiland geboren«, so war dies in der Stadt verlebte Weihnachtsfest nicht minder schön. Die Eltern waren bei uns, keins der Geschwister fehlte, Sophie war wieder in unserer Mitte, da gab es wohl Grund, dankbar zu sein. Die Gottesdienste in der schönen Johanneskirche waren erbaulich, der Chorgesang erhebend. Die Eltern gingen mit allen fünf Kindern, Sophie mußte leider ihres Fußes wegen zu Hause bleiben. Sogar Gundchen und Kurt waren mit Onkel Ulrich in der Kirche; Gundchen geht sehr selten. Als ich sie einmal fragte, warum ich sie nie dort sähe, antwortete sie, ihre Mutter habe gewöhnlich am Sonntagmorgen Kopfschmerzen.

Ich sagte: »Kannst du nicht mit deinem Bruder gehen?« worauf sie meinte, der verabrede sich oft mit Freunden, da könne sie sich nicht anschließen.

Aber Onkel Ulrich nahm sie mit, das war schön. Ich war am Nachmittag des Heiligen Abends ein Weilchen drüben, da hörte ich ihn zu Tante Lisa sagen: »Lisa, kommst du morgen mit zur Kirche?«

»Ich glaube es kaum«, war Tante Lisas Antwort.

»Mein Mann bringt heute abend Gäste mit, und wenn es abends spät wird –«

»Ich weiß schon«, sagte er und runzelte die Stirn. »Ich nehme aber Gundchen und Kurt mit.« Tante Lisa sagte nichts dazu und verließ das Zimmer. Ich freute mich, als Gundchen am ersten Feiertage nach der Kirche auf mich zukam mit den Worten: »Das war aber schön, ich möchte wohl jeden Sonntag in den Gottesdienst gehen.«

»Solange wir hier sind, kannst du mit uns gehen«, sagte ich, »meine Eltern nehmen dich gern mit.« Das nahm sie sehr erfreut an. Onkel Ulrich ist, wie ich glaube, ein gottesfürchtiger Mann. Ich sage, wie Gundchen, Onkel Ulrich, wenn ich von ihm spreche. Wenn ich ihn anrede, nenne ich ihn natürlich Herr Doktor. Onkel Ulrich ist in diesen Tagen sehr viel bei uns gewesen. Es war eine herrliche Zeit, außer dem Tag, an dem Vater seine Kopfschmerzen hatte. Aber sie treten jetzt viel seltener auf, seit er in der Behandlung eines berühmten Nervenarztes ist; ich denke, es wird sich mit der Zeit noch ganz verlieren. An dem Kopfschmerzentag waren wir alle zu Wernigges eingeladen und verbrachten den Nachmittag und Abend dort, während die Eltern natürlich zu Hause blieben. Wir waren auf diese Weise alle aus dem Wege und haben uns drüben herrlich vergnügt. Onkel Ulrich gibt sich viel mit der Jugend ab, er macht alle Gesellschaftsspiele mit, kennt sogar viele neue. Er scheint es nicht übelgenommen zu haben, daß ich Gundchen nach seinem Alter fragte; er hat sich sogar den großen Bart etwas gekürzt und fragte mich, ob er nun noch so alt aussehe, was ich verneinte, denn das hat ihn viel jünger gemacht. Zwischen Mutter und ihm besteht ein sehr herzliches Verhältnis. Am zweiten Weihnachtsfeiertag waren Wernigges alle bei uns eingeladen, sogar Gundchens Vater. Ich habe das Gefühl, als ob die Väter sich gegenseitig nicht besonders gern mögen, aber sie haben sich doch besucht und darauf sind Einladungen erfolgt. Herr Wernigge kann sehr interessant erzählen von allem, was er gesehen hat; sein Kunstverständnis kam uns zugut, als wir alle vorgestern die Gemäldegalerie besuchten. Da machte er den Führer und erklärte uns die Bilder so eingehend, daß wir alles viel besser verstanden, als wenn wir allein gegangen wären. Aber er scheint sich nicht viel aus seinen Kindern zu machen. Es ist überhaupt zwischen den Eltern und Kindern kein so liebevolles Verstehen, wie es bei uns der Fall ist.

Tante Lisa war sehr vergnügt, als sie den Abend bei uns waren. Mutter und sie kamen wieder auf die alten Zeiten zu sprechen, und Onkel Ulrich wußte sich auf vieles zu besinnen, was die beiden vergessen hatten. Tante Lisa sah wieder wunderschön aus; sie hat prächtige dunkle Augen und wundervolles schwarzes Haar. Wenn sie lebhaft ist und Farbe bekommt, und wenn die Augen so hell leuchten, dann muß ich sie immer ansehen. Onkel Ulrich sieht ihr etwas ähnlich, doch ist er nicht ganz so hübsch. Von ihm muß ich noch erzählen, daß er Mutter herzlich bat, ihm zu erlauben, sie »Frau Maria« zu nennen. Mutter lächelte und gestand es ihm gerne zu.

»Es ist um der alten Erinnerungen willen, Frau Maria«, sagte er, »der Name ist mir, weil Sie ihn führten, immer lieb und wert geblieben.«

Am andern Morgen kam Kurt und fragte, ob wir uns an einer Schlittenfahrt beteiligen wollten. Onkel Ulrich wollte zwei Schlitten bestellen, es sei eine wunderschöne Bahn, wenn es den Eltern recht sei, würden wir nach einem in der Nähe liegenden Dorf fahren und dort den Kaffee trinken.

»Sophie muß aber mit«, erklärte Mutter, »sie soll nicht immer zu Hause bleiben.« Sophie wehrte ab, meinte, es täte ihr sehr gut, wenn sie allein bliebe, aber die Brüder waren bereit, sie die Treppe hinunterzutragen.

»Das ist nicht nötig«, rief Vater, »ich werde meine Tochter stützen, dann kann sie schon in den Schlitten kommen; eine Ausfahrt wird ihr gut tun, sie sieht immer noch so blaß aus.«

Sophie sah den Vater dankbar an; ich glaube, sie fühlt jetzt doppelt die Liebe der Eltern, seit sie fort gewesen ist. Kurt und die Brüder sind schon große Freunde. Christian meinte kürzlich, Kurt sei ein feiner Primaner, der schäme sich nicht, mit Tertianern zu verkehren.

Wir Kinder waren alle sehr vergnügt in Erwartung der Schlittenfahrt. Das Mittagessen wurde zeitiger angesetzt, da die Schlitten schon um zwei Uhr da sein sollten. Mathilde und Olga konnten es gar nicht erwarten, sie standen schon eine Stunde vorher am Fenster und hielten Ausschau. Endlich ertönte ihr Ruf: »Sie kommen, sie kommen!« Da kamen wir alle zum Vorschein in Mänteln und Wollmützen. Die Mädchen brachten Fußsäcke und Reisedecken. Wir waren zwölf Personen, Herr Wernigge hatte einen Grund zum Absagen gefunden; er hatte sich, wie gewöhnlich, verabredet. Mutter und Tante Lisa saßen im ersten Schlitten und nahmen Gundchen, die sehr dünn ist, zwischen sich. Sophie und ich nahmen auf der Rückbank Platz, während Vater sich zum Kutscher gesellte. Im zweiten Schlitten saß Onkel Ulrich mit der Jugend. Sie fuhren dicht hinter uns, wir hörten sie beständig kichern und lachen. Beinahe beneidete ich meine kleinen Schwestern, ich hätte fast lieber mit Christian und Matthias zusammengesessen und an ihrem Unsinn teilgenommen.

»Maria«, sagte Tante Lisa, »wer hätte vor einem Jahr geglaubt, daß wir beide mit unsern Kindern zusammen eine Schlittenpartie machen würden. Damals dachten wir auch noch nicht daran, uns hier niederzulassen.«

»Ja, wunderbar ist's mir«, antwortete Mutter sinnend, »wir dachten auch nicht daran, einen Winter in der Stadt zu verleben. Gott, der Herr, hat uns wieder einmal zusammenführen wollen, liebe Lisa.«

Wir sausten durch die Vorstadt und waren bald auf der Landstraße. Es war ein klarer schöner Frosttag, rechtes Weihnachtswetter, das Schellengeläute klang so hübsch, es war alles dazu angetan, uns froh zu stimmen. Mutter war immer besorgt um Sophie, ob sie warm genug eingepackt sei, ob der Fuß die rechte Lage habe, auch Tante Lisa unterhielt sich eingehend mit Sophie.

Das Dorf, das wir uns als Rastort ausgesucht hatten, lag so friedlich da mit seinen weißbeschneiten Häusern und den bereiften Bäumen. Wir fuhren erst daran vorbei, um die Schlittenfahrt noch etwas länger zu genießen; auf dem Rückwege aber machten wir halt vor einem ansehnlichen Gasthaus. Die Frau in weißer Schürze kam heraus und empfing uns. Als wir abstiegen, hatte sich eine ganze Kinderschar um uns versammelt, und als Mutter mit Tante Lisa gerade durch die Haustür gehen wollte, drängte sich ein kleines blasses Mädchen in dürftiger Kleidung an sie heran und bat um eine Kleinigkeit. Mutter hatte Mitleid und sagte: »Geld gebe ich Kindern nicht gern, sage mir, wie du heißt und wo du wohnst, wir wollen sehen, ob sich etwas tun läßt.« Die Kleine nannte ihren Namen und schlich betrübt davon, sie mochte wohl denken: »Das Kommen wird man gewiß vergessen.«

Sophie wurde vorsichtig aus dem Wagen gehoben und mußte in der Wirtsstube den Fuß auflegen, aber es geht von Tag zu Tag besser, sie hofft bald wieder Mutters rechte Hand zu sein.

Die Jungen hatten einen schönen kleinen See zum Schlittschuhlaufen entdeckt und konnten es kaum abwarten, bis der Kaffee getrunken war. Sie hatten vorsichtshalber ihre Schlittschuhe mitgenommen, auch Kurt und sein Onkel zogen sie hervor. Der Kaffee mundete herrlich nach der kalten Fahrt. Er belebte uns alle. Sogar Gundchen sah ganz rosig aus und wurde munter und gesprächig. Als Onkel Ulrich mit den Jungen abgezogen war, meinte Mutter, sie wolle sich nach der armen Familie umsehen. »Ach, bleib doch hier, Maria, du hast dich ja kaum erwärmt«, bat Tante Lisa.

Aber Mutter sagte: »Ich dachte gerade, du und die Mädchen, ihr solltet mich begleiten. Vater bleibt bei Sophie. Wir haben alle«, fuhr sie fort, »so schöne Weihnachtstage gehabt, so viele Freude empfangen, da möchte man auch gerne Freude spenden, wo es not tut. In der Stadt bin ich noch so wenig bekannt, das kleine blasse Mädchen hat mein Mitleid erregt.«

»Ganz die alte«, sagte Tante Lisa und fügte hinzu: »Geld will ich gerne geben, Maria, auch Sachen, wenn du willst. Aber in eine ärmliche Hütte hineingehen, ist nicht meine Sache!«

Als Mutter ihr freundlich die Hand hinstreckte und sagte: »Versuch's nur einmal, Lisa, komm!« erhob sie sich aber doch und ging mit.

Vater rief noch, ja nicht zu lange zu bleiben, da wir der einbrechenden Dunkelheit wegen sehr bald wieder aufbrechen müßten. Die Mütter gingen voran, wir beide, Gundel und ich, folgten, auch die kleinen Schwestern trippelten hinter uns her. Es gab stattliche Häuser und Gehöfte im Dorf, an dessen Ende die Wohnung der armen Familie lag. Die Hütte sah baufällig und alt aus, doch bemerkten wir helle Fenster und Blumen dahinter. Auf unser Klopfen rief eine schwache Stimme »Herein«, und als wir die Tür öffneten, bot sich uns ein rührendes Familienbild. Eine blasse Frau saß am Tisch und hatte ein ganz kleines Kind auf dem Schoß, das voller Ausschlag war, vier Jungen spielten zum Teil in der Stube, zum Teil saßen sie auch am Tisch, das kleine Mädchen, welches gebettelt hatte, stand am Fenster und strickte. Die Frau wollte sich erheben, aber Mutter sagte, sie solle sitzenbleiben, wir würden uns zu ihr setzen. Eine lange hölzerne Bank stand hinter dem Tisch, darauf nahmen wir Platz.

»Ihr kleines Mädchen sprach uns erst um eine Gabe an, Sie sind wohl in großer Not, liebe Frau?« Da begann die blasse Frau zu weinen und sagte, sie habe nie nötig gehabt zu betteln, in diesem Winter sei es das erstemal, daß die Not sie dazu gezwungen habe. Der Mann sei lange krank gewesen und habe keinen Verdienst gehabt, da sei das kleine Kind geboren, und ihr alter Vater, sie zeigte in eine dunkle Ecke, wo wir erst jetzt ein Bett bemerkten, liege schon seit Wochen. Er sei altersschwach und habe nichts Warmes anzuziehen, darum müsse er im Bett bleiben.

Bei der einfachen und rührenden Schilderung des Elends traten uns die Tränen in die Augen, besonders als die Frau sagte, die Kinder hätten oft hungrig zu Bett gehen müssen.

»Gibt es hier im Dorf keine Leute, die sich ihrer annehmen könnten?« sagte die Mutter.

»Hie und da wohl, aber im ganzen kümmert sich keiner um den andern«, war die Antwort.

»Da haben Sie wohl kein frohes Weihnachtsfest gehabt?«

»Wir sind am Heiligen Abend hungrig zu Bett gegangen. Nicht einmal ein Stückchen trockenes Brot konnte uns die Mutter geben«, sagte ein kleiner blasser Knabe, der aufmerksam zugehört hatte, was die Mutter erzählte.

»Mein Mann hatte die letzte Woche«, fuhr die Frau fort, »als er wieder außer Bett war, Arbeit gesucht und auch gefunden. Sein Lohn wurde ihm nicht ausbezahlt, wie er gehofft hatte, er wartet noch darauf.«

»Da haben die Kinder also gar keine Freude zu Weihnachten gehabt?« fragte Mutter traurig.

Die Frau schüttelte den Kopf und der kleine Knabe sagte wieder: »Nicht ein bißchen.«

Es ging mir tief zu Herzen, ich sah, daß Gundchen sich verstohlen die Tränen trocknete, Tante Lisa machte auch ein trauriges Gesicht und fragte: »Wird denn hier den armen Leuten nicht beschert?«

»Das ist im Dorfe nicht Sitte. Eine Herrschaft gibt es hier nicht, und die wohlhabenden Leute wissen es gar nicht, daß wir in solche Not geraten sind. Es war früher anders, als mein Mann gesund war und arbeiten konnte. Ich war auch kräftiger und konnte etwas verdienen, aber seit ich das kleine Mädchen habe, kann ich nicht fort.«

Mutter gab der Kleinen, die immer noch eifrig am Fenster strickte, aber doch die Augen auf uns gerichtet hatte, einen Wink und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie lief mit einem Geldstück aus der Tür und kam bald mit einem großen Brot unter dem Arm zurück. Wie die kleinen Spatzen schwirrten die Kinder um die Schwester herum und riefen: »Mir ein Stück, mir ein ganz großes Stück, ich habe Hunger.«

Mutter fragte, ob denn die Jungen schon bis in die Stadt gehen könnten.

»Der Kleinste noch nicht, die andern sind mit der Schwester schon einige Male dagewesen«, war die Antwort.

»Nun, liebe Frau«, sagte Mutter, »dann schicken Sie mir alle Kinder, die den Weg machen können, morgen in die Stadt, sie sollen noch nachträglich eine kleine Weihnachtsbescherung haben.«

Ich wußte, daß Mutter dies sagen würde, ich kannte sie zu gut. Gundchen freute sich auch, denn sie drückte mir die Hand, so fest sie konnte, das tut sie immer, wenn ihr etwas Schönes begegnet.

Dann drückten beide, Mutter und Tante Lisa, der Frau etwas in die Hand, so daß diese ganz gerührt ausrief: »Nein, das ist zuviel.«

»Sie bedürfen der Stärkung«, sagte Mutter, »tun Sie etwas für sich und den alten Vater.« Ein leises Stöhnen verriet sein Dasein. Unter herzlichen Dankesworten schieden wir, nachdem Mutter unsere genaue Adresse angegeben hatte.

Wo waren Thildchen und Olga? Dort standen sie am Bett des alten Mannes und streichelten ihm die dürren Hände. Voller Mitleid und mit Tränen in den Augen folgten sie uns. Als wir das Dorf heraufkamen, hielten die Schlitten bereits vor der Tür. Die andern waren auch schon da und erzählten dem Vater von dem schönen Eisvergnügen. Kurt sagte, er freue sich, diesen schönen See außerhalb der Stadt entdeckt zu haben, er liebe es viel mehr, mit einigen Freunden allein Schlittschuh zu laufen, als im Schloßgarten mit der halben Stadt.

Wir waren noch ganz erfüllt von unserm Besuch und erzählten unterwegs Vater und Sophie davon.

»Das ist etwas fürs Frauchen«, sagte Vater zu Tante Lisa, »nun wird bis in die Nacht hinein gewirtschaftet, alle Schränke und Schubladen werden durchstöbert, die Hälfte meiner Sachen wird mir weggenommen.«

»Aber, Vater, du übertreibst«, sagte Mutter vorwurfsvoll, »was du gebrauchst, habe ich dir noch nie entzogen. Aber deinen alten Schlafrock hätte ich gern für den alten Mann.«

»Sehen Sie, Frau Wernigge, habe ich nicht recht?«

»Mein Mann hat einen wunderschönen, neuen Schlafrock zu Weihnachten bekommen, da ist es sogar notwendig, ihm den alten wegzunehmen, er trägt ihn sonst, bis die Fetzen herunterhängen.«

So scherzten die Eltern, während Gundelchen mir zuflüsterte: »Ich suche auch alles heraus, was ich entbehren kann, und darf doch dabei sein, wenn ihr den armen Kindern beschert?«

»Freilich«, sagte Mutter, die es gehört hatte, »wenn dein Mütterchen es erlaubt.«

»Natürlich, Maria, ich werde mich gern beteiligen«, rief Tante Lisa. »Ich hätte nicht gedacht, daß die Armut so rühren könnte; ich glaubte immer, die Behausungen der Armen hätten etwas Abschreckendes. Aber man sah es der Stube und den Kindern an, daß man es mit einer ordentlichen Familie zu tun hatte.«

»Darum ist es immer gut, wenn man sich selbst überzeugt; oft findet man es ganz anders, und wenn zu dem Elend noch Lüge, Trunksucht und dergleichen kommt, dann ist mit dem besten Willen nicht zu helfen.«

Die kleinen Schwestern hatten im andern Schlitten, erfüllt von Mitleid, so viel von ihren Erlebnissen erzählt, daß auch die männliche Jugend ganz erweicht war. Matthias und Christian brachten unaufgefordert am Abend aus ihren Sparbüchsen ihr letztes Geld, und von uns forderte Mutter, wir sollten etwas von dem, was uns gehörte, opfern. Wir waren alle so geschäftig und trugen wie die Bienen zusammen, so daß ein ganzer Tisch voll lag von Kleidungsstücken, Büchern, Spielsachen, Strümpfen und Schuhen, es war natürlich manches neue auch dazu gekauft worden. Punkt drei Uhr stellte sich die kleine Gesellschaft ein. Kurt, Gundchen und ihr Onkel waren schon vorher mit vielen schönen und nützlichen Sachen erschienen. Die kleinen Buben waren alle sauber gewaschen und gekämmt, das kleine Mädchen auch. Sie hatten sehr geflickte Sachen an, aber es war alles reinlich und ordentlich. Zuerst bekamen sie Kaffee und Stollen: es war ein Vergnügen, sie essen zu sehen. Als es dann in die Weihnachtsstube ging, wollten die Freude und der Jubel kein Ende nehmen. Im Anfang waren sie ganz stumm, aber Mutter und Onkel Ulrich verstanden es, Leben in die Gesellschaft zu bringen. Der Onkel blies ihnen auf der Trompete etwas vor, das machten sie bald nach. Dann trommelte er, auch das wurde nachgeahmt, und dabei leuchteten die kleinen Augen und die blassen Wangen röteten sich.

»Aber es wird finster, Kinder, ihr müßt nach Hause«, sagte Mutter besorgt.

»Und wie hat sich Frauchen das Nachhausegehen gedacht?« fragte Vater lachend. »Sieh dir die Würmer an und dann den Tisch mit den vielen Sachen. Wie in aller Welt soll das fortgeschafft werden?«

Mutter machte ein ganz sorgenvolles Gesicht. »Das ist auch wahr«, sagte sie betreten, »die Kinder sind zum Teil so klein, man könnte ihnen die Sachen wegnehmen.«

»Der Vater ist klüger gewesen, als alle zusammen!« rief Vater vergnügt. »Ich habe einen Schlitten bestellt, da hinein wird alles gepackt und die ganze kleine Gesellschaft fährt im Schlitten nach Hause. Wird euch das gefallen, wie?«

Natürlich gefiel das. Matthias und Christian erboten sich, mitzufahren, damit alles sicher an Ort und Stelle käme, aber das kleine Mädchen sagte sehr zuverlässig, sie würde alles besorgen. Die Kinder dankten vielmals für das empfangene Gute, und der Schlitten fuhr ab.

Wir hatten alle das Gefühl, eine Familie sehr glücklich gemacht zu haben, und das war das Schönste von der Schlittenfahrt. Morgen will Tante Lisas Bruder wieder abreisen, gerade am Silvester. Bei Wernigges ist große Gesellschaft, wir sollten auch kommen, aber die Eltern haben abgesagt, weil sie am Jahresschluß lieber mit ihren Kindern allein sind.

Das alte Jahr vergangen ist,
wir danken Dir, Herr Jesu Christ,
daß Du uns in so großer Gefahr
bewahret hast lang Zeit und Jahr.

 


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