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Annehmlichkeiten des Stadtlebens

am 30. November

Das Stadtleben bringt viel Unruhe und Aufregung mit sich. Was habe ich schon alles erlebt, seit ich hier bin. Mitunter geht es mir wie ein Mühlrad im Kopfe herum, aber ich will alles zu ordnen suchen, damit es im Tagebuch der Reihe nach erzählt wird. Es wird mir dann, wenn ich alt bin, große Freude machen, meine Jugenderinnerungen zu lesen. Die kleinen Schwestern leben hier ordentlich auf; jede hat schon wenigstens ein halbes Dutzend Freundinnen, die sie nacheinander mit hergebracht haben. Mutter sagt, sie sollen alle zwölf einmal eingeladen werden, das wird ein Hauptspaß sein.

Jetzt sind wir schon fleißig bei den Weihnachtsarbeiten. Einen Abend in der Woche haben wir festgesetzt, an dem wir für die Armen unseres Dorfes arbeiten. Wir müssen in diesem Jahr alles hinschicken, Fräulein Friedchen muß im Wirtschaftshaus die Bescherung halten, da das Herrenhaus verschlossen ist. Wiewohl ich sehr gern hier bin, tut es mir doch leid, daß wir Weihnachten nicht in Grüneichen sind, die Armen-Bescherung war immer eine so hübsche Feier am letzten Adventssonntag, wozu auch Herr und Frau Pfarrer kamen. Herr Pastor hielt eine hübsche Ansprache, dann sangen die Kinder, darauf wurden sie an ihre Plätze geführt und nahmen ihre Gaben mit großem Jubel in Empfang.

Kürzlich, als wir gerade beim Zuschneiden und Nähen waren, klopfte es und Gundchen trat ein. »Was wird hier gemacht?« fragte sie erstaunt. Mutter erklärte ihr, was es werden sollte und fragte, ob sie nicht dableiben möchte und etwas helfen.

»Ich nähe nur so schlecht, dableiben möchte ich schon, drüben bei uns ist Gesellschaft, da langweile ich mich.«

»Wir schicken hinüber und lassen sagen, du seiest hier«, sagte Mutter.

»Ach nein, Tante«, erwiderte Gundchen, »mir fällt eben ein, daß Kurt sagte, er habe heute wenig zu arbeiten, er wolle dann in mein Zimmer kommen. Ich möchte ihn nicht warten lassen.«

»Ich hätte einen Vorschlag«, sagte Mutter, die immer das Rechte trifft. »Wie wär's, wenn auch Kurt den Abend bei uns verlebte; die Herren könnten uns abwechselnd vorlesen, da arbeitet es sich noch mal so schön.«

»Hoho«, rief Vater, »du verstehst es, uns anzustellen. Nun, meinetwegen, holt den jungen Herrn herüber.«

Es dauerte nicht lange, da kam Gundchens Bruder. Es war ein vergnügtes Beisammensein. Gundchens Augen strahlten; ich merkte ihr an, wie glücklich sie war, ihren Bruder hier zu sehen. Vater brachte passende Bücher, die beiden Herren lasen um die Wette. Nun ist ausgemacht worden, Kurt soll jedesmal, wenn es seine Arbeiten erlauben, an solchen Abenden mit herüberkommen; er scheint gern bei uns zu sein, und Vater sagt, er sei ein junger Mann, der ihm sehr gut gefalle.

Die Tage vergehen hier in der Stadt sehr schnell unter mancherlei Abwechslung. Ich habe einige Privatstunden mit andern jungen Mädchen zusammen. Es wird Literatur, Geschichte und Kirchengeschichte gelehrt, in einem zweiten Lehrgang Englisch und Französisch. Nun muß ich auch, wie die kleinen Schwestern, abends mit den Büchern an den Tisch rücken und lernen. Mutter sagt, es sei mir ganz gut, ich soll in diesem Winter recht einsammeln, ich könne alles nachher in der Landeinsamkeit gut gebrauchen. Musikstunden gibt es auch bei einem Lehrer, der sehr streng ist. Ich muß tüchtig üben, die Stunden kosten viel Geld, aber sie machen mir Freude. Die Eltern besuchen auch Konzerte mit mir, es ist alles neu für mich, der große Konzertsaal mit den vielen Menschen, die herrliche Musik! Ich habe es sehr genossen, zumal die Eltern bei mir waren; allein unter allen fremden Menschen hätte ich nicht sein mögen.

Einmal ist auch der Vater mit mir im Theater gewesen. Es wurde »Wilhelm Teil« gegeben, wir hatten das Stück gerade in der Literaturstunde durchgenommen. Die jungen Mädchen sprachen alle davon, daß sie in die Vorstellung gehen wollten, da bat ich die Eltern, es mir zu erlauben, und Vater ging mit mir. Das hat mir sehr gefallen, kurz, der Stadtaufenthalt ist reizend, so schön hatte ich ihn mir gar nicht vorgestellt. Freilich ist manches auf dem Lande schöner, wie oft denke ich an Grüneichen, an seine mit Schnee bedeckten Bäume, an den schönen See, auf dem wir im Winter Schlittschuh liefen, an unser gemütliches, stilles Wohnzimmer; aber nächsten Winter werden wir ja wieder dort sein, diese Ausnahme kann man sich schon einmal gefallen lassen. Ich lerne manches hier, mir fehlt noch sehr viel. Die jungen Mädchen, mit denen ich zusammenkomme, lachen mich mitunter aus, wenn ich etwas verkehrt mache.

»Wenn doch unsere Sophie auch hier wäre«, sagte Mutter heute und hat es schon oft gesagt. »Wie würde ihr das Leben in der Stadt gefallen, wieviel Freude würde sie an den Konzerten finden, da sie so musikalisch ist. Warum mußte sie uns auch verlassen!« fügte sie hinzu.

Mutter ist heute besonders traurig und wir mit ihr, da wir nicht wissen, wo Sophie ist. Mutter hatte ihr ein schönes Winterkleid gekauft und es mit einem liebevollen Brief an die angegebene Adresse geschickt. Das Paket kam vor einigen Tagen zurück mit den kurzen Worten: »Empfänger befindet sich nicht mehr hier.«

Da schrieb Mutter an die Frau Rechtsanwalt, in deren Hause Sophie die Stelle angenommen hatte, sie möchte die Güte haben, ihr Sophiens jetzige Adresse anzugeben. Darauf kam ein Brief, worin sie kurz schrieb, sie habe mit Fräulein Sophie nicht arbeiten können, die eine andere Stelle angenommen habe, wo, das könne sie nicht sagen; sie wundere sich, daß sie ihre Eltern nicht davon benachrichtigt habe.

Das sagt wenig genug.

»So kommt ein Unrecht zum andern«, äußerte meine Mutter. »Erst verläßt Sophie uns, die wir ihr nur Liebe erzeigt haben, und nun, da sie so schnell die Stelle wechseln muß, schämt sie sich, es zuzugestehen; ihr Stolz ist an allem schuld.«

Mutter hat den ganzen Tag wenig gesprochen; sie ist sehr betrübt. Es wird auch unsere Weihnachtsfreude stören, wenn eins von uns Kindern fehlt. Aber vielleicht hilft der liebe Gott, daß sie Weihnachten wieder in unserer Mitte ist, wir wollen ihn recht darum bitten.

am 1. Dezember

Mit dem Dezember ist der Winter eingekehrt. Heute morgen waren alle Dächer weiß, gefroren hat es auch. Alles sieht viel freundlicher aus, der Schnee erweckt schon weihnachtliche Gefühle in mir. Gundchen und ich machten uns Zeichen am Fenster; sie zeigte auf unser Haus und schlug sich dann vor die Brust, das heißt: »Heute abend komme ich zu euch und freue mich darauf.«

Es war heute ein besonders reizender Nähabend. Doch davon nachher. Ich habe noch gar nicht erwähnt, daß Gundchens Mutter und die meine Jugendfreundinnen sind. Frau Wernigge ist Mutters Lisa, die mir immer so wichtig war. Nun kann ich mir wohl denken, daß Mutter sie liebgehabt hat, Frau Wernigge ist eine so reizende Frau. Schade, daß sie den Herrn Wernigge geheiratet hat. Sie muß ihn doch wohl sehr gern gehabt haben. Ich fürchte mich vor ihm, er sieht so finster aus, ich möchte ihn nicht zum Vater haben. Ich glaube fast, Gundchen fürchtet sich auch etwas vor ihm. Wenn er kommt, zieht sie mich gleich aus dem Zimmer, was mir sehr angenehm ist. Als ich das letztemal drüben war, ging es Gundchens Mutter nicht sehr gut: sie war auch nicht so heiter wie sonst, sondern sah verstimmt aus und schalt viel. Aber ich habe sie trotzdem lieb, natürlich lange nicht so wie meine eigene Mutter.

Frau Wernigge ist schon einige Male bei uns gewesen und Mutter drüben. Aber Mutter hat sie gewöhnlich nicht zu Hause getroffen. Heute abend nun erwarteten wir Gundchen und Kurt. Es sah schon recht weihnachtlich aus auf unserem großen Tisch. Mutter hatte Puppen besorgt für die Dorfjugend, die sollten von uns angezogen werden. Gundchen jubelte, als sie dies hörte, auch Thildchen und Olga zappelten vor Vergnügen, und wir vier beratschlagten über die verschiedenen Anzüge. Jede bekam ein Puppenkind zugewiesen, für das sie zu sorgen hatte. Schöne wollene und seidene Flickchen lagen bereit, um daraus Kleider und Schürzen zu fertigen. Wir machten uns an die Arbeit und waren sehr vergnügt dabei. Mutter schnitt zu, Vater und Kurt lasen abwechselnd vor.

Da hörten wir klingeln. Friederike kam nicht, um anzumelden, es wurde ganz leise geklopft. Mutter stand auf und ging nach der Tür. Vater hörte mit Lesen auf, wir guckten alle neugierig, was sich da entwickeln würde.

»Lisa, du?« rief meine Mutter erfreut. »Das ist ja reizend.«

»Störe ich nicht?« fragte Frau Wernigge mit ihrer wohlklingenden Stimme. »Mein Mann ist heute abend allein ausgegangen, meine Kinder haben mich treulos verlassen –«

»– du wolltest mit dem Vater gehen, Mutter«, unterbrach Gundchen.

»Ja, ich hatte erst die Absicht –«, es war, als wollte Frau Wernigge noch mehr sagen, aber sie schwieg.

»Frau Wernigge«, sagte Vater, als er Mutters Freundin begrüßt hatte, »Sie kommen hier in eine Schneiderstube. Man kann wohl kaum bitten, daß Sie sich hier niederlassen.«

»O ich denke, wo deine Kinder sind, Lisa, da bist du auch am liebsten«, rief Mutter. »Setze dich zu mir aufs Sofa, wir verkehren nun gemütlich, nicht steif miteinander.«

»Natürlich«, war Frau Wernigges Antwort. »Kann ich denn nicht auch etwas zu nähen bekommen? Wie reizend, diese Puppenschar! Maria, das erinnert mich an unsere Jugendzeit, haben wir nicht auch mitunter für die kleinen Schwestern Puppen angezogen? Gib mir auch eine, ich denke, ich verstehe es noch.«

Als Frau Wernigge hörte, daß für die Dorfjugend in Grüneichen an diesem Abend zur Bescherung gearbeitet würde, rief sie: »Ich habe noch allerlei Sachen liegen, die ich dazu geben könnte. Schürzen und Kleider, aus denen Gundchen herausgewachsen ist, und sonst verschiedenes. Ich werde es morgen herüberschicken, du kannst vielleicht für deine Armen etwas davon gebrauchen.«

»Du gibst wohl immer noch so gern, Lisa?« fragte Mutter. »Erinnerst du dich an den Winterabend, ich glaube, es war der Tag, an welchem wir die erste Konfirmandenstunde hatten, als die arme Frau kam und du alles wegschenktest, was dir in die Hände kam –«

»Und Mama nachher so böse war! Ich hatte Schuhe verschenkt, die meine kleinen Schwestern noch tragen sollten. Ja, ich weiß es sehr wohl!«

Und nun ergingen sich unsere beiden Mütter in Jugenderinnerungen: »Weißt du noch«, und »denkst du noch daran?«

Wir Kinder hörten mit großem Vergnügen zu, denn was hören Kinder wohl lieber, als wenn die Eltern von ihrer Jugend erzählen.

»Wie gemütlich ist es hier bei euch, Maria«, rief plötzlich Frau Wernigge, »einen so vergnügten Abend verlebte ich lange nicht.«

»Eigentlich hätten meine Frau und ich mit Ihnen nebenan gehen müssen, Frau Wernigge«, scherzte mein Vater.

»Nein, Lisa«, rief Mutter, »du bist einmal in den Weihnachtspuppenabend hineingeschneit, nun mußt du mitmachen.«

»Du siehst ja, wie fleißig ich bereits bin«, war die Antwort. So wurde hin- und hergescherzt und Gundchen und Kurt sahen so glücklich aus wie noch nie.

Da flüsterte Gundel mir ins Ohr: »Es sollten doch Weihnachtslieder gesungen werden.«

Ich flüsterte es Mutter zu und die sagte: »Ja, da müssen wir Frau Wernigge fragen.«

»Was! Frau Wernigge! Es heißt ›Tante Lisa‹. Du hast Gundchen erlaubt Tante zu sagen, also bitte ich mir von Annchen dasselbe aus.«

Ich war sehr glücklich hierüber. Mutter fragte nun Tante Lisa, ob sie etwas dagegen hätte, wenn wir Weihnachtslieder sängen. Sie sagte, sie möchte es gern, worauf Mutter ans Klavier ging und uns begleitete, während wir verschiedene schöne Lieder anstimmten. Ich sah, daß Tante Lisa Tränen in den Augen hatte, aber sie trocknete sie heimlich ab. Warum wohl die schönen Lieder sie traurig stimmten?

Später sah ich Tante Lisa neben Vater stehen. Sie fragte ihn, ob er abends immer in der Familie sei. Vater meinte: immer nicht, aber für gewöhnlich, er fühle sich am glücklichsten unter den Seinen. Da hörte ich Tante Lisa seufzen. Ich glaube, sie möchte, daß Herr Wernigge auch öfter zu Hause wäre, aber dann müßte er meiner Meinung nach etwas freundlicher sein, sonst denke ich es mir für die Familie drückend.

 


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