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Reisepläne

Grüneichen, am 12. September

Was haben wir alles erlebt, seit ich zuletzt in mein Tagebuch schrieb. Der gestrige Tag war besonders aufregend, denn – Sophie ist fort. Erst glaubten wir Kinder, sie sei heimlich entwichen, denn sie war schon früh um vier Uhr mit dem Milchwagen fortgefahren, und Friederike sagte, sie habe den Koffer mitgenommen. Mutter sieht sehr traurig aus, aber sie ist ganz ruhig. Sie sagte mir, Sophiens Abreise käme ihr nicht unerwartet, sie wollte einmal versuchen, wie es anderswo sei. Als ich sie fragte, ob Sophie wieder zu uns käme, meinte sie, das hoffe sie, hier wäre doch einmal ihr Elternhaus. Ich kann Sophie nicht begreifen, wie kann es nur jemand geben, der nicht in Grüneichen leben mag, besonders in unserem Hause, wo bis jetzt Liebe und Eintracht geherrscht haben, in dem Gottesfurcht und Frömmigkeit wohnen. Wie schön ist es, wenn mein Vater jeden Morgen alle Leute des Hauses in der großen Eckstube, in der das Harmonium steht, um sich versammelt und Andacht hält. Mir ist immer, als ob das gemeinsame Singen und Vaters herzliches Gebet für alle Glieder seines Hauses ein Band um uns alle schlingt. Als Sophie gestern in der Andacht fehlte und Vater betete, daß Gott sie behüten wolle auf der Reise und sie einst glücklich wieder zu uns führen, da wurde es Mutter und mir so wehmütig, daß wir beide leise weinten. Auch Fräulein Schwabe war gerührt: sie kam später zu Mutter und schien sie um Verzeihung zu bitten, denn ich hörte Mutter sagen: »Ich würde mich gefreut haben, Fräulein Schwabe, wenn Sie sich mit Sophie ausgesöhnt hätten, es ist nicht schön, wenn zwei in Feindschaft voneinander scheiden, denn es heißt: ›Vergebet, so wird euch vergeben‹.«

Fräulein Schwabe meinte, sie wolle ihr schreiben, worauf die Mutter ihr sagte, daß wir bis jetzt noch keine Adresse hätten. Als aber das Fräulein mit dem Anerbieten kam, zu bleiben, wenn die Eltern noch keine neue Erzieherin angestellt hätten, lehnte meine Mutter es entschieden ab, indem sie sagte, sie würde es anders einrichten. Ich bekam einen gewaltigen Schrecken. Gewiß soll ich Mathildchen und Olga unterrichten, dachte ich, und dies beunruhigte mich sehr, denn einmal fürchtete ich, nicht genug zu wissen, und dann auch, daß die kleinen Schwestern keine Achtung vor mir haben würden. Dieser Gedanke gab jedoch bald einem andern Raum. Ich muß ja Mutter in der Wirtschaft helfen, da Sophie fort ist, fuhr es mir durch den Sinn. Es gibt im Herbst sehr viel zu tun mit dem Erntesegen des Obstes. Dann kommt die Zeit des Schlachtens, das denke ich mir alles vergnüglicher, als den kleinen Schwestern Weisheit einzutrichtern. Aber ich werde ja tun, was meine Mutter für gut befindet, ich möchte ihr nicht auch Anlaß zur Unzufriedenheit geben, jetzt, wo sie durch Sophie betrübt worden ist.

Vater war dieser Tage recht verstimmt; ich merkte ihm gestern gleich an, daß er Kopfschmerzen hatte. Nach der Andacht mußte er sich legen; Aufregungen schaden ihm immer. Ich ging in den Garten, alles sah mich traurig und wehmütig an. Ich begab mich in den Kuhstall, da lag meine Lieblingskuh, »das Braunchen«, krank, und der alte Melker stand betrübt neben ihr. Das war auch nicht angetan, mich fröhlich zu stimmen. Da sah ich Mutter aus dem Hause kommen. Sie hatte ihren großen, runden Hut auf und sah aus, als ob sie ins Dorf wollte.

»Willst du mitgehen, Annchen«, rief sie mir zu. Natürlich wollte ich das, es war von jeher mein großes Vergnügen, mit Mutter ins Dorf zu gehen. Sie trägt oft den Alten und Kranken Erquickungen hin und kann so gut mit ihnen reden. Heute ging es zu Mutter Krusen. »Du kannst mit hineinkommen, Annchen«, sagte Mutter, »du weißt ja, um was es sich handelt.«

Ach ja, ich wußte es. Mutter Krusen war es, die Sophie allerhand in den Kopf gesetzt hatte; Mutter hatte es ja auch erfahren und wollte deshalb mit ihr sprechen. Die Alte sah meine Mutter etwas scheu von der Seite an; sie hatte gewiß schon von allem gehört, denn die Leute vom Hof stehen immer in Verbindung mit dem Dorf. Mutter setzte sich freundlich zu ihr und ging gleich auf die Sache los. Sie liebt keine Winkelzüge, alles muß wahr und klar sein. Sie sagte Mutter Krusen unverblümt, daß sie nicht recht getan habe, der armen Sophie in den Kopf zu setzen, daß sie ein Grafenkind sei. Dadurch sei sie stolz geworden, es habe ihr nun gar nicht mehr bei bürgerlichen Leuten, wie sie es seien, gefallen.

»Ja«, – stotterte Mutter Krusen, »Frau Mersburg, Sie haben es doch selbst gesagt, als Sie mit dem Würmlein gekommen sind. Die Frau Tante lebte damals noch, zu ihr haben Sie von dem Vater des kleinen Mägdleins gesprochen und gesagt: ›Der Graf lebt noch‹.« Aber wo er sei, habe sie nicht verstanden, das habe Frau Mersburg ganz leise gesagt.

»Ja, allerdings«, sagte Mutter, der nun ein Licht aufging, »›Herr Graf und Frau Graf‹ kann ich gesagt haben. Der Familienname der armen Leute war ›Graf‹, sie aber waren Tagelöhner, die sich ihr Brot sauer verdienen mußten. Warum habt Ihr mich nicht gefragt, Mutter Krusen? Ich hätte Euch gern aufgeklärt, man muß nichts weitererzählen, was man nicht ganz genau weiß, man kann oft Schaden damit anrichten.«

»Ja, da haben Sie ganz recht, Frau Mersburg, wenn man nur immer den alten Mund halten könnte. Wenn man nur überhaupt das viele Reden lassen könnte. Es kommt gar nichts dabei heraus. Ich will mir's aber auch merken, es soll mir wirklich eine Lehre sein. Ich tu, als ob ich nichts höre, wenn die vom Hof hereinkommen und erzählen. Der Herr hat wohl heute Kopfschmerzen?«

»Wissen Sie das auch schon?« fragte Mutter lächelnd, sie wunderte sich gewiß, daß die Post schon bei Mutter Krusen angelangt sei.

Mutter sagte dann noch allerlei, daß man immer, auch in bezug aufs Reden, sich nach dem Worte Gottes richten müsse. Gerade mit der Zunge würde so viel gesündigt, man könne den Schaden oft gar nicht berechnen, den ein unrechtes Wort anrichte. Mutter Krusen hörte ganz andächtig zu mit gefalteten Händen. Als Mutter fertig war, sagte sie: »Gerade wie unser Herr Pastor; Sie hätten können auch Pfarrer werden, Frau Mersburg.«

Mutter gab ihr dann noch Wolle zum Stricken.

Matthias und Christian zerreißen sehr viele Strümpfe. Mutter hat so oft gesagt, sie sollen sie ausziehen, wenn sie kleine Löcher entdecken, aber sie behaupten, sie fänden die kleinen Löcher nie, erst wenn sie ganz groß wären, merkten sie es.

Arm in Arm gingen wir dann wieder nach dem Gut hinauf durch die schöne Kastanienallee, die gerade auf das Herrenhaus zuführt. Ich mag so gern mit meiner Mutter allein gehen, alles was sie sagt, möchte ich mir ins Herz schreiben.

»Wenn wir nur unsere Sophie erst wieder hier hätten«, sagte Mutter und ein tiefer Seufzer entrang sich ihr. Ich drückte sie fest an mich; ich konnte ihren Schmerz so gut verstehen. »Nun, Annchen, mußt du mich im Haushalt unterstützen, willst du denn auch so tüchtig werden wie Sophie?«

Ich versprach es und machte, als wir zu Hause waren, gleich den Anfang, indem ich mir eine große Küchenschürze holte und der Köchin half, Obst zu schälen. Alles Fallobst wird geschält und abgebacken, da gibt es viel Arbeit. Am Nachmittag machte ich mit Mathildchen und Olga einen Spaziergang ins Holz. Dort haben wir einen reizenden Ruhesitz. Wir haben früher mit den Brüdern mitten im Wald einen kleinen freien Platz entdeckt, von schönen Bäumen begrenzt, den haben wir mit Stacheldraht umzogen, haben uns von Vater eine Bank und einen runden Tisch schenken lassen und den Platz »Sophienruh« genannt, weil wir ihn gerade an Sophiens Geburtstag eingeweiht haben. Wie vergnügt waren wir da alle miteinander, und nun saßen wir drei recht still und traurig da, weil zu Hause alles nicht war wie sonst. Endlich schlug ich den Schwestern vor, wir wollten einige hübsche Lieder singen. Das klingt so schön im Wald, und man wird fröhlich dabei. Thildchen und Olga haben sehr hübsche helle Stimmen, wir sangen ein Lied nach dem andern und merkten gar nicht, daß wir einen Zuhörer hatten.

»Das ist brav, ihr lieben Kinder«, sagte eine Stimme hinter uns. Es war der alte Herr Pfarrer aus Holzenau. Wir sprangen schnell von unsern Sitzen auf und begrüßten ihn. Er meinte, wir wären so lange nicht im Pfarrhaus gewesen, und lud uns auf den folgenden Nachmittag ein, wenn die Eltern es erlaubten.

Als wir Mutter fragten, gab sie gern ihre Erlaubnis, und heute bei Tisch sagte Vater, Mutter und er würden auch mitfahren. Wir jubelten alle drei; mit den Eltern zusammen ausfahren, macht doppeltes Vergnügen. Das Pfarrdorf liegt eine halbe Stunde von Grüneichen entfernt. Der Weg dahin führt am See vorbei, in dessen Nähe eine kleine Villa liegt.

Es war ein schöner Septembertag. Der blaue Himmel spiegelte sich im See; der Wald lag schweigend am jenseitigen Ufer, kein Lüftchen regte sich. »Mutter«, rief ich, »es ist doch nirgends schöner als in der Heimat, wir können so weit ins Land hineinschauen, keine Berge versperren uns die Aussicht.«

»Aber droben auf den Bergen ist's auch schön«, erwiderte Mutter, die ihre Berge immer noch liebt. »Von den Bergen hat man oft eine viel weitere Fernsicht als hier im Flachland. Doch die Heimat ist überall schön, wo Gott der Herr uns hinführt, da muß es uns gefallen.«

Bald waren wir in Holzenau, dessen spitzen Kirchturm man weithin sieht, auch von unserem Garten aus. Als wir vor dem Pfarrhaus hielten, kam alles heraus, was Beine hatte, nur der Herr Pfarrer war nicht sichtbar, er war noch ins Dorf gegangen.

»Daß ihr endlich kommt, ihr Bösen«, rief Emmy, meine Altersgenossin, während Franziska und Luise auf Mathilde und Olga zustürzten mit dem Ruf: »Wir glaubten, ihr lebtet nicht mehr, weil wir nichts von euch sahen.«

Vier kleine Brüder und zwei schwarze Hunde quirlten um die Beine, und mit dem Ruf: »Die Frau Patin ist da, guten Tag, Frau Patin«, streckten sich viele kleine Hände meiner Mutter entgegen, die, seit sie bei einem der Knaben Patin geworden, diesen Namen im Pfarrhause führt. Wir sind alle sehr befreundet mit Pastors; Vater ist ein Freund des Herrn Pfarrer; Mutter und Frau Pfarrer lieben sich sehr und verstehen sich so gut. Sie nennen sich du und sind in gleichem Alter. Wir drei Schwestern und die drei Pfarrtöchter passen auch gut zusammen, nur Pfarrers Otto steht allein; er ist viel älter als die Schwestern, da er der Sohn von Herrn Pfarrers erster Frau ist; er hat schon die erste theologische Prüfung bestanden. Emmy erzählte mir gleich, daß er sie mit Auszeichnung bestanden habe, und daß er jetzt hier sei. Ich war sehr gespannt auf sein Erscheinen, denn da er auf auswärtigen Universitäten studiert hat, ist er nicht oft zu Hause gewesen, so sind mehrere Jahre vergangen, ohne daß wir uns gesehen haben.

Ich dachte eben darüber nach, ob ich ihn wohl mit Sie anreden müsse, da kam er in den Garten, wo wir sechs Mädchen plauderten, und rief ganz erfreut: »Annchen, Mathilde und Olga, da seid ihr ja. Wie geht es euch?« Da war ich aus aller Verlegenheit, und da ich hörte, wie meine Schwestern frischweg Otto sagten, kehrte ich mich weder an seinen Bart noch an seine Größe und redete ihn als ehemaligen Freund mit du an. Plötzlich sagte er: »Du, Anna, was ist denn das für eine Geschichte mit Sophie, ich hörte eben, daß unsere Mütter über sie sprachen, komm, erzähle mir einmal, was du weißt.« Emmy und ich gingen mit ihm den Gartenweg entlang, und ich sagte ihm, Sophie wolle es einmal bei fremden Leuten versuchen, aber die Eltern glaubten bestimmt, daß sie wieder ganz zu uns kommen würde.

»Das hoffe ich auch«, sagte Otto. »Wir waren immer so gute Freunde; es ist zu dumm, daß ich sie nicht mehr gesehen habe, mit wem soll ich nun Klavierspielen?«

Wir vergnügten uns sehr in der Pfarre und ließen laute Rufe des Bedauerns hören, als Heinrich mit dem Wagen kam, um uns nach Hause zu bringen. Als Mutter Abschied nahm, hörte ich die Patin sagen: »Maria, wenn ihr zum Herbst in die Stadt geht, müßt ihr vorher noch oft kommen.«

Mutter sagte, das wollten wir gerne, aber nun müßte das ganze Pfarrhaus erst einmal zu uns kommen, und zwar auf einen ganzen Tag. –

Mir gingen immer die Worte im Kopf herum: »Wenn ihr zum Winter in die Stadt geht.« Als wir zu Hause waren, fragte ich Mutter, was sie zu bedeuten haben.

»Du kleine Neugierde«, lachte sie, »es hat zu bedeuten, daß Vater beabsichtigt, den Winter mit uns allen in der Hauptstadt zu verleben, aber nicht nur zum Vergnügen. Thildchen und Olga sollen eine Mädchenschule besuchen und du sollst auch noch mancherlei lernen, und dann schadet es euch Mädchen vom Lande nicht, einmal Stadtleben kennenzulernen.«

Ich quiekte laut vor Vergnügen und drückte meine Mutter so fest an mich, daß sie sagte: ich solle sie nicht erwürgen, solle mir überhaupt das Quieken abgewöhnen, das passe für die Stadt gar nicht.

Den Winter in der Stadt verleben! Ein ganz neuer Gedanke! So etwas Hübsches hätte ich mir selber gar nicht ausdenken können. So hat die Geschichte mit Sophie und der Erzieherin doch etwas Gutes zuwege gebracht. Denn wenn alles geblieben wäre, wie es war, hätte wohl kein Mensch daran gedacht, den Winter in der Stadt zu verleben!

O weh, jetzt höre ich Vaters Schritte. Ich habe heute zu lange geschrieben, es gibt Schelte.

Vater kam wirklich an meine Tür, öffnete und sagte: »Du Krabbe, willst du endlich machen, daß du ins Bett kommst. Wenn du's so treibst, nehme ich das ganze Tagebuch und stecke es ins Feuer.«

Ich war sehr erschrocken und bat ihn, das nicht zu tun. Es wäre doch schade um alles, was ich geschrieben habe und was ich noch schreiben werde. Denn ich fühle es, wenn wir den Winter in der Stadt wohnen werden, gibt es noch viel Bemerkenswertes einzutragen. Ich hoffe, es war nur eine Drohung, ich will auch nicht wieder so lange aufbleiben.

 


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