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Die Freundinnen

Lisa saß in tiefer Trauerkleidung in ihrem Zimmer. Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt und sah zum Fenster hinaus. Aber ihre Gedanken schienen mit ganz anderen Dingen beschäftigt als mit dem, was auf der Straße vorging. Die Leute eilten in raschem Tempo aneinander vorüber, Wagen fuhren vorbei, dazwischen ertönte das Läuten der Straßenbahn, Lisa beachtete es nicht. Bilder aus der Vergangenheit zogen an ihrer Seele vorüber. Ob nicht ihr Lebensgang ganz anders geworden wäre, wenn sie auf den Rat Marias gehört und die Stelle bei dem alten Ehepaar angenommen hätte, die ihr so sehr warm empfohlen war. Sie wäre dann nicht nach Italien gekommen, sie hätte nicht – doch fort mit diesen Grübeleien, es nutzte nicht, sich mit Dingen zu beschäftigen, die hätten sein können. Zurück in die Wirklichkeit.

Das Leben sah sie so trübe, so traurig an, nichts befriedigte sie. Die Einsamkeit war ihr zuwider, Gundchen mochte sie nicht um sich haben, sie wurde durch sie immer an Kurt erinnert. Und dann weinte sie leicht, das konnte sie nicht ertragen. Kurt, dieser feine, junge Mann, dieser hoffnungsvolle Sohn, warum mußte er ihr genommen werden? Wenn sie nur Gottes Wege verstehen könnte! Er sollte einmal ihr Stolz sein, an ihm wollte sie Ehre und Freude erleben, er sollte ihr Ersatz bieten für vieles, das sie entbehren mußte, und nun war er dahingegangen. Wie eigenartig war doch dies Leben! Vor zwanzig Jahren, da lag es so rosig, so glückverheißend vor ihr; sie trank den vollen Becher des Glücks, wie sie meinte. Aber von kurzer Dauer war's gewesen. Wie bald war sie all dessen überdrüssig, was die Welt Freude, Lust und Vergnügen nannte. Es mußte immer wieder etwas Neues ersonnen werden, was sie anzog und fesselte. Sie hatte schöne Reisen gemacht, hatte viele bedeutende, geistreiche Menschen kennengelernt, hatte im Winter Gesellschaften und dergleichen genügend besucht, aber sie konnte nicht sagen, daß sie dauernde Befriedigung darin gefunden hatte. Und nun Maria! Ihr ganzes Wesen trug den Stempel innerer Befriedigung. Ja freilich, sie hatte auch ein ganz anderes Los, sie war zu beneiden!

Es klopfte. »Das Mädchen trat herein und sagte: »Fräulein Fahrenholz ist da; sie möchte dringend bitten, ihr doch heute den Betrag zuzustellen.« Sie überreichte Lisa einen Brief.

Die riß ihn hastig auf, überflog ihn und sagte rasch: »Ich komme gleich, sie mag im Eßzimmer warten.« Minna blieb verlegen stehen.

»Es ist noch jemand da, Herr Dußler, der Tischler, er möchte auch gern mit Ihnen sprechen.« Lisa errötete.

»Kommen denn die Menschen alle, mich heute, da ich mich so elend fühle, zu stören.«

»Ich habe den Tischler schon einige Male weggeschickt.«

»Sage ihm, er möchte morgen früh um zehn Uhr kommen, um sich das Geld zu holen.«

Als Minna herauskam, waren der Tischler und die Schneiderin in eifrigem Gespräch miteinander.

»Wenn man das ganze Jahr im Schweiß seines Angesichtes arbeitet und muß sich dann noch die Beine ablaufen, damit man seine Rechnungen bezahlt bekommt, den verdienten Lohn für seine Arbeit, und dazu noch anfahren lassen«, sagte der Tischler, »da möchte man den ganzen Kram zusammenwerfen.«

»Ja«, fiel Fräulein Fahrenholz ein, »wenn doch die Leute immer gleich bezahlen wollten, dann stünde es besser um uns. Hier«, sie zeigte auf die Tür zu Lisas Zimmer, »kommt man auch oft vergebens.«

Als Minna den Bescheid der gnädigen Frau brachte, fragte der Tischler, ob er denn wirklich morgen nicht umsonst zu kommen brauche, worauf das Mädchen mit den Achseln zuckte. Er ging unter Murren, während Fräulein Fahrenholz siegesgewiß das Eßzimmer betrat, froh, daß sie nun wirklich den Lohn ihrer Arbeit bekommen sollte.

Erregt, die Rechnung in der Hand, trat Lisa ein. »Sie haben viel zuviel angesetzt, Fräulein. Sie denken doch nicht, daß ich Ihnen diese hohe Summe hier bezahlen soll? Das übersteigt ja alles bisher Dagewesene.«

»Gnädige Frau verlangten ausdrücklich, daß ich bei der Umarbeitung des blauseidenen Kleides echte Spitzen nehmen sollte.«

»Ja – das Kleid hängt da und kann jetzt nicht getragen werden.«

»Weil gnädige Frau Trauer bekamen. Ich sollte aber die Trauerkleider alle vom besten Stoff nehmen, haben gnädige Frau besonders sagen lassen.«

»Aber diese Rechnung! Das übersteigt ja alles!«

»Es ist auch der Betrag von einem halben Jahr. Gnädige Frau haben mich immer hingehalten, heute möchte ich bitten, mich zu bezahlen, ich brauche das Geld notwendig.«

»Ich will die Rechnung heute abend noch einmal genau durchsehen. Kommen Sie morgen nachmittag um diese Zeit wieder, dann sollen Sie Ihr Geld haben.«

»Morgen bin ich auf Arbeit –«

»Nun dann übermorgen um diese Zeit.« Kurz wandte sich die Schneiderin um und fragte, da sie nicht oft den weiten Weg machen könne, ob sie gewiß darauf rechnen könne, daß die gnädige Frau ihr den Betrag ausliefern würde, worauf Lisa vornehm nickte und sie entließ.

»Die Lampe, Minna, in mein kleines Zimmer.«

Händeringend ging Frau Wernigge in ihrem Zimmer auf und ab. »Auch das noch zu meinem Kummer und Jammer. Woher soll ich das Geld nehmen, um dies alles zu bezahlen!«

Es klopfte wieder. »Ich will niemand mehr sehen, weise alles ab.«

»Es ist Frau Mersburg.«

»Wenn sie es ist, führe sie herein.«

Maria stand schon an der Tür. »Lisa«, sagte sie mit ihrer freundlichen Stimme, »wenn du dich nicht wohl genug fühlst, jetzt mit jemandem zu sprechen, so gehe ich gern wieder. Ich nehme es dir nicht übel. Du weißt, ich habe keinen weiten Weg und kann leicht einmal wiederkommen.«

»O Maria, du weißt, daß ich mich immer freue, wenn du kommst. Es ist mir, als ob nach finstern Wolken milder Sonnenschein leuchte.« Sie fiel ihr um den Hals und schluchzte.

»Arme Lisa, bist du heute so sehr traurig?«

»Ja, traurig, kummer- und sorgenvoll, alles miteinander.«

Maria geleitete die Freundin zu dem Ecksofa und setzte sich zu ihr, Lisa legte ihren Kopf auf Marias Schulter und weinte heftiger, während Maria ihre Hand strich und ihr Trost zusprach.

Lisa wurde allmählich ruhiger. Sie trocknete ihre Tränen und sagte plötzlich: »Maria, du hast gut reden, du hast noch keinen Schmerz wie den meinen durchgemacht, du hast nie Kummer und Sorgen kennengelernt; dir und den Deinen glückt alles –«

»Lisa, wenn ich auch nicht gerade ein Kind verloren habe, so bin ich doch durch mancherlei Prüfungen gegangen. Denke nicht, daß ich nicht auch schwere Stunden und Sorgen mancherlei Art gehabt habe. Das bleibt nicht aus. Freude und Leid wechseln auf Erden. Es kommt aber alles vom Herrn, wir müssen nehmen, was aus seiner Liebeshand kommt, und fest glauben, daß alles zu unserem Besten dienen muß. Gerade die Trübsal lehrt uns, nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare zu sehen; sie führt uns zu Gott, sie lehrt uns aufs Wort merken, darum ist sie uns heilsam. Lisa, ziehe keine Vergleiche. Wir Menschen können nicht abwägen, ob der eine mehr Trübsal und Leiden hat als der andere. Das macht es alles nicht. Wenn wir nur die Gewißheit haben, daß wir durch Jesum Christum mit Gott versöhnt sind, daß wir durch ihn Vergebung unserer Sünden haben, dann sind wir glücklich, dann haben wir inneren Frieden, es mag von außen auf uns einstürmen Not, Trübsal und Sorge, es ficht uns nicht an. ›Die Sonne, die mir lachet, ist mein Herr Jesus Christ; das, was mich singen machet, ist, was im Himmel ist‹.«

Lisa schwieg. Man konnte nicht merken, was in ihrem Innern vorging. Nach einer Weile schien es, als wollte sie etwas sagen, sie sah so traurig und sorgenvoll aus, daß Maria fragte:

»Liebe Lisa, bedrückt dich heute noch etwas Besonderes? Sage es mir. Ich möchte es dir gerne abnehmen, wenn es in meiner Macht steht.«

»Wolltest du das wirklich, Maria? Ja, ich glaube es dir. Du hast mir in der letzten Zeit so viele Beweise deiner Liebe gegeben, daß ich dir beinahe meinen neuen Kummer klagen möchte. Aber – ich schäme mich, es dir zu sagen.«

»Nur zu, Lisa«, sagte Maria heiter. »Denke, wir seien wieder Schulmädchen wie ehedem, da plauderten wir alles voreinander aus. Du brauchst dich doch vor deiner Maria nicht zu scheuen!«

»Nun, wenn du es wissen willst. Es sind irdische Sorgen, die mich augenblicklich drücken –«

Maria sah Lisa ungläubig an.

»Irdische Sorgen?« wiederholte sie überrascht. »Ich glaubte – ihr seiet – reiche Leute?«

»Ja, den einen Tag reich, den andern arm. Unsere Einnahmen sind nicht geregelt. Einmal nimmt mein Mann viel ein – dann kann er wieder lange arbeiten, ehe er einen Groschen verdient. Er versteht leider nicht, mit Geld umzugehen.«

»Dann solltest du die Kasse nehmen.«

»Dabei kommt auch nichts heraus. Ich habe in der Jugend nicht sparen gelernt und gebe das Geld leicht weg. Du kennst mich ja, Maria. Kurz und gut, es sind heute Rechnungen eingelaufen, die keinen Aufschub dulden, bis morgen muß ich eine bestimmte Summe Geldes haben.«

»Kannst du nicht von deinem Manne das Nötige erhalten?«

»Er ist auf ein paar Tage verreist; wenn er zurückkehrt, weiß ich bestimmt, daß er mit leerem Geldbeutel kommt.«

»Das ist traurig, sehr traurig«, sagte Maria mitleidig.

Durch den liebevollen Ton ermutigt, fuhr Lisa fort: »Maria, könntest du mir wohl ausnahmsweise aushelfen? Ich würde es dir, sobald ich in der Lage bin, zurückerstatten.«

Maria sann einen Augenblick nach. »Ich habe etwas Geld sparen können; wenn mein Mann nichts dagegen hat, könnte ich dir wohl etwas geben. Wieviel bedarfst du?«

Lisa nannte einen Betrag, vor dem Maria erschrak. Lisa mochte es wohl der Freundin anmerken, daß sie sich die Summe nicht so hoch gedacht hatte, denn sie fuhr fort: »Die dumme Schneiderin hat mir so hohe Posten angesetzt, sieh, da liegt die Rechnung – es ist zum Verzweifeln!«

Maria nahm das Papier und prüfte es. Ja – allerdings, soviel gebrauchte sie nicht zu ihrer Kleidung. Es war auch etwas anderes. Lisa führte ein Gesellschaftsleben und war von Jugend auf an Luxus gewöhnt. Wie dankbar war sie, daß sie in Einfachheit war erzogen worden. Sie legte das Papier wieder hin.

»Und dies?« fragte sie, einen anderen Umschlag aufmachend.

»Das ist eine Tischlerrechnung. Ich sah bei einer Bekannten ein wunderhübsch geschnitztes, altertümliches Schränkchen und bestellte mir ein solches, ahnte ja nicht, daß der Mann mir so viel Geld dafür abnehmen würde.«

»Geschnitzte Sachen sind in der Regel teuer. Fragst du denn nicht vorher, wieviel er für solche Sachen verlangt, oder vereinbarst mit ihm einen Preis, ehe du bestellst?«

»Nein, das habe ich nie getan. Maria, du bist viel erfahrener als ich, ich wollte, ich könnte von dir haushalten lernen.«

»Mir fehlt noch sehr viel. Ich habe Tante Lottchen viel zu danken, die mich einfach und sparsam wirtschaften lehrte. Auch von meiner Tante Anna habe ich manches gelernt, obwohl sie leidend war und beständig liegen mußte. Und schließlich war die Erfahrung die beste Lehrmeisterin. Auf dem Gut gab es vielerlei, das mir fremd war, aber mit einer Wirtschafterin, die sehr tüchtig in ihrem Fach war, kam ich die ersten Jahre gut durch, und dann konnte ich bald auf eigenen Füßen stehen und mir jüngere Wirtschafterinnen anlernen. Ganz leicht war es nicht, sich in alles hineinzufinden, da mir die Landwirtschaft ganz fremd war.«

»Ja, wenn man Mittel hat und sich viele Leute halten kann.«

»Gerade darin liegen große Schwierigkeiten. Die Leute sind heutzutage sehr anspruchsvoll, sie verlangen hohen Lohn und leisten wenig. Wir haben jetzt, Gott sei Dank, gute Leute, sie sind meistens schon lange bei uns und sind uns ergeben.«

»Sie haben es gewiß sehr gut bei euch. Man kann sich dich gar nicht anders vorstellen als gut, liebreich und sanft –«

»O ich kann mitunter tüchtig auftreten«, lachte Maria. Bestimmt muß man sein, wenn man eine große Dienerschaft hat. Doch ich muß gehen, ich weilte schon zu lange.«

»Willst – willst du denn so gütig sein«, fragte Lisa zögernd, »und mir einen Vorschuß gewähren?«

»Gewiß, ich versprach es ja schon. Ich werde Gundchen einen Brief an dich mitgeben.«

»Du Gute, Liebe«, sagte Lisa und küßte Maria. »Wenn ich dich nicht hätte! Sage, ist Gundchen wieder bei euch?«

»Es wird ihr oft so einsam in ihrem Stübchen, du kannst es ihr nicht verdenken, wenn sie dann zu Annchen flüchtet.«

»Richtig, sie kam und wollte bei mir sitzen. Ich war aber so erregt, jedes Knistern, jedes Auftreten oder Hüsteln, das geringste Geräusch ist mir zuwider, darum schickte ich sie fort.«

Maria legte ihre Hand auf Lisas Schulter und sagte traurig: »Lisa, tue das nicht. Es ist das einzige Kind, das Gott dir gelassen hat, du müßtest ihm gerade jetzt doppelte Liebe beweisen. Sie leidet darunter.«

»Hat sie das gesagt?«

»Das nicht, aber ich fühle es. Wenn sie sagt: ›Mutter mag mich nicht um sich haben, sie beschäftigt sich lieber mit Lesen‹, dann liegt ein so trauriger Zug in dem blassen Gesichtchen, daß es mich tief bewegt. Ich wollte dich schon immer darum bitten, zeige ihr jetzt doppelte Liebe. Wenn sie kommt, schicke sie nicht fort. Danke Gott, daß du sie noch hast!«

»Du hast recht, Maria, wie immer.«

Die beiden Freundinnen trennten sich. Lisa verharrte eine Weile im tiefen Nachsinnen. Es war ihr immer, wenn Maria dagewesen, als sei sie in eine andere Welt versetzt. Eine gute Luft umwehte sie, sie faßte gute Vorsätze, und immer wieder, als ob sie mit Maria eng verwachsen wäre, trat die Konfirmationszeit, die sie beide miteinander verlebt hatten, vor ihre Seele. Der Gedanke: »Ich möchte wohl auch sein, wie Maria«, oder: »Wenn ich doch damals auch alles so zu Herzen genommen hätte, wie sie, dann wäre jetzt manches anders«, bewegte sie. Und doch gab es noch tausend Fäden, die sie festhielten an der Welt und ihrem Wesen, äußerlich und innerlich.

Maria erzählte ihrem Mann am späten Abend von der Unterredung mit Lisa und von ihrer Bitte. »Höre, Frauchen«, sagte er warnend, »sieh dich vor, daß du dich nicht aufs Borgen einläßt. Wenn einmal der Anfang gemacht ist und die Freundin merkt, daß bei dir immer etwas zu haben ist, dann wird sie dich gern zu ihrer Schatzmeisterin machen.«

»Ich werde schon weise sein und es nicht übertreiben. Diese Bitte konnte ich der armen Lisa, die ohnehin so traurig ist, nicht abschlagen.«

Sie sprachen noch lange über die Familie Wernigge. Herr Mersburg erzählte seiner Gattin, er habe gerade heute von einem Freund gehört, daß Herr Wernigge immer mehr auf abschüssige Bahnen geriete. Er solle sehr wenig arbeiten, aber immer in den teuersten Lokalen zu treffen sein beim Essen und Trinken.

»Die armen Menschen«, sagte Maria. »Lisa ist so reich begabt, ihre Liebenswürdigkeit nimmt alle, die sie kennen, für sie ein, und doch fühlt man ihr an, daß sie innerlich unbefriedigt und traurig ist.«

»Die arme Frau«, sagte Herr Mersburg und zog die seine an sich.

»Wir wollen für sie beten, Lieber, daß der Herr ihr das geben wolle, was uns glücklich macht in allen Lagen des Lebens, daß er ihr seinen Frieden schenke.«

 


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