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Ein Wiederfinden

Frau Maria dachte ernstlich daran, bei Frau Wernigge einen Besuch zu machen. Gundchen war schon einigemal bei Annchen gewesen, und die hatte ihren Besuch auch öfters erwidert. Jedesmal kam sie wieder voll von Bewunderung für Frau Wernigge.

»Du kannst dir nicht denken, Mutter, wie schön sie ist.« Oder: »Wie wundervoll sie spielt und singt, wie freundlich und liebenswürdig sie ist. Aber ich glaube«, fügte sie nachdenklich hinzu, »ich glaube, Gundchen muß viel allein sein, sie sagt, die Eltern gingen oft aus.«

»Und hier sind Vater und Mutter viel mit ihren Kindern zusammen, gehen wenig in Gesellschaft. Oder sollen wir auch immer ausgehen und euch allein lassen?« fragte Maria lächelnd.

»Nein, so ist es viel schöner«, rief Annchen. »Der Vater könnte es auch nicht vertragen, und was dem Vater nicht gut ist, müssen wir vermeiden.«

Frau Maria hielt es jedoch für ihre Pflicht, das Haus, in dem ihr Kind verkehrte, kennenzulernen. So machte sie sich eines Tages, als der Vater mit seinen Töchtern in die Stadt gegangen war, auf, um die Nachbarin zu besuchen. Es dunkelte schon, als sie an der Wohnung der Frau Wernigge klingelte. Sie ließ sich melden und wurde in das Besuchszimmer geführt. Eine Dame trat auf sie zu und sagte: »Ich habe die Ehre mit Frau Mersburg zu sprechen?«

»Ich komme, Ihnen für die Freundlichkeit zu danken, die Sie meiner Kleinen erwiesen haben.« Frau Wernigge bat Platz zu nehmen und schaltete die Tischlampe ein. Schon als Frau Wernigge zu sprechen begann, durchfuhr es Maria: »Die Stimme hast du schon gehört.« Es war ihr, als ob Erinnerungen aus längst vergessenen Tagen wach würden. Und erging es nicht Frau Wernigge ebenso, als sie Marias Stimme vernahm? Was war es nur, was die beiden plötzlich wie mit einem Schlage berührte?

Jetzt fiel das helle Licht auf beide Gestalten. Maria hatte sich nicht gesetzt, sie stand der Dame des Hauses gegenüber, die ihren Blick forschend auf Maria gerichtet hatte, und sah sie prüfend an. »Ist es denn möglich! Maria Ruben?« Sie sprach den Namen zögernd aus, es war, als wollte sie ihr beide Hände entgegenstrecken, und doch wagte sie es noch nicht, der eben gemeldeten fremden Dame so zu begegnen.

Da rang sich der Name »Lisa« von ihren Lippen und nun wußten sie es beide, sie waren Freundinnen von Kindheit her und hatten sich wieder nach zwanzigjähriger Trennung. Sie lachten und weinten und konnten sich gar nicht hineinfinden, daß Maria und Lisa sich nun wiederhatten, die gleichen, die auf einer Schulbank gesessen, die die Konfirmationszeit miteinander durchlebt hatten, die gleichen und doch nicht die gleichen. Als der erste Sturm der Begrüßung sich gelegt hatte, sahen sie sich prüfend an, als wolle jede der andern aus den Mienen lesen, was sie bisher alles erlebt hatte.

»Das haben wir unsern Töchtern zu verdanken«, rief Maria erfreut. »Hätte Annchen nicht so zäh festgehalten an der Freundschaft mit Adelgund, wir hätten uns wohl nie gefunden.«

»Wie ist es nur möglich, daß wir so ganz auseinandergekommen sind?«

»Du hast unsere Heimatstadt zuerst verlassen, Lisa.«

»Ja, richtig«, gab Lisa flüchtig errötend zu. »Du warst nicht ganz einverstanden, Maria, daß ich mit den Damen Marowski ging, aber es führte zu meinem –, zu meiner Verheiratung.«

»Du hast deinen Mann in Italien kennengelernt?«

»Auf der Insel Capri. Es waren entzückende Wochen, die wir dort verlebten. Wir lernten Wernigge dort kennen, und ich verlobte mich bald.«

»Und ich habe sehr bald unsere Vaterstadt verlassen und bin mit meinen Pflegeeltern nach Bregenz gegangen, wo sie ein Haus hatten.«

»Ich habe immer geglaubt, du seiest Schwester und steckest irgendwo in der Welt in einem Krankenhause. Nie ist mir der Gedanke gekommen, daß du verheiratet sein könntest.«

»Und doch bin ich es und habe reiches Glück gefunden.« Maria sagte es mit strahlendem Ausdruck, während Lisa die Augen senkte. Doch sie besann sich schnell und fragte lebhaft: »Wo hast du denn deinen Gatten kennengelernt?«

»Bei meinen Verwandten. Sein Vater war ein Freund von Onkel Matthias, und er kam nach Bregenz, um von dort Ausflüge in die Alpen zu machen.«

»Maria«, sagte Lisa, »wer hätte gedacht, daß wir uns nach zwanzig Jahren unvermutet wiederfinden würden!«

»Wir haben uns doch schnell erkannt. Gundchen hat mich schon etwas an dich erinnert, doch ich ahnte ja nicht, daß sie sich als deine Tochter entpuppen würde.«

»Du hast ja ein reizendes Töchterchen, Maria«, fuhr Lisa fort. »Du warst immer hübsch, aber Annchen übertrifft dich noch.«

»Das beste ist, sie hat bis jetzt keine Ahnung davon, daß sie gut aussieht. Ich möchte auch nicht, daß ihr einmal derartiges gesagt würde.«

»Ihr seid also hier, um euch den Winter in der Stadt zu vergnügen?« fuhr Lisa fort.

»Das nicht. Wir sind unserer Kinder wegen hier, und außerdem befragt mein Mann einen Spezialarzt seines nervösen Kopfschmerzes wegen um Rat.« Maria erzählte, wie sie keine passende Erzieherin für ihre kleinen Mädchen habe finden können, und sie sich deshalb entschlossen hätten, ein halbes Jahr in die Stadt zu gehen. Außerdem haben sie auch dem Annchen in geistiger Beziehung etwas bieten wollen; sie habe reges Interesse an allem und solle noch durch verschiedene Privatstunden sich hier und da vervollkommnen. »Unser Annchen«, fügte sie hinzu, »war bis jetzt noch immer zu Hause. Damit die Erziehung nicht zu einseitig werde, glauben wir, richtig zu handeln.«

»Ihr lebt also sonst auf dem Lande?«

»Ja, Grüneichen ist unsere Heimat.«

»Bewirtschaftet dein Mann dort ein Gut oder lebt ihr als Privatleute?«

»Grüneichen ist unser Eigentum.«

»Du hast also einen vermögenden Mann, Maria? Verzeih meine Neugierde, aber du kannst dir denken, daß mir alles sehr wichtig ist, was dich angeht?«

»Mein Mann hatte etwas Vermögen. Meine guten Pflegeeltern hatten jedoch keine Kinder und waren reich. Sie haben mir den größten Teil hiervon hinterlassen.«

»Du Glückliche!«

»Geld macht nicht glücklich«, sagte Maria ruhig, »aber ich bin sehr dankbar für den Segen. Wir haben die Mittel, unsern Kindern eine gute Erziehung zu geben.«

Dann fragte Lisa weiter nach Marias Kindern, und die erzählte von ihren beiden Jungen, die auf der Schule seien, zu Weihnachten aber auf vierzehn Tage zum Besuch kommen würden, auch von Thildchen und Olga berichtete sie und forderte dann Lisa auf, ihr zu sagen, ob Gundchen nicht noch Geschwister habe.

»Wir haben noch einen Sohn«, war Lisas Antwort. »Er ist anderthalb Jahre älter als Gundchen und besucht hier das Gymnasium. Da höre ich sie beide kommen.«

Das junge Mädchen eilte erfreut auf Maria zu und begrüßte die Mutter ihrer Freundin, während ihr Bruder eine förmliche Verbeugung vor der ihm noch fremden Dame machte. Maria sprach freundlich einige Worte mit ihm, bedauerte, daß ihre Söhne jünger seien, worauf der junge Mann erwiderte, daß er sehr gern mit jüngeren Leuten verkehre. Kurt Wernigge machte einen frischen, offenen Eindruck; er gefiel Maria noch mehr, als sie sich näher in ein Gespräch mit ihm einließ.

Dann verließen Lisas Kinder das Zimmer, auch Maria schickte sich an zu gehen. »Bleib noch ein wenig, Maria.« Mit diesen Worten drückte Lisa die Freundin wieder ins Sofa. »Es ist mir, als hätten wir uns noch viel, viel zu sagen.«

»Das haben wir auch«, war Marias Antwort. »Aber ich denke, wir kommen recht oft zusammen und finden dann Gelegenheit, unsere gegenseitigen Erlebnisse auszutauschen. Sage mir nur noch, was ist aus deinen Schwestern und aus deinem Bruder, dem ehemaligen kleinen ›Bubi‹ geworden? Er hing besonders an mir, ich habe ihn nie vergessen.«

»Du würdest ihn nicht wiedererkennen. Er ist ein stattlicher Mann geworden.«

»Ist er Kaufmann, wie sein Vater es war?«

»Nein, er hat studiert. Onkel Helm, den du ja auch kennst, hat sich seiner sehr angenommen und ihn beim Studium unterstützt. Er hat Philologie und Theologie studiert, ist bis jetzt im Schulfach tätig gewesen, will aber bald ein Pfarramt übernehmen.«

»Und die Schwestern?« – »Zwei sind verheiratet, zwei verdienen sich als Lehrerinnen ihr Brot. Weißt du, Maria, daß unser großes Vermögen damals verlorenging?«

Maria nickte. Wie deutlich stand ihr der Zusammenbruch des Hauses, der Tod des Chefs und alles, was damit zusammenhing, vor Augen. Es war auch, als ob Lisa sich in die Zeit zurückversetzte. Sie sah sehr ernst und nachdenklich aus, und keine von den beiden sprach.

Endlich erhob sich Maria. »Die Pflicht ruft, Lisa, Mann und Kinder warten auf mich.«

»Ganz die alte«, lachte jetzt Lisa heiter. »Bist du immer noch so sehr pflichttreu, Maria?«

»Ich wollte, ich wäre es noch mehr. Wenn man Mann und Kinder hat, gibt es ja so viel mehr Pflichten zu erfüllen. Das wirst du auch wissen, Lisa.«

Lisa schwieg. Sie half der Freundin den Mantel umlegen und mit herzlichen Worten verabschiedete sich Maria.

»Nun, Frauchen«, sagte Herr Mersburg lächelnd, »das nenne ich aber einen Besuch gemacht! Dauern denn die Antrittsbesuche bei euch Damen immer so lang?«

»Du weißt ja gar nicht, wen ich da drüben gefunden habe. Annchen hat ihre neue Freundin dort entdeckt, ich in der Mutter die alte. Frau Wernigge ist meine Jugendfreundin, die frühere Lisa Schwarz.«

»Das ist freilich etwas anderes«, rief Herr Mersburg erstaunt. Nun ließ er sich erzählen. Was Maria interessierte, erweckte auch sein Interesse; von dieser Jugendfreundin hatte er besonders viel reden hören.

»Klingen denn die Herzen harmonisch zusammen; ich meine, fühlst du dich innerlich mit ihr verwandt, werdet ihr Jugendfreundinnen nun auch wieder Freundinnen sein können?«

»Es wäre mein größter Wunsch! Wir haben heute nur flüchtig äußere Verhältnisse berührt; ich hoffe sehr, daß sich zwischen uns ein freundschaftlicher Verkehr entspinnen wird. Jetzt kenne ich die Verhältnisse noch zu wenig, um ein Urteil abgeben zu können.«

»Warst du bei Frau Wernigge, Mutter?« rief Annchen, die eben hereinkam. »Sage, wie hat sie dir gefallen? Ist Gundchens Mutter nicht reizend? War sie nicht sehr liebenswürdig, muß man sie nicht liebhaben?« Die Fragen folgten schnell aufeinander, wie es bei Annchens Lebhaftigkeit gewöhnlich der Fall war.

Die Mutter streichelte ihr die Wangen. »Ich habe Frau Wernigge sehr lieb; ich liebte sie schon vor vielen, vielen Jahren; Gundchens Mutter ist meine Jugendfreundin, Lisa Schwarz. Annchen sah die Mutter starr an, als habe sie sie nicht verstanden. Erst als Maria sagte: »Ja, ja, mein liebes Kind, es ist so, glaube es mir«, da jubelte sie laut und wußte sich in ihrer Freude nicht zu fassen.

»Was gibt es denn?« fragten Thildchen und Olga, die mit ihren Schulbüchern unter dem Arm ins Wohnzimmer kamen, um wie gewöhnlich um diese Zeit ihre Schularbeiten unter Mutters Aufsicht zu machen. Die Kleinen interessierten sich wohl auch für ihrer Mutter Jugendfreundschaften, aber doch nicht in dem Maße wie Annchen, in deren Alter Freundschaften eine große Rolle spielen.

Es wurde viel an dem Abend von der Jugendfreundin gesprochen. Maria erzählte nach dem Abendessen allerlei kleine Szenen aus der Kindheit und Jugend, auch von Lisas kleinen Schwestern und dem einzigen Bruder Ulrich, damals ›Bubi‹ genannt.

Als aber alles still war um Maria, als die Nacht gekommen und der Schlaf sich auf alle senkte, lag sie wach und überdachte noch einmal alles Durchlebte. Ihr Herz klopfte, so hatte sie das heutige Wiedersehen aufgeregt. Sie hatte Lisas stets in ihrem Gebet gedacht und hatte sich oft gefragt: »Wie wirst du sie wiedersehen? Wirst du sie überhaupt im Leben treffen?« Und nun war alles so unerwartet gekommen! Sie stand im Geist vor ihr, die schöne vornehme Frau, mit ihrem freundlichen gewinnenden Wesen, es war ihre alte Lisa von früher. Wie aber das Leben sie innerlich gestaltet hatte, das vermochte sie noch nicht zu sagen. Sie sah mit ihren Lebenserfahrungen tiefer als die junge Tochter, die begeistert war. Maria hatte es ein paarmal schmerzlich um Lisas Mundwinkel zucken sehen, sie hatte das Gefühl, als verberge Lisa einen heimlichen Kummer vor ihr. Oder sollte sie sich täuschen? Sollte sie das Glück in der Ehe gefunden haben, das Maria so dankbar machte? Nun, jedenfalls freute sie sich, die Freundin wiedergefunden zu haben, wenngleich eine leise Bangigkeit sie erfüllte, wie sich das Zusammenleben künftig gestalten werde.

 


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