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Besuch von daheim

am 22. Februar

Lange hat mein Büchlein in dem Schrank geruht. Ich hatte gar keine Lust zum Schreiben nach dem traurigen Erlebnis, dazu kam, daß Gundchen mehrere Wochen bei uns wohnte, ich also am Abend nie allein war. Es waren traurige Tage, die wir mit den Nachbarn verlebten, besonders die ersten nach Kurts Heimgang. Tante Lisa und Gundchen wollten sich nicht trösten lassen, obwohl Mutter alles tat, sie zu überzeugen, daß auch durch schwere Schicksalsschläge Gott seine Liebe kundgibt. Mutter ist oft traurig, daß es ihr nicht gelingen will, Tante Lisa zur Ruhe und zum Frieden zu bringen, aber bald klagt sie, daß Gott zu hart mit ihr verfahre, bald klagt sie sich selbst an, daß sie Kurt gegenüber ihre Pflichten versäumt und zuletzt noch, als er geklopft, nicht aufgemacht habe. Ich glaubte immer, Tante Lisa wäre ebenso gesonnen, wie meine Mutter, aber nun merkte ich, daß sie ganz verschieden sind. Mutter kommt mir wie eine feste Säule vor, an die man sich lehnen kann, wenn man schwach ist, Tante Lisa ist ein schwankendes Rohr. Ich weiß nicht, ob es sich für mich paßt, daß ich einen solchen Vergleich mache, aber es fällt mir oft ein, wenn ich Tante Lisa und Mutter zusammensehe. Ob es wohl daher kommt, weil Mutter auf einem festen Glaubensgrund steht und Tante Lisa diesen Grund noch nicht gefunden hat? Ich habe in diesen Wochen viel darüber nachgedacht und schaue seitdem mit noch größerer Verehrung zu meinen Eltern auf, denn auch mein Vater steht auf dem festen Glaubensgrund und hat Kurt, der viel mit ihm verkehrte, seine Gedanken eingeprägt, und der hat, wie Vater sagt, ein empfängliches Herz gezeigt, hat gern mit Vater über göttliche Dinge gesprochen. Der Herr Pfarrer, der die Leichenrede hielt, wählte als Text das Wort aus Jeremias: »Ich habe dich je und je geliebet, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.«

Das Wort hat auch Gundchen getröstet, sie sagte am Abend des Begräbnisses zu mir: »Wenn ich nun auch jetzt keinen Bruder mehr habe, will ich doch immer daran denken, daß der Heiland Kurt zu sich genommen hat, und daß es viel schöner im Himmel ist als hier auf der Erde.«

Gundchen ist nur so schwächlich und nervös. Sie konnte, wenn sie drüben war, nachts nicht schlafen, weil sie immer an den Bruder dachte, da hat Mutter Tante Lisa gebeten, sie einige Wochen bei uns zu lassen. Da haben wir oft vor dem Schlafengehen Hand in Hand auf meinem kleinen Sofa gesessen und haben uns ewige Freundschaft gelobt. Dann haben wir zusammen ein Stück aus der Bibel gelesen, was ich seit meiner Konfirmation immer vor dem Einschlafen tue. Gundchen will es jetzt auch immer so machen, sagt sie, sie habe gar nicht geglaubt, daß man solche Freude an Gottes Wort haben könne. Von ihrem Kurt spricht sie gerne und freut sich, an mir eine teilnehmende Zuhörerin zu haben.

»Siehst du, Annchen«, sagte sie, »sonst konnte ich mit Kurt alles besprechen, jede Kleinigkeit teilten wir uns mit, du mußt mich nun doppelt liebhaben, weil ich keine Geschwister mehr besitze.«

Ich umarmte sie und sagte, das verstände sich ganz von selbst. Ostern soll sie mit nach Grüneichen und vielleicht den ganzen Sommer bleiben. Mutter hat schon alles mit Tante Lisa besprochen. Ein Landaufenthalt wird Gundchen gewiß sehr gut tun, die gute frische Milch von unsern Kühen soll sie kräftig und stark machen, und die herrliche Luft in unserm Wald wird auch das ihre tun. Ich fange an, mich recht auf die Heimat zu freuen, ich glaube, im Sommer möchte ich nicht in der engen Stadt sein, und Sophie sagt immer: »Mutter, wenn wir nur erst wieder in Grüneichen wären!«

»Ja, Kinder, ich freue mich auch«, sagt Mutter, »wir sind doch nun einmal alle Landkinder geworden und passen nicht mehr in die Stadt.« Am meisten Unruhe hat schon Vater. Er möchte lieber heute als morgen abreisen, aber Mutter hält ihn noch immer hin mit dem Bemerken, daß wir doch die Wohnung bis zum ersten April gemietet hätten, und die Kinder nicht vor Beginn der Ferien fortdürften.

»Nun ja«, sagt Vater, »meinetwegen, aber am ersten Ferientag wird gereist, danach richtet euch. Das schöne Osterfest wollen wir, will's Gott, in Grüneichen verleben.«

Das wünschen wir alle, denn Matthias und Christian wollen doch auch kommen, und sie erklärten, die nächsten Ferien möchten sie nicht wieder in der Mausefalle, wie sie ihr Stübchen zu nennen pflegten, zubringen. Übrigens haben die beiden Jungen lebhaften Anteil genommen an Kurts traurigem Ende. Sie schickten einen schönen Kranz, den sie für ihr Taschengeld gekauft hatten, und schrieben aus eigenem Antrieb, sie wollten von nun an recht vorsichtig auf dem Eis sein und wollten ihre guten Damen nie wieder ängstigen durch zu langes Ausbleiben. Herr Wernigge ist ein sonderbarer Mann. Er ist gewiß sehr traurig über den Tod seines Sohnes, aber es ist immer, als müsse er es vor der Welt verbergen. Vater sagt auch, er spräche sich nie darüber aus; er hat überhaupt etwas Finsteres, Verschlossenes in seinem Wesen. Zu Hause ist er wenig. Tante Lisa sagt, es erinnerte ihn alles an Kurt, deshalb ginge er weg; aber ich meine, er ist früher auch viel fortgegangen.

Vorige Woche war Besuch drüben, die alte Dame, die Gundchen damals ins Bad begleitet hatte. Sie ist eine Freundin von Tante Lisas Mutter gewesen und liebt deshalb die Kinder ihrer Freundin sehr. Tante Lisa freute sich über diesen Besuch, da die alte Dame wie eine Mutter zu ihr ist.

Sie besuchte uns auch und dankte Mutter, daß sie sich Tante Lisas so annehme. »Sie muß Zerstreuung haben, muß heraus, am besten wäre es, wenn Wernigge eine Reise mit ihr machte, damit sie auf andere Gedanken kommt«, meinte sie.

»Das ist meiner Ansicht nach nicht nötig«, entgegnete Mutter sanft. »Wenn sie sich an Gottes Wort hält, so wird sie am besten daraus Trost und Kraft schöpfen; das ist der Lebensquell, der nie versiegt, der allen alles gibt, was sie zu diesem und jenem Leben nötig haben.«

»Das habe ich nie gewußt«, sagte die alte Dame aufrichtig. »Ich lese auch mitunter in der Bibel, aber in der Regel vergesse ich immer wieder, was ich gelesen habe.«

Gundchen hängt sehr an Frau Rebel, so heißt die Dame. Sie tut ihr alles zuliebe und besonders jetzt. Sie geht mit ihr spazieren, ich darf auch zuweilen mitgehen, dann kehren wir in schöne Läden ein, und wenn wir uns etwas wünschen, so kauft Frau Rebel es für uns. Sie muß sehr reich sein, denn sonst kauft man den jungen Mädchen doch nicht alles, was sie sich wünschen. Zum Abschied schenkte sie jedem einen goldenen Ring, den sollten wir den Freundschaftsring nennen und zum Andenken aneinander tragen. Das ist doch sehr hübsch. Auf Gundchens Ring steht mein Name und auf meinem der ihre. Wenn wir den Ring ansehen, sollen wir immer aneinander denken.

Nun, zunächst brauchen wir uns nicht zu trennen, wenn Gundchen mit nach Grüneichen geht, aber, wer weiß, wie weit wir später einmal auseinander kommen.

am 23. Februar

Heute hatten wir eine große Überraschung. Ich kam mit den kleinen Schwestern aus der Schule. Wir haben ziemlich denselben Weg und treffen uns immer. Als wir eben ins Haus gehen wollen, werden mir plötzlich die Augen zugehalten. Mir fielen gleich Geschichten von Taschendieben ein, die in den Großstädten herumlaufen und sich ihre Opfer suchen. Sie sollen es jedem gleich ansehen, ob bei ihm was zu holen ist.

Ich rufe also in meiner Angst: »Bitte, lassen Sie mich los, ich will Ihnen alles geben, was ich bei mir habe.«

Da – ein großartiges Gelächter, und wer war's? Die Pastorenkinder aus Holzenau. Emmy war es gewesen, die mir die Augen zugehalten hatte, und Otto stand daneben und lachte. Auch eine jüngere Schwester war dabei, sie waren hier, um Verwandte zu besuchen, und hatten sich lange darauf gefreut, uns zu überraschen.

»Denkst du, Annchen, die Taschendiebe betreiben ihr Handwerk so öffentlich, daß dir einer die Augen zuhält auf offener Straße und der andere dich bestiehlt«, sagte Otto, noch immer lachend. Ich erwiderte ihm, daß ich mir bis jetzt noch keine genaue Vorstellung darüber gemacht hätte, in dem Augenblick aber, als mir jemand die Augen zugehalten hätte, wäre mir der Gedanke an diese Bösewichte gekommen. Ich sei aber froh, daß es gute Freunde wären, und bäte sie, mit hinaufzukommen.

Otto schien sich besonders zu freuen, Sophie wieder zu treffen. Er schüttelte ihr die Hände dermaßen, daß Sophie lachend sagte, er solle ihr doch nicht die Arme ausreißen. Sie sind nämlich immer sehr gute Freunde gewesen, besonders in den letzten Jahren haben sie viel zusammen musiziert, und da sie oft vierhändig spielten, trug Otto den Namen Quatre-mains davon. Das kam eigentlich von Matthias. Sophie war einmal in der Küche beschäftigt, ich glaube, sie rührte Brotteig an, da kam Matthias und rief: »Sophie, komm schnell, dein Quatre-mains ist da.« Quatre-mains mußte aber warten, da Sophie nicht aus der Arbeit laufen konnte, und so forderte Otto mich auf mit den Worten: »Annchen, wir könnten es doch einmal versuchen.«

Der Versuch mißglückte aber. Ich machte solche Schnitzer, daß er meinte: »Annchen, das wird nichts, ich will lieber warten, bis Sophie kommt.«

Die Eltern freuten sich sehr über den Besuch, die Gäste mußten zu Mittag dableiben und erzählten uns viel aus Holzenau und Grüneichen, so daß unsere Sehnsucht nach der Heimat erst recht geweckt wurde. Nach dem Kaffee forderte Vater Otto auf, uns etwas vorzuspielen. Er erklärte, dann müsse Sophie helfen, allein könne er Quatre-mains nicht, da er bekanntlich nur zwei Hände habe.

Sophie war natürlich gern bereit, besonders da sie jetzt noch Musik- und Gesangunterricht gehabt hat. Es ging vortrefflich, Otto lobte Sophie sehr, meinte, sie habe sich noch vervollkommnet. Emmy und ich hatten uns viel zu erzählen. Wir schickten auch hinüber und ließen Gundchen kommen, da ich mir denken konnte, daß sie die Freunde aus Holzenau, von denen ich ihr oft erzählt hatte, gern würde kennenlernen. Wie schmächtig, klein und zart sah sie aus in ihrem schwarzen Kleide, das ihre Blässe noch mehr hob, gegen die breite, von Gesundheit strotzende Emmy, die mir zuflüsterte: »Das ist Gundchen? Sehen die Stadtkinder alle so aus?«

Sie waren alle sehr freundlich und gut gegen Gundchen, da sie vorher durch mich von dem traurigen Ereignis gehört hatten. Gundchen wurde durch Emmys muntere Erzählungen ganz fröhlich, ich habe sie seit Kurts Tod noch nicht so gesehen. Und als Emmy ihr nun in leuchtenden Farben die Vorzüge der Heimat schilderte und die Freuden ihres ländlichen Pfarrhauses, da meinte Gundchen, sie könne es kaum erwarten, bis Ostern herankomme, sie freue sich zu sehr, das alles bald kennenzulernen.

Otto und Sophie hatten unterdes aufgehört zu spielen; sie standen in einer Fensternische und schienen eifrig miteinander zu verhandeln. Mutter war ein Weilchen hinausgegangen, Vater las die Zeitung und achtete nicht auf sie, Emmy stieß mich heimlich an und flüsterte: »Sieh nur die beiden!«

Ich fand nichts Besonderes dabei, denn sie sind immer gute Freunde gewesen und hatten sich nun viel zu erzählen. Ich denke mir, Sophie hat von ihren unglücklichen Stellen berichtet, denn sie hatte nachher einen sehr roten Kopf, und er sah gar nicht so lustig aus wie sonst. Als Mutter wieder hereinkam, setzten wir uns alle zusammen und plauderten. Dann brachen die Gäste wieder auf, und die Schwestern, die mit der jüngeren Franziska gespielt hatten, kamen jammernd an, als sie hörten, die Freundin müsse fort. Sophie sah den ganzen Abend sehr rot aus und war auffallend still. Als Mutter sie fragte: »Kind, fehlt dir etwas, du siehst so traurig aus«, schüttelte sie den Kopf, Tränen traten in ihre Augen und sie verließ schnell das Zimmer. Mutter war sehr erstaunt darüber, sagte aber nichts weiter. Ich denke mir, Otto hat Sophie Vorwürfe gemacht, daß sie damals das Elternhaus verlassen hat, und darüber hat sie sich gekränkt.

Gundchen schläft nun wieder drüben, allmählich denkt sie anders über den Tod ihres Bruders, ja, sie macht hin und wieder Äußerungen, als ob es für ihn das beste sei, daß er früh diese Welt verlassen durfte. Sein Vater habe nie wirkliches Interesse an ihm gehabt, überhaupt habe das ganze Leben daheim einen Druck auf ihn ausgeübt, nur sie habe er liebgehabt.

Wenn sie das sagt, beschreibe ich ihr unser schönes Grüneichen und male ihr aus, was wir alles unternehmen wollen. Dann wird sie wieder vergnügt.

Onkel Ulrich ist nicht Pfarrer geworden sondern hat eine sehr gute Stelle an einem Gymnasium angenommen. Der Ort liegt freilich weit von hier, aber nur einige Stunden mit der Bahn von Grüneichen. Er hat natürlich an Kurts Tod starken Anteil genommen. Er konnte nicht kommen, hat aber viel an Tante Lisa geschrieben und sie zu trösten versucht, wie Mutter mir sagte.

In den ersten Tagen nach Kurts Tod glaubte ich auch, es gäbe keine Freude mehr auf der Welt, alles sah mich so düster und traurig an. Aber jetzt ist es wieder anders. Die Welt ist doch schön, mit allem was darinnen ist. Wenn die warme Februarsonne so hell in die Zimmer scheint und unsere Frühlingsblumen an den Fenstern sich ihr entgegenstrecken, dann wird mein Herz so fröhlich, ich möchte immer singen und springen. Ich glaube, das macht der Frühling und die Aussicht, daß es bald nach Hause geht.

 


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