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Die alte Heimat

Da die kleine Tagebuchschreiberin mehr erlebt, als sie zu Papier bringen kann, und da es gut ist, die Erlebnisse mitunter von einem andern Standpunkt als dem ihrigen zu betrachten, so werden wir hie und da Kapitel einschalten, die nicht von ihr geschrieben sind, die aber doch im Zusammenhang mit ihrem Tagebuch stehen werden.

Es war ein lieblicher Sommermorgen, wie er schöner nicht gedacht werden konnte, als vor der »Post« ein ganz neuer Zweispänner hielt. Drei junge uns wohlbekannte Leute gingen ungeduldig vor der Haustür auf und ab, Annchen im hellen Sommerkleid, die beiden Gymnasiasten in grauen Sommeranzügen. Jetzt kam die Mutter, begleitet vom Vater, der ihr sorgsam ein Tuch um die Schultern legte: »Wenn es auch Sommer ist, kühl sind die Morgen doch, du darfst dich nicht erkälten.« Sie sah ihn dankbar an und meinte, er solle nur auch auf sich achten, er hätte nicht so früh aufstehen sollen ihretwegen.

»Ich kann ja nun den ganzen Tag schlafen«, lachte er, ermahnte dann die Jungen, aufmerksam gegen Mutter und Schwester zu sein und sich gesittet zu benehmen, was sie als selbstverständlich versprachen. Nun saßen sie alle im Wagen, noch einmal ein Nicken und Winken, und fort ging's in den schönen Sommermorgen hinein.

Frau Maria Mersburg sah so froh und glücklich aus, wie ein Kind am Weihnachtsabend, das lauter Schönes ahnt und sich noch keine bestimmten Vorstellungen machen kann, wie es ausfallen wird. Annchen schmiegte sich von Zeit zu Zeit an die Mutter und flüsterte: »Mutter, ich freue mich so!« Die Jungen aber warfen, als sie die letzten Häuser des Ortes hinter sich hatten, ihre Mützen in die Luft und riefen: »Hurra!«

»Keinen Unsinn!« warnte die Mutter, »vergnügt dürft ihr sein, aber Dummheiten werden nicht gestattet.«

»Es war nur ein Ausdruck unserer Freude«, rief Christian, während der dicke Matthias seine Hand ausstreckte und sagte: »Es sind doch Butterbrote eingepackt, ich bitte darum.«

»Jetzt schon«, rief Anna entrüstet, »sie sollten erst auf der Hälfte des Weges gegessen werden.«

»Ist ja ganz einerlei, gebt sie nur her, dann sind wir der Arbeit überhoben.«

Die Pferde trabten munter auf der Straße dahin. Rechts und links gab es bewaldete Höhen, saftige Wiesen, goldschimmernde Kornfelder.

»Mutter, bist du hier schon gewesen?« – »Oder hier?« – »Wie heißt dies Dorf?« – »Kennst du jenes Schloß dort?« so sprudelte es durcheinander.

»Es ist mir alles fremd, liebe Kinder. Ich bin in meiner Jugend nie weit aus der Stadt herausgekommen, ich wußte wohl, daß ein vielbesuchter Badeort in der Nähe sei, wir sind aber nie dort gewesen. Ihr wißt, meine Mutter lebte nicht mehr; mein Vater war Lehrer und hatte viel Unterricht zu geben; außer einem Spaziergang täglich ging er fast nie aus. So habe ich von der Umgegend meiner Vaterstadt wenig kennengelernt. Viele liebe Menschen, die ich gekannt habe, sind gestorben, die noch leben, wollen wir aufsuchen, ich will sehen, ob sie mich wiedererkennen. Paßt auf, Kinder! Wer die Türme meiner Vaterstadt zuerst entdeckt, der sage es.«

»Das wird Anna natürlich, wir sitzen ja rückwärts«, rief Matthias, während der schlanke Christian behende wie ein Eichkätzchen auf den Kutscherbock hinüberkletterte. »So, nun sitze ich hoch und werde das Auftauchen der Türme zuerst wahrnehmen.«

»Wenn ich nicht irre, müssen wir vorher durch ein großes Gehölz, aber dann!« setzte die Mutter hinzu.

Im Wald war es still und schön. Die Bäume und Büsche sahen alle so taufrisch aus und glänzten, wenn die Morgensonne hindurchschien. »Wenn wir hier doch öfter herumjagen könnten«, wünschte sich Christian.

»Oder Käfer und Schmetterlinge fangen«, fügte Matthias hinzu.

»Auf dem Rückweg vielleicht«, lenkte Annchen ein, während die Mutter versicherte, auf dem Rückweg würde man sich gar nicht aufhalten, Vater wünsche, daß wir um zehn Uhr abends zurück seien; und man wußte, daß Vaters Gebote gewissenhaft zu halten waren. Nun lichtete sich der Wald, der Wagen fuhr langsam eine Anhöhe hinauf. Jetzt waren sie oben, da wirbelte auf einmal wieder Christians Mütze in der Luft. Er rief: »Da sind die Türme, ich sehe die ganze Stadt! Mutter, Mutter, deine Stadt.«

Frau Maria sah ihre Vaterstadt wieder nach zwanzig Jahren! Neunzehn war sie gewesen, als sie mit Onkel und Tante davonfuhr. Nun war sie neununddreißig. Sie faltete unwillkürlich die Hände. Die Kinder wurden auch still, es war, als ob sie ahnten, was durch die Seele der geliebten Mutter ging. Da lag die Stadt mit ihrem Häusermeer, und links vom Wege war die Anhöhe, auf der sie zuletzt mit ihrem Vater gesessen hatte, einen Tag vor seinem Heimgang. Die Worte, die er damals zu ihr gesprochen, waren ihr fest ins Herz geschrieben. Ja, die Erinnerungen kamen wie eine Flut über sie.

»Nicht so traurig, Mütterchen«, flüsterte Anna und legte den Kopf an ihre Schulter, »du hast dich immer so gefreut auf diesen Tag.«

»Ich freue mich auch«, war der Mutter Antwort. Sie trocknete ihre Tränen und sagte in heiterem Ton: »So, ihr Kinder, nun merkt auf. Wenn wir in die Vorstadt kommen, lassen wir halten. Ich suche das Häuschen auf, in dem ich mit eurem Großvater gelebt habe, und zeige euch alles.« Christian war wieder, da seine Mission erfüllt war, auf seinen Platz zurückgeklettert, und während die Mutter ermahnte, jetzt ruhig und anständig zu sitzen und ihr Ehre zu machen, näherte sich der Wagen der Stadt.

Als sie die ersten Häuser erreicht hatten, bat Frau Maria den Kutscher haltzumachen. »Fahren Sie hier ein wenig auf und ab, bis wir wiederkommen. Dann bringen Sie uns in die Altstadt. Dort in der Forststraße ist die Großhandlung von E. Walter, wo wir bleiben werden. Sie können in einem nahegelegenen Gasthof ausspannen und sich und den Pferden bis zum Abend Ruhe gönnen.«

»Mutter, wo ist nun dein Häuschen? Ich sehe nur schöne Villen mit großen Gärten; hier hat wohl Lisa, deine Freundin, gewohnt, von der du uns erzählt hast.«

»Ich fühle mich selbst fremd hier«, meinte Maria. »Ihr müßt denken, daß zwanzig Jahre vergangen sind, da kann sich vieles verändern. Diese Häuser standen noch nicht, aber es ist die richtige Straße. Merkt nur alle auf, ob ganz verborgen zwischen den großen Häusern, von Bäumen verdeckt, nicht ein kleines einstöckiges Haus zu finden ist.« Sie gingen weiter und weiter, aber nichts davon war zu sehen. »Es ist gewiß niedergerissen«, sagte Maria eben traurig zu Annchen, da kamen die Jungen, die etwas vorausgegangen waren, zurück und riefen: »Wir haben es! Wir haben es! Ganz unter Bäumen versteckt liegt ein winziges Häuschen, wie – wie – ein Schilderhaus.«

»Nein, Christian«, widersprach Matthias, »du hast wohl noch kein Schilderhaus gesehen; es sieht eher wie ein Gartenhaus aus, aber die Läden sind zu.«

»Dann ist es unbewohnt, aber versuchen möchte ich doch, ob nicht hineinzukommen ist.« Sie gingen miteinander und kamen an Häuser, deren Maria sich noch gut erinnerte. Sie wußte sogar die Namen der Besitzer. »Hier wohnten Bürgers und dort ist die Villa Schwarz, zwischen diesen Häusern muß es liegen.«

»Ja, dort, Mutter«, sagte Matthias. »Siehst du, da guckt ein kleines Schieferdach heraus; aber es führt kein Eingang dahin, eine grüne Hecke ohne Tür ist davor.«

»Dann gehen wir in den Garten der Villa und fragen. Das Häuschen gehört bestimmt jetzt zu dem großen.« Sie klinkte beherzt die eiserne Gittertür auf, durch die sie als Kind sooft geschlüpft war, und fand den Garten im ganzen wenig verändert. Aber am Hause waren die Rolläden heruntergelassen, alles war tot und still. Da kam ein alter Mann den Kiesweg herauf, vielleicht der Gärtner oder der Hausmeister. Frau Maria grüßte freundlich und fragte, ob es wohl erlaubt sei, das kleine Haus seitwärts zu besichtigen. Der alte Mann kratzte sich bedenklich hinter dem Ohr und sagte: In dem Hause sei nichts los, es gehöre zur Villa, und der Besitzer sei mit seiner Familie verreist. Er habe die Aufsicht und die Schlüssel, aber die Herrschaft liebe durchaus nicht, daß ihr Besitztum während ihrer Abwesenheit durchstöbert würde, es hätte ja auch gar keinen Zweck.

»Es hätte nur den Zweck gehabt, daß Sie jemanden, der in dem Häuschen seine Kindheit verlebt hat, eine Freude gemacht, wenn Sie erlaubt hätten, noch einmal hineinzuschauen. Aber, wenn es nicht sein kann, entschuldigen Sie. Kommt Kinder!«

Sehr ungern folgten die Kinder ihrer Mutter. Es war die erste Enttäuschung. Sie hatten das Tor erreicht und wollten eben den Garten verlassen, da stieß Matthias die Mutter mit dem Ellenbogen und flüsterte: »Der alte Mann läuft hinter uns her.« Maria sah sich um. Da kam der Alte und winkte immer mit der Hand. Erwartungsvoll blieben sie stehen. Jetzt hatte er sie erreicht. Er sah Maria scharf an, drehte verlegen seine Mütze hin und her und sagte: »Entschuldigen Sie, liebe Frau. Sollten Sie wohl – nein, das kann nicht sein – aber wenn ich Sie ansehe, dann denke ich: sie ist es doch. Nein – die Maria Ruben sind Sie doch nicht?«

»Freilich bin ich Maria Ruben, allerdings jetzt verheiratet mit dem Gutsbesitzer Mersburg, aber ich wohnte mit meinem Vater, dem Doktor Ruben, in dem kleinen Häuschen.«

»Und hatten ein altes, braves Mädchen, die Mine?«

»Das stimmt«, antwortete Maria lächelnd und die Kinder nickten ihr »Ja« dazu.

»Dann sollen Sie auch das Häuschen von oben bis unten sehen. Sie haben meiner Familie so viel Gutes getan, daß ich's mein Lebtag nicht vergessen hab'. Meine Frau ist längst tot, aber meine Kinder leben alle noch.

»Sind sie der Schreiner Roß aus der Grubenstraße? Sie waren krank, da haben wir Mädchen Ihnen einmal zu Weihnachten eine kleine Freude gemacht.«

»Das nicht allein, die Rubens haben uns viele Wohltaten erwiesen, und jetzt zeige ich Ihnen Ihr Häuschen mit allem, was drum und dran ist. Sind das Ihre Kinder?«

»Gewiß, drei sind noch daheim, das heißt zwei eigene und ein angenommenes. Ich bin mit meinem Mann im benachbarten Kurort.«

Sie gingen eifrig redend miteinander, die Kinder folgten, aufs höchste gespannt. Maria konnte nicht genug fragen nach der Familie Schwarz, erhielt aber ungenügende Antworten. »Das weiß ich alles nicht so genau, die Familie Schwarz ist längst weggezogen; ich bin seit etwa zehn Jahren hier Hausmeister und habe die Schwarzens wenig gekannt.«

Nachdem der alte Mann einen großen Schlüssel geholt hatte, gingen sie durch die Gemüseanlagen nach dem Teil des Gartens, in dem das Häuschen lag. Die trennende Hecke war weggerissen, der alte Kastanienbaum stand noch da und überschattete mit seinen mächtigen Zweigen das kleine Dach. Sogar die nette Laube, mit wildem Wein überwuchert, war noch vorhanden.

»Hier hat die Mutter mit der Freundin Lisa ihre Schularbeiten gemacht«, riefen die Kinder, »aber eine Bank gibt es nicht mehr.«

»Es ist eben alles zerfallen und verwildert, es war so nett und sauber als wir hier wohnten.«

»Das kommt«, sagte der alte Roß, »weil an diesem Teil des Gartens nichts gemacht wird; das Häuschen dient jetzt zum Aufbewahren der Gartengerätschaften, im Herbst wird das Obst in den verschiedenen Räumen untergebracht.«

Der Alte schloß auf und Maria sah mit Wehmut die alten Zimmer wieder, in denen sie ihre Kindheit verlebt hatte. Sie wollte ihren Kindern alles erklären, aber die wußten ebensogut wie die Mutter, welches Großvaters Zimmer gewesen, welches das Blaue und wo Mina gewohnt hatte, ja, sie stiegen mit der Mutter die steile Treppe hinauf und besichtigten das Giebelzimmer, der Mutter eigenstes. Es war freilich alles zerfallen, der Kalk bröckelte von den Wänden, die Zeit hatte allem den Stempel der Vergänglichkeit aufgeprägt, aber es war doch anziehend. Sie ergingen sich mit der Mutter in ihren Jugenderinnerungen, und der alte Mann stand dabei und freute sich wie ein Kind.

Da sauste ein mächtiger Peitschenknall durch die Luft.

»Behrens will nicht mehr warten, Kinder, wir haben uns zu lange aufgehalten, eine ganze Stunde ist wie nichts zerronnen. Wir müssen weiter, der Tag ist sonst zu kurz für das, was wir vorhaben.« Sie drückte dem alten Roß ein gutes Trinkgeld in die Hand, dankte ihm und wünschte ihm ferneres Wohlergehen. Dann bestiegen sie ihren Wagen und fuhren in die Stadt hinein.

 


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