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Lisa

Und Lisa? Sie stand, nachdem Maria gegangen war, eine ganze Weile unbeweglich in ihrem Zimmer.

Maria Ruben wieder da!

Diese »kleine Heilige«, wie sie sich früher oft ausgedrückt hatte, was war aus ihr geworden! Eine glückliche Frau und Mutter von fünf Kindern, dazu reich, angesehen, hübsch, gar nicht mehr so schüchtern wie früher, nein lebhafter, gesprächiger, kurz eine Frau, die sich überall sehen lassen konnte.

Ohne daß sie es wollte, mußte sie immer wieder an die mit Maria verlebte Konfirmationszeit denken. Wie kam es nur, daß ihr besonders der eine Abend vorschwebte, an dem sie gemeinsam ihre schönen, schwarzgebundenen Spruchbücher aufgeschlagen und den ersten Spruch hineingeschrieben hatten: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele.« Sie fuhr zusammen: es war, als wenn jemand die Worte laut in ihrer Nähe gesagt hätte.

Dann trat ihr Marias kleines Giebelstübchen vor Augen, und wieder war es der große Spruch, der damals über Marias Bett hing, den sie jetzt zu lesen meinte: »Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen!«

Bei Maria war es wohl in Erfüllung gegangen. Wie kam es nur, daß sie diese beiden Sprüche gar nicht los wurde heute abend? Maria hatte doch gar nichts dergleichen gesprochen. Nein, sie war ganz wie ihresgleichen gewesen, möglicherweise hatte sie sich in diesem Punkt auch geändert, dachte nicht mehr so engherzig über alles!

Da kamen männliche Tritte. Die Tür wurde hastig aufgerissen, ein Herr im Gesellschaftsanzug trat ein, zog die Uhr aus der Tasche und sagte: »Aber, liebes Kind, noch nicht angezogen! Die Droschke, die uns ins Theater fahren soll, wird gleich kommen.«

»Ich möchte heute lieber dableiben, Arnold; ich hatte Besuch, der eben erst gegangen ist.«

»Wie du willst, Liebe, dann fahre ich eben allein.«

»Du könntest auch einmal einen Abend hierbleiben, Arnold.«

»Was soll ich mich hier langweilen. Wenn ich den Tag über gearbeitet habe, will ich abends mein Vergnügen haben. Nun dann, leb wohl.«

»Du kommst doch nicht wieder so spät heim?«

»Das kann ich jetzt noch nicht bestimmen. Leg dich nur schlafen und warte nicht auf mich.« Damit ging er.

Lisa setzte sich in eine Ecke ihres Sofas und stützte den Kopf in die Hand. Da öffnete sich leise die Tür. Gundchen steckte den Kopf herein. »O Mutter, bleibst du heute abend hier?«

»Ja, mein Kind, ich habe Kopfschmerzen.«

»Wie schade, ich glaubte schon, Kurt und ich könnten dir Gesellschaft leisten.«

»Heute nicht, mein Kind. Gib mir noch das Kölnische Wasser vom Schrank.« Adelgund ging leise auf den Fußspitzen, nahm das Fläschchen und wusch der Mutter die Stirn.

»Wird es nun besser?«

»Noch nicht, laß mir nur Ruhe, Minna kann den Tee auf dein Zimmer bringen; ich möchte gern allein sein.« Traurig schlich Gundchen davon.

Lisa rief sie zurück. »Ich muß dir noch etwas sagen. Annchens Mutter ist meine Jugendfreundin; wir haben uns eben wiedererkannt.«

»Das ist doch eine Freude! Davon hast du wohl keine Kopfschmerzen?«

»Die Aufregung kann etwas dazu beigetragen haben. Nun geh, mein Kind, und vertreibe dir den Abend mit deinem Bruder.« Gundchen ging in Kurts Zimmer. Der saß bei seinen lateinischen Arbeiten, nickte aber seiner Schwester freundlich zu, als sie ihm sagte, er möchte die Mutter heute nicht stören, sondern zum Abendbrot in ihr Zimmer kommen. Da saßen nun die Geschwister allein ohne Vater und Mutter und tranken ihren Tee. Sie waren es schon gewohnt; die Eltern waren oft abends nicht da.

»Wie kommt es, daß Mutter heute nicht mitgefahren ist; es waren doch zwei Karten bestellt?«

»Sie hat Kopfschmerzen.«

»Da hätte der Vater mich auch einmal mitnehmen können. Für mich hat er nie etwas übrig.«

»Armer Kurt, du hast recht«, flüsterte Gundchen.

»Er hat die Karte natürlich Herrn Erroli gegeben, mit dem er immer so lang aufbleibt.« Dann flüsterte Kurt Gundchen etwas ins Ohr von »gestern abend«, worauf sie erwiderte: »Gestern glaube ich nicht.«

Als der Teetisch abgeräumt war, holte er eine Menge Skizzen, die er angefertigt hatte, und zeigte sie ihr. »Du wirst auch einmal ein tüchtiger Maler, du hast großes Talent.«

»Ein Maler werde ich ganz gewiß nicht, ich habe viel größere Lust zum Studium. O, Gundel, wenn ich etwas Tüchtiges geworden bin, dann nehme ich dich zu mir, du führst mir den Haushalt, und wir leben recht glücklich miteinander.«

»Dann nimmst du dir eine Frau und deine Schwester bleibt allein. Das weiß ich schon, so machen es alle Männer.«

»Ich lasse dich nicht allein. Warte nur, wenn ich erst etwas verdiene, bekommst du alles, was du dir wünschest.«

»Was ich mir wünsche, kannst du mir doch nicht geben.«

»Sag mir's, Gundel, vielleicht doch.« Sie schüttelte den Kopf. »Nun, was ist's, ich möchte es gerne wissen.« Da flüsterte sie ihm ins Ohr: »Ich wünschte mir, daß unser Vater so wäre wie Annchens.«

»Das kann ich dir freilich nicht geben; der Wunsch wird wohl nie in Erfüllung gehen.« Sie schwiegen beide. Endlich sagte Kurt: »Könntest du mich nicht auch einmal einführen in die Familie, die uns gegenüber wohnt? Ich möchte wohl den Herrn Mersburg kennenlernen.«

»Hole mich nur einmal ab, wenn ich abends bei Annchen bin; Herr Mersburg ist ein sehr freundlicher Mann. Und denke dir, Mutter und Frau Mersburg haben sich in ihrer Jugend gekannt; sie sind Freundinnen und nennen sich du.«

So plauderten die Geschwister miteinander, bis es Zeit zum Zubettgehen wurde. Dann gingen sie zur Mutter, die noch immer auf dem Sofa lag, und sagten ihr gute Nacht.

Als Kurt am andern Morgen aufstand, herrschte im Hause noch tiefe Ruhe. Nur Gundchen war auf und fertig angezogen; sie winkte ihrem Bruder und sagte: »Wir wollen nur wieder in meinem Stübchen zusammen Kaffee trinken; die Eltern werden wohl fürs erste nicht kommen.«

»Hast du den Vater gehört?«

Gundchen nickte traurig und sagte: »Gegen vier Uhr kam er nach Hause.«

»Ich hab's auch gehört«, flüsterte Kurt, »es gab einen schlimmen Auftritt, wenn's nur die Leute im Hause nicht gehört haben.«

Die hatten es freilich auch gehört. Es war im Hause nicht verborgen geblieben, daß Herr Wernigge oft im Trinken das Maß überschritt und aufgeregt nach Hause kam, und daß es infolgedessen oft Szenen zwischen den Ehegatten gab.

Lisa mußte wohl keine Ahnung haben, daß auch die Kinder von dem Lärm erwachen konnten, und daß sie hören mußten, was ihnen verborgen bleiben sollte. Lisa hatte sich in der Wahl ihres Gatten übereilt. Als Gesellschafterin der Fräulein Marowski hatte sie bald gelernt, in den freien Ton der da herrschte, einzustimmen. Der gute Same, der in ihr Herz gelegt worden, war bald verweht. Hier hieß es: lustig sein und leben lassen. Die Wohnung ihrer Damen war der Mittelpunkt junger Künstler und Gelehrter. Es wurden gemeinsame Partien unternommen, gesungen, getanzt und gescherzt. Wie konnte es da anders kommen, als daß Lisa ihr Herz verlor an einen jungen Künstler, einen Mann von großer Begabung. Er war in gleicher Weise gefesselt von dem liebenswürdigen jungen Wesen, das durch Schönheit und Reiz auffiel. Es währte nicht lange, so gab es ein Brautpaar, das sich des besonderen Schutzes der Fräulein Marowski erfreute.

Lisas Mutter, die sich in Tante Lottchens Hause nicht so heimisch fühlen konnte, weil sie alles an das, was sie verloren hatte, erinnerte, hatte sehr bald ihre Heimat verlassen und war auf Herrn Helms Rat in seine Nähe gezogen. Er war der Vormund der Kinder und tat für sie, was in seinen Kräften stand. Frau Schwarz war zuerst mehr erschrocken als erfreut, als Lisa von der Verlobung schrieb und nachträglich um den mütterlichen Segen bat. Auch Herr Helm war ungehalten und nannte es eine Übereilung. Doch die Tat war einmal geschehen, und sie mußten schließlich ihre Einwilligung geben. Das junge Paar schwelgte in einem Meer von Seligkeiten; sie hatten, wie sie meinten, den Himmel auf Erden. Lisa hatte wenig danach gefragt, ob Arnold Wernigge ein christlicher Mann sei, ein Mann, der ihr ein Halt fürs Leben sein könnte. Das meinte sie damals nicht nötig zu haben. Er war jung, reich, schön, wes bedurfte es mehr? Er war angesehen unter den Malern, weil er wirklich gute Bilder machte, die immer gefragt waren.

Das junge Paar lebte zuerst einige Jahre in München, wo Kurt und Adelgund geboren wurden, dann in Düsseldorf, Dresden und andern Städten.

Wernigges führten ein flottes Gesellschaftsleben; sie liebten es beide, und Lisa glänzte durch ihre Schönheit und Liebenswürdigkeit. Jedermann schmeichelte ihr, so glaubte sie selber, daß sie eine beneidenswerte, glückliche Frau sei. Aber oft in stillen Stunden fühlte sie die Hohlheit und Leere dieses Lebens; wie wenig blieb fürs Herz von all dem, was an solchen Abenden geredet wurde. Sie kamen spät nach Hause, Lisa fühlte sich am nächsten Morgen matt und angegriffen, blieb deshalb lange liegen; die Kinder mußten sehen, wie sie ohne die Mutter fertig wurden. So war es in den ersten Jahren ihrer Ehe gewesen, dann kamen Jahre, die weniger Verdienst brachten. Das Vermögen, das Wernigge mitgebracht hatte, war bald verbraucht. Er war an ein Geldausgeben gewöhnt und konnte sich nicht einschränken; so trat mitunter eine Zeit der Ebbe ein, die zuerst Uneinigkeit hervorrief. Lisa war auch verwöhnt. Hatte sie diesen oder jenen Wunsch, und ihr Mann konnte das dazu nötige Geld nicht hergeben, so gab es Verstimmungen. Die Freunde merkten nichts davon, ihnen gegenüber blieb Frau Wernigge die liebenswürdige, freundliche Wirtin. Aber die Kinder wußten von solchen Tagen zu sagen, an denen die Mutter verstimmt war und der Vater böse über die nie endenwollenden Ausgaben. Sie wagten nicht, einen Wunsch zu äußern, der Vater sprach es oft genug aus, daß der Sohn zu viel koste.

Augenblicklich schien wieder einmal eine solche Zeit der Ebbe eingetreten zu sein, man konnte es nur an dem häufigen Zwist des Ehepaares merken, an äußeren Einschränkungen nicht. Es wurden Gesellschaften gegeben, Herr Wernigge besuchte kostspielige Lokale, wo teure Weine getrunken und Karten gespielt wurden. Spiel und Trunk waren seine Leidenschaften, und die hatten mit den Jahren zugenommen. Lisa ging allmählich ein Licht auf; mit Schrecken gewahrte sie, wohin diese Leidenschaften ihren Mann führen würden; sie fühlte aber keinen Mut und keine Kraft in sich, ihm entgegenzutreten, ihn von seinem Unrecht zu überzeugen.

Leider war sie keine Frau, die durch ihre Art ohne viel Worte den Mann beeinflußte, vielmehr empfand sie Lust, ihn mit spitzen Bemerkungen an empfindlicher Stelle zu treffen, oder ihm rückhaltlos seine Fehler vorzuhalten, und ihn dadurch mehr zu verbittern als zu bessern.

So war es auch an dem eben beschriebenen Morgen. Kurt saß lange in der Schule, Gundchen war ausgegangen und Lisa eben im Morgenkleid im Wohnzimmer erschienen, da kam auch Wernigge im Morgenrock, die Pfeife im Mund, warf sich in den Lehnstuhl und griff nach der Zeitung.

»Unverantwortlich lange bist du gestern wieder ausgeblieben, und in welchem Zustand bist du heimgekommen. Du solltest dich schämen, Arnold.«

»Dasselbe hast du mir heute früh schon einmal gesagt, wozu also die Wiederholung?«

»Damit du endlich damit aufhörst. Du machst mich und die Kinder unglücklich.«

Er lachte. Das reizte sie noch mehr. »Gott sei Dank, daß Kurt dir nicht ähnlich ist. Er ist ein stiller, fleißiger Mensch und wird mir gewiß einmal Freude machen.«

»Ein Mensch, der sich über seinen Vater erhebt, weil er von der Mutter verzogen wird.«

Sie sah ihn mit einem strafenden Blick an. »Es liegt nicht in Kurts bescheidener Art, sich über jemand zu erheben, am wenigsten über seinen Vater. Ich möchte dich übrigens bitten, mir, ehe du ins Atelier gehst, etwas Geld dazulassen. Für Kurt ist eine Schneiderrechnung zu bezahlen, auch von der Buchhandlung liegt eine Rechnung noch unbezahlt, außerdem habe ich Wirtschaftsgeld nötig, es ist für die morgige Abendgesellschaft noch einzukaufen.«

Da brauste er auf. Ob sie glaube, daß er das Geld auf der Straße fände; es wäre die höchste Zeit, daß sie lerne, sich einzuschränken. Kurt hätte noch lange keinen neuen Anzug gebraucht, und die Bücherrechnung bezahle er nie, der Junge könne Privatstunden geben und die Bücher, die er brauche, selbst anschaffen.

Darauf fragte Lisa ihren Mann, wieviel Geld er wohl gestern abend für sich selbst ausgegeben habe. Einen Augenblick stutzte er. Er war sich wohl bewußt, daß er sich sehr bloßstellen würde, wenn er die Summe nannte, die er verspielt hatte. Er brauste wieder auf, sagte, es gehe sie nichts an, wieviel er gebrauche, es sei sein Geld; sie sei eine arme Kirchenmaus, die nichts mitgebracht habe, schlug schließlich auf den Tisch mit den Worten: »Gegeben wird heute nichts, sieh du zu, wie du fertig wirst.«

»Da müssen eben Schulden gemacht werden, wie schon oft jetzt«, sagte sie trotzig, rief das Mädchen, gab in seiner Gegenwart Aufträge und schloß damit, Minna möge alles anschreiben lassen. Im stillen hoffte Lisa, daß eines Tages der Verkauf eines Bildes wieder viel Geld ins Haus bringen würde, und daß dann alles mit einem Male bezahlt werden könnte. Es war nur schlimm, daß ihr Mann gar nicht mehr so fleißig wie in früheren Jahren arbeitete; er traf sich gewöhnlich schon zum Frühschoppen mit seinen Freunden und kam erst gegen Mittag heim.

Am Abend des folgenden Tages merkte niemand etwas von dem ehelichen Zwist. Lisa strahlte in einem schwarzen Sammetkleide, das ihre Gestalt vorteilhaft hob. Die Gäste waren entzückt von ihr; er machte den liebenswürdigen Wirt, und beim Nachhausefahren sprach jeder von dem angenehmen Abend, den man bei Wernigges verlebt hatte.

 


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