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Unverhofft

am 12. Dezember

Heute sind die Eltern bei Bekannten eingeladen, ich muß haushalten, die kleinen Schwestern überwachen und – Krankenpflege üben. Wer aber zu pflegen ist, das ahnt niemand. Ich kann aber, während Thildchen und Olga ihre Schularbeiten machen, an meinem Tagebuch schreiben. Abends bin ich oft so müde, besonders jetzt, nachdem ich die letzten Tage unendlich viel erlebt habe. Die kleinen Schwestern wissen, daß ich ein Tagebuch schreibe, es ist ihnen jedoch gleichgültig, da sie noch nicht in dem Alter sind, daß sie so etwas interessiert.

Vor einigen Tagen trug mir Mutter auf, eine Besorgung zu machen in einem Stadtteil, der ziemlich entfernt von dem unsern liegt. Sie fragte mich vorher, ob ich mich allein zurechtfinden würde. Ich bejahte es, denn ich war vor kurzem erst mit den Eltern in diesem Laden gewesen und hatte mir die Straßen gut gemerkt. Ich fuhr mit der Straßenbahn bis an die Ecke der Luisenstraße, stieg aus, ging die Straße entlang mit langsamen Schritten, um die zur Weihnachtszeit besonders reich geschmückten Schaufenster mit Muße zu betrachten. Dann besorgte ich für Mutter, was sie mir aufgetragen hatte, und verließ das Geschäft. Die Leute liefen alle schnell aneinander vorüber, denn es hatte gefroren und war recht kalt. Da kommt ein Herr im Pelz auf mich zu mit den Worten: »Gott grüße Sie, Fräulein, wie kommen Sie in die Hauptstadt, ich glaubte, Sie lebten auf dem Lande.«

Ich stutzte und kannte den Herrn nicht gleich, als er aber sagte:

»Was machen die Brüder, Christian und Matthias, jetzt sitzen sie wohl auf der Schulbank, statt im Walde umherzustreifen«, da fiel mir der Wald und alles, was ich dort erlebte, ein. Ich dachte an mein zerrissenes Kleid und an den Herrn mit dem großen Bart.

»Sie sind der Arzt, mit dem die Brüder zusammen reisten«, sagte ich. Er lächelte und murmelte etwas von Arzt, was ich nicht verstand. »Ich bin sehr eilig«, fügte er hinzu, »habe nur ein paar Stunden Aufenthalt hier, und will meine verheiratete Schwester besuchen, grüßen Sie mir Ihre Br– –«

Da ereignete sich etwas, das unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: Wir standen an der Ecke, wo die Straßenbahn zu halten pflegt. Noch ehe der Wagen ganz steht, springt ein junges Mädchen eilfertig heraus, stolpert und schlägt auf die Steine, wo sie anscheinend besinnungslos liegenbleibt. Der Arzt und ich springen beide zu, und wer beschreibt mein Erstaunen, als ich – Sophie erkenne.

»Es ist Sophie«, rief ich laut, »bitte helfen Sie mir und ihr, Sie sind ja Arzt.«

»Arzt bin ich nicht«, sagte er ernst, »aber helfen will ich, soviel ich kann.«

Er winkte einem Mann, der gerade vorüberging, die beiden trugen Sophie in das nächste Haus, wo im Erdgeschoß eine Dame wohnte, die sich unser freundlichst annahm. Sie holte Kölnisches Wasser und rieb Sophie Stirn und Schläfen damit, da tat diese ihre Augen auf, zeigte nach dem Fuß und stöhnte vor Schmerzen.

Der Arzt oder der unbekannte Fremde sah nach der Uhr, ich wußte ja, daß er nicht viel Zeit hatte, und sagte deshalb: »Bitte, gehen Sie doch, Sie wollen Verwandte besuchen.«

»Verlassen werde ich Sie auf keinen Fall«, sagte er bestimmt. »Sie wohnen jetzt hier?«

»Ja, in der Königsstraße«, gab ich zur Antwort.

»Das trifft sich gut, in die Gegend will ich auch. Ich werde eine Droschke holen, wir packen das Fräulein, das Sie zu kennen scheinen, hinein und fahren zu Ihren Eltern, die schnell eine ärztliche Hilfe herbeiholen müssen.« Mit diesen Worten war er verschwunden. Ich dankte der Frau, daß sie uns bei sich aufgenommen habe, streichelte Sophie und versicherte sie, die Eltern würden sich so sehr freuen, sie wiederzusehen. Sie sagte noch gar nichts, sah erschreckend bleich aus und faßte immer wieder nach dem Fuß.

Dann kam die Droschke. Der Unbekannte bat Sophie, sich auf ihn zu stützen und zu versuchen, mit dem Fuß aufzutreten. Sie konnte aber nicht, sondern stöhnte leise. Mit des Fahrers und des Fremden Hilfe wurde sie in den Wagen gebracht, sorgsam hingelegt, wir beide saßen auf dem Rücksitz und so fuhren wir ab. Mir schlug das Herz mächtig, was würden die Eltern zu dem allem sagen!

Nach einer etwa viertelstündigen Fahrt hatten wir die Königsstraße erreicht. Da sah ich den Vater mit den beiden Schwestern auf der Straße. Ich klopfte ans Fenster und winkte. Sie sahen mich und kehrten verwundert um. Nun waren wir da, Gott sei Dank.

Der fremde Herr sprang zuerst heraus, teilte Vater mit kurzen Worten den Unglücksfall mit, und die beiden Herren trugen Sophie die Treppe hinauf.

Die Schwestern waren vorausgeeilt und hatten alles der staunenden Mutter gemeldet. Die stand in der offenen Tür mit den Worten: »Arme Sophie, so kommst du wieder!«

Man legte die Verunglückte auf Mutters Liegesessel, und eins von den Mädchen wurde schnell zum Arzt geschickt. Die Eltern hatten kaum Zeit, dem freundlichen Helfer zu danken, so schnell hatte er sich aus dem Staube gemacht. Wie froh war ich aber über diese Begegnung. Was hätte ich wohl allein mit Sophie in dieser fremden Stadt anfangen sollen? Der Arzt stellte einen Knochenbruch am Fuß fest, richtete den Bruch ein und legte einen Gipsverband an. Sophie hatte mit großer Geduld alles mit sich vornehmen lassen, nun lag sie gänzlich erschöpft da mit geschlossenen Augen. Meine Mutter beugte sich über sie und drückte einen leisen Kuß auf ihre Stirn. Da öffnete sie die Augen, streckte der Mutter beide Hände entgegen und sagte nichts weiter als: »Mutter!« Und Mutter strich ihr Stirn und Wangen und versicherte sie ein ums andere Mal, wie sehr sie sich freue, ihr Kind wiederzuhaben. Da brach Sophie in bitterliches Weinen aus. Mutter suchte sie zu beruhigen, sagte ihr, je ruhiger und geduldiger sie sein würde, desto schneller würde der Fuß heilen. Zunächst werde sie sich aber auf ein paar Wochen Liegen gefaßt machen müssen. Sophie schloß wieder die Augen und lag eine Weile ganz still. Mutter bat mich, bei ihr zu bleiben, sie wolle ein Zimmer für sie herrichten, wo sie ungestört liegen könne. Ein kleines freundliches Gemach neben dem meinen, das als Gastzimmer dienen sollte, wurde für Sophie eingerichtet, und als es gut durchwärmt war, wurde sie hinübergetragen.

Als Mutter sie fragte, ob sie bequem liege, und ob es ihr hier gefalle, nickte sie mit dem Kopf. Aber plötzlich fuhr sie auf und rief laut: »Ich kann nicht hierbleiben, ich muß zu Frau von Drucker zurück. Sie erwartet mich, sie ist ja ganz allein!« Nun erst kam es uns zum Bewußtsein, daß sie in Stellung war, daran hatte für den Augenblick niemand gedacht. Natürlich mußte die Dame benachrichtigt werden.

Es wurde hin und her beratschlagt, ob geschrieben oder mündliche Nachricht gegeben werden solle. Vater meinte, da mit einer Dame zu unterhandeln sei, wäre es besser, wenn Mutter gehe. Die schlug vor, mich mitzunehmen, da der Weg weit und es angenehmer sei, eine Begleitung zu haben. Mutter sagte Sophie, die immer noch sehr aufgeregt und unruhig war, sie solle sich keine Sorge mehr machen, sie selbst würde die Angelegenheit in Ordnung bringen. Vater würde unterdes bei Sophie bleiben.

Nun sind die Schwestern mit ihren Schularbeiten fertig. Ich schrieb gern noch ein wenig weiter, aber ich habe Sophie versprochen, mit Thildchen und Olga zu ihr zu kommen, wenn sie mit dem Lernen fertig seien. Sophie erträgt das Liegen mit großer Geduld und ist glücklich, wieder daheim zu sein, besonders da sie nun frei vom Dienst ist. Das gab aber noch eine große Geschichte, in der ich eine Hauptrolle spiele. Morgen soll sie erzählt werden.

am 13. Dezember

Heute komme ich erst wieder in später Abendstunde zum Weiterschreiben. Es gab den ganzen Tag zu tun. Gegen Abend, als ich meinte, ein Stündchen frei zu haben, klopfte es, und Gundchen erschien. Ich verzichtete gern auf das Schreiben; Gundchens Besuch ist mir immer lieb. Sie erzählte mir, daß sie vor einigen Tagen Besuch von einem Onkel gehabt hätten, aber nur kurze Zeit, da er auf der Durchreise begriffen war. Zu Weihnachten hoffe er auf acht Tag zu kommen, worauf sie sich sehr freue, da sie diesen Onkel besonders gern habe. Ich glaube, er ist ein Bruder von Tante Lisa. Nun, ihr werdet ihn dann vielleicht auch kennenlernen.

Heute will ich nun von meinem Ausgang mit Mutter berichten; ich muß es gleich, da es noch frisch im Gedächtnis ist, dem Büchlein anvertrauen, es war ein Erlebnis, das man nicht alle Tage hat.

Es war um die Nachmittagszeit, als Mutter mit mir die Wohnung verließ. Wir fuhren erst ein großes Stück mit der Straßenbahn, dann gingen wir noch lange zu Fuß, bis wir in die Kronenstraße kamen, wo Frau von Drucker wohnen sollte. Wir suchten nun die von Sophie angegebene Nummer auf und betraten das Haus. Im Erdgeschoß standen mehrere Frauen zusammen und suchten eine alte Dame zu beschwichtigen, die laut auf ihre Hilfe schalt, die sie am Morgen verlassen habe, um Einkäufe zu machen, die aber bis jetzt nicht wiedergekehrt sei. Sie habe ein Zwanzigmarkstück zum Wechseln bekommen und sei damit verschwunden, es sei kein Verlaß mehr auf die Menschen.

Ruhig trat Mutter auf sie zu und sagte, sie bringe ihr die zwanzig Mark, ihr Mädchen habe ein Unglück gehabt und liege mit gebrochenem Fuß da.

»Ja, was soll denn da mit mir werden, gute Frau«, sagte die Dame und öffnete uns die Tür zu ihrer Wohnung.

»Es tut uns sehr leid«, erwiderte Mutter, »daß es so ist, aber es steht nicht in unserer Macht, es zu ändern. Meine Tochter muß wochenlang liegen, ich bin gekommen, das Verhältnis zu lösen.«

»Was soll denn nun aus mir werden, gute Frau?« sagte die alte Dame in höchster Aufregung. »Ich war froh, daß ich das Fräulein hatte; sie war geschickt, wirtschaftete sparsam und war kräftig.«

»Sie werden gewiß eine gute Stütze wiederfinden, Frau von Drucker«, sagte Mutter, die es eilig hatte und gerne so schnell wie möglich wieder nach Hause wollte.

»Meine gute Frau«, war die Antwort, »Sie kommen noch nicht so leichten Kaufs davon. Sie müssen mir sofort einen Ersatz stellen, glauben Sie, daß ich mir das alles gefallen lasse?«

Sie hatte mich, während sie sprach, scharf ins Auge gefaßt.

»Dies junge Mädchen ist groß und kräftig, ich werde es einstweilen als Ersatz dabehalten.«

»Das geht nicht so«, sagte meine Mutter lächelnd, während ich einen gewaltigen Schrecken bekam. Und doch war mir die Sache interessant, es war etwas Neues, ich, als Stütze der Frau von Drucker. Es wurde nun über mich verhandelt, während ich gespannt den Ausgang der Geschichte abwartete.

Mich ganz dazulassen, ginge auf keinen Fall, erklärte meine Mutter auf das bestimmteste; ich sei noch zu jung und unerfahren, verstände noch lange nicht alles, was zu einer solchen Stellung gehörte. Da aber die Dame augenblicklich in Not sei, wolle sie mich einen Tag hergeben, Frau von Drucker möge sich nur schleunigst nach jemand anders umsehen, auch Mutter wolle versuchen, eine zu finden.

Die Dame grollte noch in sich hinein, war aber einstweilen beschwichtigt in der Aussicht, die Nacht nicht allein bleiben zu müssen. Mir wurde etwas schwül zumute, als meine Mutter sich zum Fortgehen rüstete und sagte: »Mein Kind, wir wollen die Dame nicht allein lassen. Tue dein Möglichstes, Sophie zu vertreten, morgen abend wirst du wieder abgeholt.«

»Mutter«, rief ich, »ich weiß nicht, ob ich es kann, nimm mich lieber wieder mit!«

»Ich würde es auch lieber tun, als allein nach Hause gehen, aber so gut Sophie hier schon längere Zeit ausgehalten hat, wirst du es wohl einen Tag machen können.« Mutter sah ernst und bestimmt aus. Wenn sie das Gesicht hat, darf man nicht widersprechen. Ich nahm also Abschied von ihr, und als die Tür sich hinter ihr schloß, war es mir, als stünde ich ganz allein in der Welt.

»Nun stehen Sie nur nicht und träumen. Ich habe lange genug gehungert. Zum Kaffeetrinken ist es nun zu spät, machen Sie uns den Tee, schneiden Sie einige Butterbrote dazu und decken Sie dann den Tisch hier.«

Zur Teebereitung war kochendes Wasser nötig, so viel wußte ich schon, aber wo war die Küche? Die wurde mir auf mein schüchternes Fragen gezeigt; ich fand Kohlen und Holz nach langem Suchen, auch Streichhölzer, und versuchte, Feuer unter dem Kessel zu machen. Es wollte gar nicht gelingen. Als drei Versuche mißglückt waren, hörte ich die alte Dame mit eiligen Schritten kommen.

»Nun? Kocht das Wasser bald? Gerechter Himmel, Sie haben noch kein Feuer? Und wollen eine Stütze sein? Gehen Sie nur, ich will es selbst tun. Demütig stand ich daneben und paßte auf, wie die alte Dame es machte.

»Sie sind wohl Schoßkindchen zu Hause? Mutter macht wohl alles selbst?« fragte sie.

»Wir haben hier zwei Dienstmädchen und zu Hause noch mehr, daher habe ich das noch nicht gelernt«, antwortete ich bescheiden. Sie horchte hoch auf, machte aber dann ein so ungläubiges Gesicht, als wollte sie sagen: »Solche jungen Mädchen machen einem oft etwas weis.«

»Gehen Sie doch gleich einmal zum Bäcker und holen Sie ein Brot. Er wohnt hier in der Straße und heißt Weber.« Ich nahm das Geld an und ging. Die Straße war lang, es war schon dunkel, und die Laternen brannten. Alles war mir fremd und unbekannt. Endlich entdeckte ich einen Bäckerladen, kaufte schnell das Gewünschte und ging zurück. Das Feuer brannte hell, der Teekessel fing schon an zu summen. Frau von Drucker besah das Brot von allen Seiten, sah mich scharf an und fragte: »Ist das Brot von Bäcker Weber?«

»Ob er Weber heißt, weiß ich nicht, er wohnt oben in der Straße, links von diesem Hause.«

»Und Bäcker Weber wohnt unten in der Straße, rechts von diesem Hause. Gehen Sie, bitte, und tragen das Brot wieder hin, wo Sie es hergeholt haben, und holen Sie mir eins vom Bäcker Weber.«

Das Wort »Weber« schrie sie mir in die Ohren. Mir saßen die Tränen schon lose, aber ich beherrschte mich und ging. Es war mir sehr unangenehm, das Brot wieder hinzutragen. Ich mußte mir eine spitze Bemerkung von der Bäckersfrau gefallen lassen. Sie warf mir das Geld hin, und ich kaufte nun bei dem richtigen Bäcker das Brot.

»Immer hübsch aufmerken auf das, was man sagt, dann braucht man nicht zweimal zu gehen«, sagte die alte Dame. Dies Wort will ich mir für mein Leben merken.

»So – den Tee habe ich aufgegossen, nun schneiden Sie Butterbrote und legen von dieser Wurst darauf.« Mit diesen Worten ging Frau von Drucker ins Zimmer, und ich machte mich an die Arbeit. Vier Scheiben hatte ich abgeschnitten, da – bei der fünften glitt das Messer ab und fuhr mir in den Finger. Auch das noch! Das Blut sickerte heraus; ich suchte es mit Wasser zu stillen. Vergebens! Wenn ich nur ein Fleckchen Leinwand gehabt hätte. Sophiens Zimmer wußte ich, da Mutter noch einige Sachen für sie mitnehmen mußte. Also lief ich schnell dahin, um mir irgend etwas zu suchen, was ich um den verwundeten Finger tun konnte. Ich durchstöberte die Kommodenfächer, wunderte mich über die feine Ordnung darin, fand aber nicht, was ich wünschte. Endlich im untersten Fach links ein kleines Bündel alter Leinwand, in diesem Augenblick für mich Goldes wert!

Eine schrille Stimme rief an der Tür: »Wird's bald? Das währt ja eine Ewigkeit!«

»Gleich, gleich«, schrie ich vor Angst, verband den Finger so gut es ging und machte mich an die Butterbrote. Endlich waren sie fertig. Ich deckte den Tisch. Das war mir etwas Bekanntes, weil ich es oft zu Hause tun mußte. Es ging nur alles nicht so gut mit dem Finger, den ich sorgfältig zu verbergen suchte. Endlich war alles bereit, der Tee aufgetragen, die Butterbrote hineingebracht.

»Wer soll denn die dicken Schnitten essen? Verstehen Sie noch nicht, feine Butterbrote zu richten?«

Ich wurde ganz rot. Ich hätte es mir wohl denken können, aber die Angst, weil es schnell gehen mußte, hatte das Messer etwas zu tief ins Brot getrieben. »Ich hole Ihnen andere, gnädige Frau«, sagte ich, »die will ich wohl essen.«

»Den ganzen Teller?. Nein, das bilden Sie sich nicht ein. So geht's nicht. Dann würden Sie mich bald arm essen. Nein, ich will mir heute die Zähne daran abbeißen, aber künftig bitte ich um andere. Stecken Sie doch Ihre Hände nicht unter den Tisch, es macht mich nervös. Was haben Sie denn da gemacht? Gleich den ersten Tag ein Loch geschnitten? Das fängt gut an.«

Sie schien mich ganz als jemand zu betrachten, der willens war, bei ihr zu bleiben. Und ich sehnte schon jetzt den Augenblick herbei, da mein Vater kommen würde, mich zu holen. Einen Tag wollte ich es ja gern aushalten. Nachdem ich das Teegerät weggeräumt und die Tassen gewaschen hatte, mußte ich vorlesen. Zwei volle Stunden! Auch dabei gab es Rügen. Bald las ich zu leise, bald zu laut, bald war es zu schnell, bald zu langsam. Was ich gelesen habe, weiß ich nicht, ich mußte immer wieder an unser liebes trautes Heim denken. Und als ich im Bett lag, da übermannte es mich, da kamen die Tränen. Mir fehlte die Mutter so. Heute würde sie sicher für mich beten, das wußte ich, dieser Gedanke gab mir Ruhe und Frieden. Ich sah die Sache von einer andern Seite an; Mutter sagt immer, wir müssen gern für andere etwas tun. Jetzt nahm ich mir vor, das, was ich für Sophie tue, mit Liebe zu verrichten und die Wunderlichkeiten der alten Dame, die gewiß durch das Unglück doppelt aufgeregt war, mit Geduld zu tragen. Und noch eins fiel mir ein, was mich freudig und dankbar stimmte. Ich hatte den lieben Heiland jeden Abend gebeten, er solle machen, daß Sophie zu Weihnachten wieder bei uns sei. Hatte er nicht mein Gebet erhört? Ich dankte ihm von Herzen dafür, bat ihn zu helfen, daß meine Eltern nicht vergäßen, mich hier wieder abzuholen, und schlief ein.

Am andern Morgen weckte mich eine schrille Glocke gerade über meinem Bett. Ich fuhr erschreckt in die Höhe und konnte mich gar nicht besinnen, was es bedeute. Ich machte Licht und sah, daß es sechs Uhr war. Nun da ich mich umsah, wurde ich gewahr, daß ich nicht in meinem Zimmer lag. Meiner Mutter Bild hing zwar über meinem Bett, aber es war ja Sophiens Bett; die Ereignisse des vorigen Tages fielen mir alle wieder ein. Ich sprang schnell aus dem Bett, kleidete mich an, was wegen des Fingers herzlich schlecht ging, und eilte in die Küche, um Feuer zu machen. Es ging schon besser, obschon die Hände steif gefroren waren. Nun mußte das Zimmer in Ordnung gebracht werden. Der Ofen mußte geheizt, der Kaffeetisch gedeckt werden, was gab es alles zu tun! Ich mußte Sophie bewundern, daß sie sich diesen Arbeiten so willig unterzogen hatte. Ein paarmal rief die gnädige Frau aus dem Bett, ich solle etwas leiser sein, solle nicht mit dem Besen poltern usw. Da machte ich es, wie wir zu tun pflegen, wenn Vater Kopfschmerzen hat, ich ging auf den Fußspitzen und nahm mich sehr in acht, daß ich nicht mit den Tassen klirrte oder mit dem Kohlenschaufeln Geräusch machte. Ich hatte schon großes Verlangen nach einer Tasse Kaffee, aber die gnädige Frau erschien noch immer nicht. Plötzlich rief sie: »Nun wird's bald? Kommen Sie denn gar nicht, um mir beim Aufstehen zu helfen.«

Ich ahnte das nicht; sie hatte wohl vergessen, es mir zu sagen. Ich ging hinein und mußte mir manchen Tadel gefallen lassen.

»So, nun kommen die Haare dran«, hieß es, »können Sie frisieren? Das verstand Fräulein Sophie sehr gut.«

»Ich habe es noch nicht geübt«, sagte ich zaghaft und griff nach den Kämmen. Es mißriet mir jedoch gründlich, nach einigen vergeblichen Versuchen nahm sie mir die Kämme aus der Hand, sagte: »Sie kleines Schaf«, und hieß mich gehen. Ich hätte beinahe wieder geweint, aber der Gedanke, daß bald alles vorbei sei, ließ mich ruhig werden.

Der Kaffee war zu dünn geraten, und es war zu viel.

»Heben Sie ihn für sich zum Nachmittag auf«, sagte die Gnädige verstimmt.

»Gott gebe, daß der Vater mich dann schon geholt hat«, dachte ich.

»Zum Einkaufen schicke ich Sie nicht. Sie machen es dann vielleicht wie Ihre Schwester und kommen nicht wieder. Ich werde selbst gehen.«

Ich mußte unterdes in der Küche aufräumen, Kartoffeln schälen, meine Stube in Ordnung bringen, was alles mit dem zugebundenen Finger schlecht ging. Zu Mittag gab es einige Kalbsrippchen zu braten, die leidlich gerieten. Aber das Waschen der Teller und Schüsseln machte sich auch schlecht mit der Wunde. Wer sollte es aber sonst tun? Es war ja niemand da. Frau von Drucker hielt lange Nachmittagsruhe, und ich lauschte auf jedes Geräusch an der Tür, immer hoffend, mein lieber Vater werde kommen. Wir setzten uns zum Kaffee, es dunkelte bereits, aber nichts ließ sich hören. Ob die alte Dame wohl nun jemand gefunden hatte, der Sophiens Stelle einnehmen könnte? Sie ließ sich nichts merken. Vielleicht würde sie mich gar nicht gehen lassen. Wenn ich auch noch sehr unvollkommen bin und recht ungeschickt, dachte ich, so bin ich doch immerhin eine Hilfe und eine Gesellschafterin. Dieser Gedanke! So kurz vor Weihnachten noch als Stütze der Hausfrau eintreten zu müssen, und Matthias und Christian zu Hause zu wissen!

»So reden Sie doch und machen Sie nicht ein so verzweifeltes Gesicht. Was ist Ihnen, haben Sie Schmerzen?«

Da – ein starkes Läuten an der Türe. Ich eilte hinaus, öffnete und lag in den Armen meines Vaters. »Vater«, rief ich, und Schluchzen erstickte meine Stimme.

»Ruhig, mein Töchterchen, ruhig, wir holen dich und Sophiens Sachen.« Friederike, unser Hausmädchen, stand hinter Vater und lachte mich vergnügt an.

»Was geht hier vor?« rief Frau von Drucker, stutzte aber, als sie meinen Vater erblickte und das Mädchen hinter ihm. Er sagte, unten warte ein Wagen, er sei gekommen, seiner Tochter Sachen zu holen. Friederike solle mit mir alles möglichst schnell zusammenpacken, ein Koffer stehe in Sophiens Stube, habe sie gesagt.

»Mein Herr, ich habe noch keinen Ersatz«, erwiderte Frau von Drucker.

»Aber ich, gnädige Frau. In einer halben Stunde wird ein junges Mädchen kommen, die uns als sehr tüchtig empfohlen ist von unserem jetzigen Hauswirt. Ich denke, sie wird Ihnen genehm sein, sie ist aus guter Familie und hat die besten Zeugnisse.«

Dagegen ließ sich nichts sagen.

Stumm ließ sie es geschehen, daß wir Sophiens Sachen einpackten, stumm verneigte sie sich, als wir gingen, es schien, als habe meines Vaters Erscheinung sie verblüfft. Ich tat einen tiefen Seufzer, als wir in der Droschke saßen, es war ein Seufzer großer Erleichterung. Mein Vater lachte und sagte: »Nun, du Mädchen für alles, das war die erste Stelle. Gut, daß wir dich wiederhaben.«

Als wir zu Hause angelangt waren und ich im Kreise der Meinen saß, da überkam mich ein unbeschreiblich glückliches Gefühl.

Mutter sagte, der kleine Ausflug sei mir ganz gut gewesen, ich würde nun doppelt dankbar sein für alles Gute, was ich daheim habe. Ich habe aber auch gemerkt, wieviel ich noch lernen muß, um brauchbar zu sein. Diese Tage werden nie aus meinem Gedächtnis schwinden. Ich bewundere immer wieder Sophie, die es hier schon so lange ausgehalten hat und gewiß noch länger geblieben wäre, wenn dieser Unglücks- oder vielmehr Glücksfall sie nicht wieder in unsere Mitte geführt hätte. Ich wollte gleich zu ihr, aber Mutter hielt mich zurück, da sie gerade schlief.

So – nun habe ich dies mein wichtigstes Erlebnis aufgezeichnet. Darüber ist es recht spät geworden. Zum Glück hat niemand gemerkt, daß ich noch auf bin, sonst hätte ich gewiß Schelte bekommen. Aber Schelte von den Eltern sind nicht so bitter wie Rügen von Fremden, die haben mich zum Teil bis ins innerste Herz getroffen, besonders das eine: »Sie kleines Schaf.«

 


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