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In der Heimat

Grüneichen, am 15. August

Nun sind wir wieder daheim! Heute ist noch ein Ferientag für mich, den will ich gleich nutzen, um Versäumtes nachzutragen. Es war in den Ferien so schönes Wetter. Vater fühlte sich immer wohler und kräftiger, da haben wir vielerlei unternommen, weite Spaziergänge, Wagenfahrten und dergleichen. Ich war abends gewöhnlich so müde, daß ich keine Lust hatte, ins Tagebuch zu schreiben. Auch fürchtete ich immer, die Brüder möchten mich einmal dabei überraschen, da sie unberechenbar sind; so hielt ich mein Geheimnis im Schrank verschlossen. Nun sind Christian und Matthias wieder in der Schule und lernen fleißig. Ich entbehre sie sehr, wenn sie mich auch immer ein wenig necken.

Wir verlebten, wie ich schon sagte, schöne Tage. Adelgund und ich haben uns recht miteinander angefreundet, obgleich sie im ganzen etwas Stilles, Verschlossenes hat. Das bezieht sich auch auf ihre Berichte über das Elternhaus; sie kann sonst ihre Freude und ihren Dank in sehr lebhafter Weise äußern. Ich hätte gern mehr gewußt von ihrer Heimat, vom Leben mit den Eltern, aber sie wurde immer einsilbig, wenn die Rede darauf kam; Mutter meinte es auch. Mit der alten Dame kamen wir wenig zusammen. Wir mochten sie nicht auffordern, uns zu besuchen, da Vater es nicht liebt; wenn wir uns draußen trafen, war sie immer sehr dankbar, daß wir uns Gundchens annahmen, wich aber entschieden aus, wenn wir auf Gundchens Elternhaus zu sprechen kamen. Nur einmal sagte sie: »Es ist schlimm für das arme Kind, daß sie nur einen älteren Bruder hat, der allerdings sehr gut zu ihr ist.«

»Aber sie hat doch Freundinnen«, sagte meine Mutter. »Eigentlich keine«, war die Antwort, »die Eltern haben so oft den Wohnort gewechselt; war sie an einem Ort warm geworden, mußte sie wieder mit ihnen weiterziehen.«

Nach all diesen Äußerungen denke ich mir, daß Gundchen nicht ganz glücklich ist, daß sie vielleicht von ihren Eltern nicht so viel hat, als ich von den meinen. Ich will nur immer recht dankbar sein. Als meine Eltern eines Tages sagten, am zehnten August solle gepackt werden, und am elften ginge es heim, freute ich mich ebenso wie damals, als es hieß: »In acht Tagen geht's ins Bad.« Ich freue mich immer, wenn es etwas anderes gibt. Mutter meint, das liegt in der Jugend, die liebt den Wechsel. Beim Einpacken wurde der Mutter angst. Die Brüder brachten unendlich viel, was sie nicht mitnehmen wollte; Raupen, Puppen, Käfer, Schmetterlinge und Steine in Unmassen, ich hatte doch nur getrocknete Gräser und Blumen. Endlich einigte man sich dahin, daß ein eigener Kasten zu allen diesen Dingen genommen werde, und daß Matthias und Christian sich verpflichteten, für die Beförderung dieses Kastens selbst zu sorgen. Wir machten die Hälfte der Fahrt mit ihnen zusammen, brachten sie selbst in ihre Pension zurück und übernachteten im gleichen Ort, um am andern Tag weiterzufahren.

Matthias und Christian besuchen das Gymnasium einer mittelgroßen Stadt und sind, wie ich schon früher erwähnte, bei zwei älteren Damen untergebracht. Die sorgen treu für ihr leibliches Wohl, auch sind sie sonst gut bei ihnen aufgehoben. Als wir die Brüder bei ihnen ablieferten, hatte ich den Eindruck, daß Christian und Matthias große Achtung vor ihnen haben. Sie nahmen beim Eintritt in das Haus eine straffere Haltung an, waren sehr höflich und aufmerksam, sogar gegen mich. Ich bemerkte, daß Fräulein Klara den Kasten, den Matthias trug, mit mißtrauischen Blicken betrachtete. Sie kam immer näher, tippte mit dem Finger darauf und fragte halblaut: »Was ist das?«

»Es sind einige naturgeschichtliche Studien, Fräulein Klara; ich bringe alles so unter, daß es Sie nicht belästigt.«

»Die ganze Stube ist ja schon angefüllt mit diesem Gewürm. Wenn es nur nicht vom Lernen abhält«, sagte die alte Dame, worauf beide versicherten, sie hätten den besten Willen, in diesem Halbjahr sehr fleißig zu sein. Ich ging mit den Brüdern hinauf und half ihnen die Sachen einräumen. Mutter kam dann auch, sah, ob alles ordentlich sei, und ermahnte die Brüder treu und fleißig zu sein, Gott immer vor Augen und im Herzen zu haben. Mutter kann gar schön mit uns sprechen, sie kann so gute Vergleiche machen, es geht alles zu Herzen, was sie sagt. Es fällt den Eltern immer schwer, sich von den beiden zu trennen. Bis zum vorigen Jahr hatten wir einen Hauslehrer, von dem auch ich unterrichtet wurde, dann mußten Matthias und Christian aufs Gymnasium. Auf die Ferien freuen sie sich immer sehr, bringen auch mitunter Freunde mit, was diesmal natürlich nicht ging.

Am andern Morgen fuhren wir weiter, der Heimat zu. Wir kamen erst in der Dunkelheit an. Heinrich, unser alter Kutscher, war an der Bahn. Er strahlte über das ganze Gesicht, als er uns erblickte.

»Alles wohl zu Hause, Heinrich?« fragte der Vater und schüttelte ihm die Hand.

»Jawohl, Herr Mersburg«, war die Antwort. Die Koffer waren bald aufgeladen und fort ging's auf dem wohlbekannten Weg, der vom Bahnhof in einer Viertelstunde nach Grüneichen führt. Bald sahen wir die Lichter des Dorfes und des Herrenhauses auftauchen, mir schlug das Herz. Jetzt ging's durch das große Hoftor, nun um den Rasenplatz herum, da hielt der Wagen.

Die Haustür war schon längst geöffnet; wir konnten auf den erleuchteten Hausflur sehen, wo alle Leute standen, meine kleinen Schwestern in weißen Schürzen voran. »Mutti«, riefen sie beide wie aus einem Munde, und da lagen sie auch schon in ihren Armen.

Auch unsere erwachsene Pflegeschwester begrüßte die Eltern, ebenso Fräulein Schwabe, die Erzieherin, Fräulein Friedchen, die Wirtschafterin, und die Mädchen. Für alle hatten Vater und Mutter freundliche Worte, und aller Augen leuchteten, als Mutter ihnen die Hände schüttelte. Dann ging es in das schöne große Eßzimmer, wo der Abendtisch gedeckt war. Wie weit und luftig kam mir alles vor gegen die Zimmer in der »Post«, wie gut gefiel es mir wieder zu Hause!

Sophie trat an den Tisch, um den Tee zu bereiten. Meine Pflegeschwester ist ein sehr hübsches Mädchen mit großen dunklen Augen und von schlankem Wuchs. Sie ist der Mutter eine große Hilfe im Hause, alles was sie angreift, gerät wohl; sie ist praktisch und im Haushalt erfahren, so daß Mutter ihr das Haus ruhig anvertrauen konnte. Fräulein Friedchen hat die Außenwirtschaft, sie kann sich nicht viel um unsern Haushalt bekümmern.

Von Sophie weiß ich nur, daß sie als ganz kleines Waisenkind von den Eltern angenommen worden ist. Sie ist viel krank gewesen, Mutter hat sie aber so treu gepflegt und sie täglich gebadet, bis sie kräftiger und zuletzt ganz gesund geworden ist. Wie schwer muß die Mutter es in den ersten Jahren nach ihrer Verheiratung gehabt haben mit diesem kranken Kind und ihrer kranken Pflegemutter, die bei uns gestorben ist. Aber Mutti sagt nie, daß ihr etwas schwer wird, sie tut alles so gern für andere. Sophie ist auch gut, aber sie besitzt einen großen Stolz. Ich weiß auch, woher es kommt, sie hat mir einmal etwas anvertraut, was ich nicht wieder sagen darf. Sie nahm mir das Versprechen ab, darüber zu schweigen, sonst hätte ich es Mutter doch gesagt, weil ich vor ihr kein Geheimnis haben mag. Diesem Buch kann ich es ja anvertrauen, da ich entschlossen bin, es niemandem zu zeigen.

Sophie wurde als zweijähriges Kind von den Eltern nach einer größeren Reise mitgebracht. Sie hat es später erfahren, daß sie ein angenommenes Kind ist, Mutter hat ihr gesagt, ihre Eltern seien tot, und als sie gefragt, wer sie gewesen, hat sie nur gesagt: »Deine Mutter war brav, daran laß dir genügen.« Da hat ihr vor längerer Zeit eine alte Frau aus unserem Dorfe anvertraut, sie habe ganz vornehme Eltern gehabt, ihr Vater sei ein Graf gewesen. Das ist ihr zu Kopf gestiegen. Sie hat einen Stolz und meint immer, es müsse etwas Besonderes mit ihr geschehen. Ich weiß ja nicht, ob es sich so verhält, fragen mag ich nicht, da ich Sophie versprochen habe, es nicht zu tun. Ich werde sie aber nächstens bitten, mich meines Versprechens zu entbinden, dann werde ich mir von meiner Mutter Klarheit über die Sache verschaffen. Ich mag es gar nicht, wenn sie den Kopf so wirft, eine hochmütige Miene annimmt und sich über uns alle erhaben fühlt. Es ist eigentlich nicht recht, daß sie es tut; sie hat den Eltern so viel zu verdanken.

Von meinen Schwestern läßt sich nicht viel sagen. Sie sind artige kleine Mädchen mit blonden Zöpfen und blauen Augen. Wir drei vertragen uns sehr gut; sie teilen mir alles mit, was sie Freudiges erleben, klagen mir aber auch ihre Nöte, wenn zum Beispiel Fräulein Schwabe sie auf die Finger schlägt oder sie längere Zeit stehen läßt, wenn sie ihre Aufgaben nicht gewußt haben. Am Abend unserer Ankunft sahen sie so niedlich aus in ihren blauen Kleidern und den weißgestickten Schürzchen. Sie durften auf dem Sofa sitzen, es war ein hübscher Anblick, Mutter in der Mitte, die kleinen Schwestern an jeder Seite, alle drei so glücklich.

Als ich später mit den Schwestern allein war, erzählte ich ihnen viel von meinen Erlebnissen, auch von meiner Freundschaft. Sie hörten alles mit großer Lebhaftigkeit an und freuten sich sehr über die kleinen mitgebrachten Geschenke. Als ich nun wissen wollte, was alles zu Hause während unserer Abwesenheit vorgegangen sei, sah Mathildchen Olga an und Olga Mathilde. Endlich flüsterte Thildchen: »Fräulein Schwabe hat sich mit Sophie erzürnt; sie reden nicht mehr zusammen.«

»An einem Abend haben sie sich sehr gezankt, Fräulein Schwabe will gar nicht mehr bei uns bleiben«, fügte Olga hinzu.

»Was sind das für Geschichten«, sagte ich, »ihr seid hoffentlich recht artig gewesen.«

»Ja, ich glaube«, meinte Thildchen, »aber wir freuen uns, daß Mutter wieder hier ist, nun dürfen sie doch nicht mehr garstig miteinander sein?«

Das war nach aller Freude über die Heimkehr nichts Schönes. Und doch empfand ich eine heimliche Lust, die beiden still zu beobachten und begab mich, nachdem die Kleinen gute Nacht gesagt hatten, ins Wohnzimmer. Vater, der in seinem Zimmer länger mit dem Inspektor zu reden gehabt hatte, sah verdrießlich aus, als er herüberkam und sich zur Mutter aufs Sofa setzte.

»Nun, ist alles gut gegangen während deiner Abwesenheit?« fragte Mutter freundlich.

»Das kann ich nicht behaupten«, war Vaters Antwort, »es hat manchen Verdruß mit den Leuten gegeben, es tut nicht gut, wenn man so lange auf Reisen ist.« Fräulein Schwabe und Sophie, die mit einer Handarbeit am Sofatisch saßen, wurden beide rot und bückten sich tiefer über ihre Arbeit.

»Ich bin mit meiner Haushälterin sehr zufrieden«, äußerte Mutter und reichte Sophie, die neben ihr saß, die Hand. »Sie hat mir schon die Rechnungsbücher vorgelegt, und das ganze Haus blitzt von oben bis unten.« Es schien, als ob ein Strahl der Freude über Sophiens Gesicht ging, aber es war nur wie ein Schein, sie zog gleich wieder die Stirne finster zusammen und setzte ihre hochmütige Miene auf.

»Ich weiß nicht, was es ist«, hörte ich Mutter zu Vater sagen, als beide gute Nacht gesagt und hinausgegangen waren, »ich habe mir den ersten Abend daheim schöner vorgestellt. Es herrschte heute eine gewittrige Stimmung, die sonst nicht in unserem Hause zu finden ist. Fräulein Schwabe hatte ein so mürrisches Gesicht, Sophie sah beleidigt aus, obgleich ich sie wegen ihrer Hausführung gelobt hatte.«

»Das Alleinsein ist ihnen nicht bekommen, wenn die weise Hausfrau fehlt, Frauchen.«

Ich hatte mich an Mutter geschmiegt und flüsterte ihr zu: »Ich weiß es, Mutter, die Schwestern haben es mir verraten. Sophie und Fräulein Schwabe haben sich arg gezankt.«

»Was! Bist du auch noch da, kleine Krabbe. Schnell ins Bett«, sagte mein Vater, der mich wohl gar nicht bemerkt hatte. Ich mußte nun natürlich gehen, hörte aber, wie Vater zu Mutter sagte: »Da sitzt also der Haken.«

Lange währte es, ehe ich einschlafen konnte. Das Heimkommen war nicht so, wie ich es mir gedacht hatte. Am andern Morgen, als die Sonne hell in mein Zimmer schien, war der Druck vom Abend verschwunden, es sah sich alles freundlicher an. Was bedeutete es schon, wenn zwei Menschen sich einmal gezankt hatten! Ich bin auch oft nicht einig mit meinen Schwestern; wenn wir uns nach einer Stunde wiedersehen, haben wir's vergessen und haben uns ebenso lieb wie vorher. Es wird mit Sophie und Fräulein Schwabe auch so gehen.

Ich hörte schon Vaters Stimme auf dem Hof; er ist immer zeitig auf und sieht nach dem Rechten. Auch der Mutter Schritte vernahm ich, denn obgleich Sophie ihr in der Wirtschaft hilft, ist sie doch überall und greift zu, wo es sein muß. Wir haben ein hübsches, großes Haus, das an drei Seiten von einem schönen Garten oder vielmehr Park umgeben ist. An einer Seite liegt der Wirtschaftshof mit seinen Gebäuden. Über den Garten hinweg sieht man von meinem Fenster aus einen klaren blauen See, der von einem Buchenwald begrenzt ist. Die Berge da unten im Badeort waren hübsch und etwas ganz Neues für mich, aber als ich am ersten Morgen nach der Reise aus dem Fenster sah und meinen Blick schweifen ließ über mein freundliches Heimatland, da meinte ich, es sei nirgends schöner als in Grüneichen.

Als ich hinunterkam, waren die Schwestern schon in der Schule, mich hatte man heute noch ausschlafen lassen, nächste Woche soll ich in die Wirtschaft eingeführt werden, bis jetzt gab es immer noch Stunden. Nach dem Kaffee ging ich durch Hof und Garten. Ich hatte auf dem Hof meine Freunde; der alte Melker freute sich, als er mich kommen sah, ich brachte ihm ein rotes Halstuch mit von der Reise, und er zeigte mir meine vierbeinigen Lieblinge, die sein Stolz waren. Auch Fräulein Friedchen stattete ich einen Besuch ab, sie war gerade beim Buttern; ich kündigte ihr an, daß ich es nächstens auch lernen würde. Dann bin ich ins Dorf gegangen, um meine Bekannten dort zu besuchen. Meine Spielgefährtinnen von früher sind alle fort, nur eine, die das Schneidern lernt, ist bei ihren Eltern. Ihre Großmutter, die alte Krusen, saß vor der Tür und schälte Kartoffeln.

»Guten Tag, Mutter Krusen«, sagte ich, »nun sind wir wieder da.«

»Guten Tag, Fräulein Annchen, nun, es ist schön, daß Sie wieder da sind. Fräulein Sophiechen hat aber alles gut besorgt, ist immer munter auf den Beinen gewesen.«

»Mutter hat sie auch sehr gelobt, weil sie so gut hausgehalten hat.«

»Ja, ja, sie kann schon etwas, hat's aber auch alles von der Frau Mutter gelernt. Na, es wird ihr auch schon einmal gut gehen in der Welt.«

»Es geht ihr doch jetzt schon gut«, konnte ich nicht umhin zu sagen, es ärgerte mich ein wenig, daß Mutter Krusen sie so hochmütig gemacht hatte. Aber es wird sich wohl alles zurechtziehen. Wenn die Eltern das Haus regieren, geht alles seinen guten Gang, außer wenn der Vater seine nervösen Kopfschmerzen hat. Aber das sind ja nur Ausnahmetage.

Von meiner lieben Heimat hätte ich noch manches zu erzählen, doch muß ich es mir für ein andermal aufheben, jetzt rufen die Schwestern, ich soll mit ihnen aufs Feld fahren, es wird Weizen eingeholt.

 


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