Rudolf Huch
Wilhelm Brinkmeyers Abenteuer
Rudolf Huch

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Das neunzehnte Kapitel

Wie ich mich ganz dem Apollon und seinen neun Musen, auch der reinen Menschlichkeit geweiht habe, woraus mir aber lauter Ungemach erwuchs

Der Besitzer dieses Etablissements war ein stilles Männchen, das gern im Hinterhalt blieb und sich hinsichtlich der Ordnung im Saal auf seine drei Hausdiener verließ. Der nun hatte ein solches Zutrauen zu mir gewonnen, daß er gar keine Probe meiner Kunst hören wollte. Er stellte nur die Bedingung, daß ich mich auf die sechs Monate verpflichtete und ihm versprach, die äußerliche Ordnung der drei Hausdiener im Sinne einer höheren Geistigkeit zu überwachen. Ich hinwiederum stellte eine Gehaltsforderung, die mir selbst in meiner kindlichen Bescheidenheit fast unverschämt vorkam. Als sie nun ohne weiteres bewilligt wurde, war ich ganz verdutzt, ja ich fühlte mich gleichsam innerlich beschämt. So wenig war ich guter Junge mir meines Wertes bewußt!

Da man den Geiger bereits der Freiheit beraubt hatte, mußte ich meinen Beruf schon diesen Abend ausüben. So sollte denn zunächst der 278 Klavierspieler in den Saal gerufen werden, damit wir uns gegenseitig in unsere künstlerische Eigenart einspielten. Indessen fanden wir ihn schon dort, im Begriffe, sich vermittelst einiger von der letzten Nacht her übrig gebliebenen Weinreste zu neuen Improvisationen anzufeuern.

Als ihm nun der Wirt, denn die Frauenzimmer hatte der nicht wollen mitnehmen, klargemacht hatte, um was es sich handelte, und sich hierauf eiligst an seine sonstigen Geschäfte begeben hatte, stieß der Künstler ein bitteres Gelächter aus, so daß ich in ihm einen von der genialen Art erkannte.

Darauf lief er wie ein Pferd im Training rund im Kreise herum und beklagte sich über gewisse Verhältnisse, die mich weiter nichts angingen, so daß ich mir meinen Musenkollegen in aller Gemächlichkeit betrachten konnte.

Er war hellblond und hatte eine bleigraue Gesichtsfarbe, die übrigens zum Teil von seinen Lebensgewohnheiten herkam, wie ich ihn denn auch hin und wieder ganz wohl gewaschen gesehen habe, dazu einen sogenannten Ziegenbocksbart. Endlich hatte er wasserblaue Augen, die er beständig auf das gewaltsamste rollte, so daß man immer ein Stück vom weißen sah, rechts oder links oder oben oder unten.

Nachdem ich mich hieran sattgesehen hatte, fragt ich ihn, ob es ihm genehm sei, daß wir uns an unser Werk machten. Er schoß auf mich zu, 279 gleichsam als wäre das Rößlein durchgegangen, kam aber dicht vor mir zum Stehen und kreischte mich an: Mit mir wollen Sie spielen? Sie? Mit mir? Worauf er denn in ein unbegründetes und mir deshalb töricht erscheinendes Gelächter ausbrach.

Da ich nun wahrnehmen mußte, daß er einen außergewöhnlich billigen Knaster zu rauchen pflegte und Käse gefrühstückt hatte, dazu der Dunst des fuseligen Weines aus seinem Rachen mir die böse Erinnerung an meinen Eintritt in das Haus auffrischte, stieß ich ihn von mir, so gut es meine Schwäche erlaubte, und antwortete, es wäre nicht mein Wille, sondern mein böser Dämon, der mich zu diesem Konzert zwänge, und wenn mir nicht, wie er es aus der Kompresse auf meinem Schädel entnehmen könne, vorläufig noch jede geistige Anstrengung verboten wäre, so würde ich ihn über die Grundlehren des Platon im allgemeinen und im besonderen über Wesen und Art meines Dämon des näheren unterrichten; behielte mir das also für bessere Zeiten vor.

Die Entdeckung, daß er in mir einen Platoniker zu verehren hatte, traf den Virtuosen wie ein Donnerschlag. Er kam zu Falle und hat sich von da an stets kollegialisch benommen.

Wir spielten ein Konzert von Gluck miteinander und zwar, wie sich von selbst verstand, ohne Noten. Danach drehte er sich auf seinem Klaviersessel um, starrte mich an und sagte endlich mit einem für mich höchst schmeichelhaften 280 Augenrollen: Also auch ein Unsterblicher und auch von der harten Mitwelt verstoßen?

Nachdem ich das nun der Wahrheit gemäß bestätigt hatte, wollte er mich umarmen, was ich indessen nicht zuließ. Er meinte denn auch selbst, eine Umarmung unter Männern sei in der Tat nichts besondres. Was einem verkannten Genius das Leben erträglich machen könnte, sei einzig und allein die Liebe eines edeln Weibes. Zu unserm Glück besäßen edle Frauen einen untrüglichen Blick für wahre Größe. Ich konnte ihm auch dies nach meinen Erfahrungen bestätigen. Er bat um die Erlaubnis, mir etwas vorzuphantasieren, worin ich ihm denn auch grade nichts in den Weg legen wollte. Indessen war er dermaßen zerstreut, daß er mir den Walzer »An der schönen blauen Donau« vorspielte und behauptete, dies hätte er improvisiert. Ich diente ihm dagegen mit einer heroisch-romantischen Flötenballade aus dem Stegreif. Das floß mir damals nur so zu. Da sich die Welt nicht um mich kümmerte und ich zu stolz war, mich ihr aufzudrängen, habe ich es unterlassen, die Geschenke meiner Muse zu Papier zu bringen. Ich bin ein alter Mann und habe den Lohn für meine Bestrebungen niemals anderswo als in meinem eigenen Bewußtsein gefunden, Ehre und Ruhm aber für eitel Rauch und Dunst gehalten. Mir ist es nur um die Nachwelt, die nichts an mir gesündigt hat und sich durch den Undank meiner Zeitgenossen um einen nicht grade geringen musikalischen Genuß betrogen sieht.

281 Da ich nun im schönsten Fantasieren war, schlüpfte eine Frauengestalt zur Tür herein, in der ich meine gute alte Jolanthe erkannte. Mein Mitvirtuos gab ihr durch Augenrollen zu verstehen, hier geschehe etwas außerordentliches, das sie still zu verehren habe. Sie blieb denn auch an der Tür stehen und faltete die Hände. Ich sah an ihrer rechten und linken Backe je eine Träne herunterrollen und in ihre Bluse tropfen. Das gute Mädchen hatte wohl nicht die Mittel, viel für ihre Garderobe auszugeben. Ihre Bluse war dermaßen verschossen, daß niemand hätte sagen können, von welcher Farbe sie vor Jahren einmal mochte gewesen sein, hatte keine andere Form als etwa die eines vielgebrauchten Sackes und wies eine Anzahl von Löchern auf, so daß man die Fülle, oder um genau zu berichten, die Ueberfülle des Busens gar deutlich darunter wahrnahm. In dem Maße nun, wie meine Musik immer schmelzender wurde, tropften Jolanthes Tränen reichlicher in diese Bluse hinein, sodaß aus dem Tropfen bald ein stetiges Fließen wurde und ich die Bluse am Ende rechts und links durchnäßt sah. Dieser Anblick überwältigte mich dermaßen, daß ich plötzlich innehielt, mich ans Fenster stellte und tief betroffen über die Zaubermacht meiner Flötentöne nachdachte.

Indessen hatt ich gleich einen noch stärkeren Zauber zu verehren. Als ich mich nämlich umwandte, sah ich, daß Jolanthe sich dem Genius auf den Schoß gesetzt hatte und sich auf das 282 innigste mit ihm abküßte. Der allgewaltige Eros mußte sie ihres Geruchsinnes ganz beraubt haben. Ich hielt es für ein Gebot des Taktes, mich still zu entfernen, umsomehr, als ich mich auch in die Gefühle meines Mitvirtuosen nicht so recht hineinversetzen konnte.

Huschte denn also auf den Zehen hinaus und vermied beim Oeffnen und Schließen der Tür jedes Geräusch, damit die beiden Zärtlichen ja nicht gestört würden.

Es half aber alles nichts. Kaum war ich draußen, so stürzte Jolanthe mir nach.

Sie war dermaßen von den Gefühlen der Zärtlichkeit und der Rührung erfüllt, daß sie auch mich stürmisch abküßte und ihre Tränen in ungeschwächter Fülle fortfließen ließ.

Als sie sich soweit gefaßt hatte, daß sie sich einigermaßen verständlich machen konnte, erfuhr ich denn, daß sie sich mit dem Genius behufs einer späteren Eheschließung zusammengetan hatte, welches Bündnis mittelst kirchlichen Segens fest begründet werden sollte, sobald die nötigen Geldmittel beschafft sein würden. Jeder Teil war auf das emsigste bemüht, diese Mittel zu erwerben. Jolanthe war nun tief bekümmert, daß ihr künftiger Eheliebster, der eine Seele von einem Menschen sei und sie so gar nicht mit Auftritten der Eifersucht belästige, anderseits nicht von gewissen Schwächen frei sei, von denen das Genie ja häufiger befallen werde, als die Mittelmäßigkeit. Da sie mich nun trotzdem von diesen Schwächen frei wußte, bat sie 283 mich unter neuen Tränen, Umarmungen und Küssen, auf ihn zu achten; denn sein Respekt vor mir sei ohne Grenzen.

Dem Leser ist bekannt, daß ich niemals im Leben eine Gelegenheit versäumt habe, mich meinen Mitmenschen fördersam zu erweisen, sowohl was ihr leibliches, wie auch ganz besonders was ihr überzeitliches Wohl anbetrifft.

In dieser Gesinnung entwand ich mich Jolanthes zarten Armen und eilte in den Saal. Wiederum fand ich den Virtuosen bei den Weinresten.

Welche widerstreitenden Gefühle strömten auf mich ein! Mußte es mich nicht einerseits mit der tiefsten Betrübnis erfüllen, einen gottbegnadeten Künstler als einen Trunkenbold erkennen zu müssen, noch dazu als einen, der die von andern Leuten stehengelassenen Reste hinterkippte, und das von einem Gesöff, wie es ein wahrer Christenmensch nicht den Säuen vorgösse?

Mußte mich nicht anderseits das Bewußtsein, daß ich zum Retter in dieser sittlichen Not berufen war, zu der größten Begeisterung entflammen?

In dieser Begeisterung scheinen mir die Worte wie Honig von den Lippen geflossen zu sein. Es ist leider nichts davon in meinem Gedächtnis haften geblieben, was ja freilich wohl in Zuständen der höchsten Exaltation die Regel sein dürfte. So habe ich dem Leser nichts andres zu berichten, als das freilich auch wundervolle Ergebnis: der Maestro wurde ein andrer Mensch. 284 Sein Augenrollen wurde ein Ausdruck der tiefsten Ergebenheit, denn statt des ekelhaften Restsaufens mußte er vormittags üben, daß ihm die Finger weh taten. Ertappte ich ihn doch einmal dabei, daß er sich zu den Resten schleichen wollte, so genügte ein ernster Blick, um ihn daran zu erinnern, was er seiner Jolanthe schuldig war, die ihm das höchste Besitztum der Jungfrau zum Opfer brachte.

Was meine eigenen künstlerischen Bestrebungen in dieser Periode anbetrifft, so soll hier kein Wort darüber verloren werden.

Wie sich für einen Jünger des Plato von selbst verstand, war mir der mir zuströmende Mammon wertlos, so lange ich ihn nicht durch Leistungen, die vor mir selbst bestehen konnten, wahrhaft verdient hatte. Es hätte nur wenigen Uebens bedurft, daß ich wieder auf meiner alten Höhe gewesen wäre. Mein Streben ging aber sogar darüber hinaus. Die Zeit meiner täglichen Uebungen schätze ich nach meiner heutigen Erinnerung auf zehn bis zwölf Stunden, ganz ungerechnet die berufsmäßigen Abendkonzerte und die Stunden, die ich bei meinen Lieblingen Händel und Cherubini zubrachte, sowie bei meinen eigenen Fantasien. Welche letzteren allerdings von den Kennern der Stadt für bisher unbekannte Werke jener Meister gehalten wurden, so daß eine gewisse Verwirrung nicht ausblieb. Noch heutigen Tages hören die Konzertbesucher mehr als Einen Händel oder Cherubini, dessen wahrer Verfasser anderswo zu suchen ist. 285 Bald hatte ich es denn auch dahingebracht, daß die bisher wenig beachteten Konzertabende dieses Hauses in der Stadt als das Stelldichein der musikalischen Welt bekannt waren.

Die wenigen Mußestunden, die mir übrig blieben, füllte ich damit aus, meinen drei Untergebenen aus dem Platon vorzulesen, wobei sich denn wieder einmal ergab, daß ein schlichtes Kindergemüt für die Mysterien der Seelenlehre empfänglicher ist als Professorenweisheit. Die vier Weiber bemerkten die stille Verklärtheit meiner drei Platoniker mit Staunen. Sie ließen sich bei mir zu einer Audienz melden und flehten unter vielen Tränen, zu meinen Abenden bittweise bis zum Widerrufe zugelassen zu werden. Nachdem ihnen ihre Bitte gewährt worden war, wurden sie von dem Platonischen Geiste dermaßen überwältigt, daß sie einen Tugendbund gründeten, dem bald die Töchter aus den angesehenen Familien der Stadt scharenweise als Novizen beitraten.

In dieser Zeit wollte mich ein Impresario für eine Tournee durch Afghanistan und das Hochland von Tibet gewinnen. Er bot mir wöchentlich zweitausend Pfund Sterling. Da ich mich ja aber auf sechs Monate verpflichtet hatte, mußte ich ablehnen, was den Impresario zu fünf Selbstmordversuchen veranlaßte. Die Polizeibehörde fragte an, ob ich mich nicht im Interesse der Menschlichkeit zu der Tournee entschließen wollte. Da mir indessen mein Wort höher stehen mußte als die Menschlichkeit, 286 erwies es sich als nötig, den Impresario in der Landesirrenanstalt unterzubringen. –

Zu den Habitues unsrer Konzerte gehörte ein pensionierter Major, den ich leider in dem Verdacht haben mußte, welcher Verdacht sich denn auch am Schlusse als nur zu begründet erwies, daß ihn andre Gefühle herzogen, als reine Kunstbegeisterung.

Er war lang und dürr und hatte eine kahle Platte, dazu hervorquellende Froschaugen. Der König von Preußen, gegen dessen staatsrechtliche Position sonst manches möchte beizubringen sein, insbesondere hinsichtlich der sogenannten Provinz Sachsen, wird in diesem Falle wohl seine guten Gründe gehabt haben, daß er diesem Degen seinen Fußtritt hat angedeihen lassen.

Der Major war das geistige Haupt einer Gruppe von sechs Männern, die der Lehre des Pythagoras ergeben waren, weil ihnen der Platon zu hohe Ansprüche inbezug auf Sittenreinheit stellte. Alle sechs waren gesetzte Männer in den vierziger Jahren und erwiesen sich als wohlbeschlagen im Pythagoras. Gegen mich hegten sie aber die eingeborene Mißgunst des untergeordneten Geistes gegen den höher stehenden. Denn obwohl ich in meiner Bescheidenheit beim Flötenspielen hinter Blattgewächsen zu sitzen pflegte und auch sonst meine Anordnungen in der Stille traf, war es ihnen nicht unbemerkt geblieben, daß ich an der Spitze einer Schule von Platonikern stand.

Die Pythagoräer pflegten während des 287 Konzertes in einer Reihe zu sitzen. Es geschah recht oft, daß sie ihre in den Pausen angeknüpften Erörterungen im Eifer noch während der Musik fortsetzten, da sie dann freilich nach der Natur der Sache nur in einzelnen Ausrufungen und Bekundungen heitrer Zustimmung bestehen konnten.

Ich mochte diese Unterhaltungen wegen ihres wissenschaftlichen Charakters nicht grade verbieten. Sie waren mir auch längst nicht so widerwärtig wie eine andre Gewohnheit dieser Leute, die ich gradezu als ein Abzeichen ihrer Schule bezeichnen muß. Wohlhabende Junggesellen, wie sie waren, tranken sie nur Champagner. Nun hat dies Getränk bekanntlich die Eigenschaft, daß es den Drang zum sogenannten Aufstoßen erregt, welchen Drang indessen zu bekämpfen das ungeschriebene Gesetz des feinen Tones unerbittlich vorschreibt. Die Pythagoräer ihrerseits gaben zwar nicht diesen, aber doch einen andern Laut von sich, den ich leider ebenfalls nicht als wohlanständig kann gelten lassen. Sie ließen nämlich eine Art Prusten hören, ähnlich wie jemand, der heftig niesen muß und nicht gelernt hat, wie der Mensch in guter Gesellschaft niesen soll. Es konnte mich auch nicht mit dieser Gewohnheit aussöhnen, daß es in regelmäßigen Abständen geschah, und zwar militärisch, nach dem Kommando des Majors. Ich hatte schon einmal in feiner Wendung angedeutet, daß ich zu den schönsten Errungenschaften der Zivilisation das Schnupftuch rechne, 288 hatte mir aber müssen sagen lassen, daß die Meinung eines Platonikers die Pythagoräer nicht interessieren könnte.

Nun hatte ich eines Abends unsre Zuhörer durch ein von mir neuentdecktes Flöten-Largo von Pindar gerührt, dermaßen, daß sich ein jeder scheute, die erhabene Stille durch ein Zeichen des Beifalls zu entweihen. Nach außen konnte es mithin fast den Anschein erwecken, als hätte niemand zugehört.

Nach mir ließ sich der Virtuos, der hier unter dem Pseudonym Habakuk berühmt war, mit einer Fantasie hören, die denn freilich, ein so beachtenswertes Talent sich auch in ihr offenbarte, nach dem von mir vorgetragenen Pindar einigermaßen abfallen mußte. Eine völlige Teilnahmlosigkeit verdiente sie aber keineswegs.

Ich saß hinter meinen Blattgewächsen und beobachtete unzufrieden, wie besonders die Pythagoräer, von denen man doch immerhin ein völliges Banausentum nicht hätte erwarten sollen, sich wie die Kaninchen betrugen. Sie hatten Jolanthe zwischen sich gesetzt und wollten ihr das Prusten beibringen, auf welchen Versuch das gute Mädchen denn auch auf das liebreichste einging. Hiermit aber nicht zufrieden, trieben sie Späße mit ihr, bei denen nicht nur einem Platoniker, sondern überhaupt jedem wohlerzogenen Menschen übel werden konnte, zumal Jolanthes Jahre ihr eine solche Behandlung wohl hätten ersparen sollen. Aber auch dies ließ sie sich gefallen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß 289 die Pythagoräer am Ende doch zur Einsicht kommen und ihre Unfläterei durch reiche Geschenke wieder gutmachen würden.

Der Virtuos, der dies alles von seinem Klavierstuhle aus so gut wie ich wahrnahm, war ganz in seine Fantasien versenkt und blieb geduldig wie ein Lamm.

Durch diese Sanftmütigkeit gerührt, beschlossen die Pythagoräer, dem Künstler von ihrem Ueberflusse mitzuteilen. Sie riefen: Heran, Habakuk! Sollst uns was vorsaufen! Der Virtuos, dem ohnehin niemand mehr zuhörte, brach mitten in seiner Fantasie ab und begab sich zu ihnen. Sie hatten mehrere Flaschen Champagner in Eiskübeln neben sich stehen. Eine von ihnen drehten sie um, gossen den Inhalt in den Kübel und befahlen dem Virtuosen, er solle den austrinken.

Jolanthe, die auch ihrerseits von der feurigen Bacchusgabe genippt hatte, quiekte vor Freude über den ihrem Herzliebsten zugedachten Genuß, rief aber dann wieder in bräutlicher Besorgnis: Ach, das arme Luderchen! Wenn er sich nur nicht den Bauch verkältet! Welcher Ausruf die Pythagoräer veranlaßte, neuerdings ihren Witz an dem harmlosen Mädchen zu üben.

Der Virtuos rollte die Augen und erklärte, er wolle den Wunsch seiner Verehrer gern erfüllen, unter der Bedingung versteht sich, daß er die Flasche bezahlen dürfe. Da die Pythagoräer diese Erklärung mit dem heitersten Beifall begrüßten, setzte er wirklich den Kübel an.

290 Ich wandte mich ab und spielte für mich eine Melodie auf der Flöte, denn der Anblick dieser Kraftprobe vermochte mich nicht zu fesseln.

Da hör ich plötzlich den Virtuosen kreischen: Was, ich soll kein Genie sein? Lausejunge!!

Wende mich um und sehe, wie der Virtuos den Kübel, der noch ziemlich voll war, dem Anführer der Pythagoräer über den Kopf stülpt.

Ist alles stumm und starr. Die erste, die sich faßte, ist Jolanthe. Du verfluchtes Ferken, schreit sie, fällt über den Genius her und ohrfeigt ihn, daß es durch den Saal knallt. Der duckt sich, hält die Arme vor und heult: Ein Genie bin ich, du Saumensch!

Der Major hatte dagestanden wie begossen, was er ja auch war. Jetzt brüllt er wie ein Stier: Tot schlag ich den Hund! Sieht sich um und stürzt sich auf einen Kübel. Offenbar wollt er dem Genius mit der Flasche den Kopf einschlagen.

Nun war es Zeit. Ich stoße einen Pfiff aus, der als Signal für meine Platoniker verabredet war, springe wie ein Panter in den Knäuel und reiße dem Major die Flasche aus der Hand. Da er nun eine gewisse Streitlust an den Tag legte, stellte ich folgendes Problem zur Debatte: Geziemt es dem der Weisheit und der wissenschaftlichen Studien beflissenen Manne, er sei nun der Lehre des Platon ergeben, oder der des Pythagoras, oder der irgend eines andern von den Göttern Erleuchteten, die von einem Trunkenen empfangene wörtliche oder selbst auch tätliche 291 Beleidigung zu rächen, oder aber den Beleidiger still zu verachten, oder endlich darauf bedacht zu sein, daß sich sein trunkener Mitmensch nicht beschädige und sorgfältig in sein Bett gebracht werde, damit er seinen Rausch ausschlafe und sich nicht zu ferneren, ihm und andern Bürgern des Staates nachteiligen Handlungen hinreißen lasse?

Der Major ging mit Eifer auf die Disputation ein und wollte aus dem Pythagoräischen Lehrsatze herleiten, daß es sich für ihn gezieme, dem Genius mit der Flasche den Kopf einzuschlagen.

Inzwischen hatte nun aber der seine Jolanthe zu überzeugen gewußt, daß er allerdings ein Genie und somit in seinem Rechte sei. Ihrem feurigen Temperament gemäß entschloß sich Jolanthe, die Sache sogleich zum Austrage zu bringen. Die Pythagoräer erklärten sich dagegen. Das Publikum wurde ungeduldig. Meine drei Platoniker sahen sich allenthalben in Disputationen verwickelt.

Um ungestörter mit ihm plaudern zu können, nahm ich den Major unter den Arm und ging mit ihm hinaus. Draußen auf dem Flur gab ich ihm den Rat, sich auf eine edle, zugleich aber furchtbare Art zu rächen, indem er sich die Nacht nicht auszöge, sondern morgen ganz in seinem jetzigen Aufzuge durch alle Straßen wanderte, mit einem Zettel an der Brust: Dies tat Habakuk, der Virtuos!

Da er allerhand Sentenzen aus dem 292 klassischen Altertum gegen diese Ausführung ins Treffen führte, mußte ich das Gespräch auf nachher verschieben, schloß ihn irgendwo ein und begab mich in den Saal zurück.

Hier mußte ich wieder einmal die Wahrnehmung machen, daß der großen Menge das Grobe mehr zusagt als das Feine. Das Publikum zeigte gar kein Verständnis für das geistige Element, das sich in uns Platonikern ausdrückte, sondern hatte sich entschieden für die ins populäre hinüberschlagende Lehre des Pythagoras erklärt. Meine drei Platoniker hatten sich gegenüber dieser widerstrebenden Masse schon ganz heiser geredet.

Ich nun griff gleichwohl unverzagt in die Debatte ein. Es soll hier nicht weiter beschrieben werden, welche Antithesen, eleganten Wendungen und künstlich verknüpften Satzfiguren die Gegner endlich veranlaßten, mir widerwillig die Palme des Redners zuzubilligen.

Leider hielt die veredelnde Wirkung des Kunstgenusses nicht lange vor. Denn als sie sich entfernt hatten, suchten diese unverbesserlichen Materialisten draußen auf den Marktplätzen eine Partei gegen mich zusammenzurotten. Ja, sie entblödeten sich nicht, durch platte Verleumdung die Polizeigewalt gegen mich aufwiegeln zu wollen.

Nun war das so weit ganz wohl gediehen. Da fiel mir ein, daß sich der Major noch zu seiner Sicherheit im Gewahrsam befand.

Schon auf dem Gange hörte ich, wie er da 293 drinnen immer noch mit vielem Feuer seine pythagoräischen Grundsätze verfocht. Freilich war auch seine Stimme heiser geworden und es liefen ihm Wiederholungen und sonstige rhetorische Entgleisungen unter, wie sie mir niemals beigekommen sind. Auch nahm er seine Zuflucht zu recht plumpen Mitteln, wie Trommeln mit den Fäusten und selbst Fußtrampeln.

Als ich ihm nun die Tür öffnete, schoß er wie eine boa constrictor heraus und agierte in seinem Eifer so gewaltig, daß seine Arme wie Windmühlenflügel umhersausten.

Diese Art, seine Gründe durch Gesten zu unterstützen, sagte mir nicht zu, auch deshalb nicht, weil er in der Rechten, wie ich sogleich sah, ein offenes englisches Jagdmesser mit einem Hirschhorngriffe hielt.

Ich wußte ihn zu überzeugen, daß dies die Manieren schlechter Redner waren und daß sich übrigens auch weder die Zeit, noch der Ort zu wissenschaftlichen Erörterungen eignete. Somit führte ich ihn vor die Haustür und ließ ihn von meinen drei Platonikern, seinem Range entsprechend, anständigst nach Hause geleiten.

Jetzt wollte ich mich zu wohlverdienter Ruhe in mein Kämmerlein begeben. Da kam aber endlich auch der Chef des Etablissements zum Vorschein und bekundete sein Interesse an den stattgehabten Erörterungen. Er stieg auf einen Stuhl und hielt eine sonst recht wohlgelungene Rede, an deren Schlusse er mich nur leider einen modernen Herakles nannte. Das konnte nicht 294 in meinem Sinne sein und ich setzte ihm in einer wohlaufgebauten und, wie ich denke, nicht ganz übel vorgetragenen Gegenrede auseinander, daß mich der Geist des Platon und nicht der des Herakles beseele. Er wollte sich aber nicht belehren lassen. Da in einem Hause, wo man den Herakles über den Platon stellte, meines Bleibens nicht sein konnte, begab ich mich stehenden Fußes in den Wald.

Es war eine kalte Dezembernacht und recht dunkel. Ich kannte ja aber hier jeden Schritt. Auch war es drei Uhr geworden, der tote Raubmörder lag also tot in seinem Kistlein. So war mir ganz behaglich zu Sinne. Machte mir ein Feuer zurecht und vertrieb die Zeit, indem ich Bäume und Büsche als eine Menschenmenge ansah, der ich eine Rede nach der andern hielt. Denn wie der Leser weiß, sind mir zeit meines Lebens als die am eifrigsten zu bekämpfenden Feinde der Menschheit nicht Armut, Zahn- und Körperschmerzen, Hungersnot, unerwiderte Liebe, Kriegsfurie, Cholera, Feuersbrunst und alle andern sogenannten Uebel mit Einschluß des leiblichen Todes erschienen, sondern ohne geistige oder doch wenigstens körperliche Arbeit hingebrachte Stunden. Wenn sich der Leser freilich hinwiederum ins Gedächtnis zurückruft, welche Lorbeerkränze mir schon als Redner gewunden worden waren, welche Flammen der Begeisterung einerseits und anderseits welche Tränen der Rührung meine Rednerkünste schon hervorgezaubert hatten, welche wunderbaren 295 Errettungen aus höchst gefährlichen Lebenslagen ich endlich schon meiner Beredsamkeit verdankte, so wird er sich wohl schwerlich der Vorlegung der Frage entziehen wollen, ob er selbst, wenn er sich in meiner Lage und zugleich auf meiner Höhe der Ciceronianischen Kunst befunden hätte, nicht am Ende, alles wohlerwogen, zu dem Entschlusse gekommen wäre, seine müden Glieder neben jenem Feuer zur Ruhe zu strecken, demnächst aber, wenn er nämlich frisch gestärkt erwacht wäre, der mir bekanntlich wohlvertrauten edeln Waidkunst obzuliegen.

Ich dagegen ließ es mir nicht zuviel sein, meine Perioden immer noch verschlungener durcheinanderzuweben und im Ausdrucke meiner Gedanken immer ähnlicher dem klassischen Altertum, der simpeln Gegenwart aber immer unähnlicher zu werden.

Bei dieser angenehmen Beschäftigung verflogen mir die Stunden wie ein Hauch, und ich nahm mit Bestürzung wahr, daß ich nicht nur den Rest der Nacht, sondern auch den folgenden Tag unversehens über meinen oratorischen Uebungen vertändelt hatte. Da ich nun fürbaß ziehen wollte, nämlich abermals nach jener Hafenstadt, um nach Peru hinüberzufahren und meine erlangte Vollkommenheit in den rednerischen Künsten vor den dortigen Richtern zu erproben, fiel es mir ein, daß ich meinen Platon zurückgelassen hatte.

Wartete also ab, bis es ganz dunkel geworden war, denn bei meiner schon vorhandenen und 296 durch meine letzten Taten unvermeidlich noch gesteigerten Popularität mußt ich allerhand lästige Ovationen befürchten, und begab mich mit hochgezogenem Kragen und heruntergestülpter Hutkrempe zu der Stätte meiner bisherigen Wirksamkeit.

Es war ein zweieinhalbstündiges Redetounier erforderlich, ehe ich den Chef in den Sand gestreckt hatte, so daß er mir meinen Platon aushändigte, worauf er mir auch noch meinen Gehalt aufdrängte. So interessant übrigens das Tounier in seinen einzelnen Phasen verlief, kann ich hier dem Leser doch nichts weiter verraten, als daß der Höhepunkt meiner Rede in einer Lobpreisung der Künste und Wissenschaften bestand.

Beiläufig erfuhr ich, daß ein Oberhofmarschall dagewesen war, um mir im Namen eines zufällig in der Stadt anwesenden Großherzogs nach meiner Wahl den Titel eines großherzoglichen Kammerflötenbläsers oder den erblichen Adel anzubieten.

Ich erwähne das nur, um ein Beispiel anzuführen, wie sehr die deutschen Fürsten, von Barbarossa an, aus der Art geschlagen sind. Unter den Sachsenkaisern hätte man einen Mann wie mich anders zu belohnen gewußt.

Einigermaßen verdrießlich über den erfahrenen Undank trat ich aus der Haustür. Aber wer beschreibt meine Rührung, als ich mir draußen einen Empfang bereitet sah, der mir den Fürstendank tausendfach ersetzte!

297 Die Kunde, daß ich zurückgekehrt war, um gleich wieder abzureisen, mußte sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet haben.

Der Verkehr in dieser Straße hatte ganz aufgehört, weil die Menge nur solche durchließ, die sich als Mitglieder des in der Eile gewählten Ausschusses legitimieren konnten. Die Polizei war machtlos, stand übrigens auch der Feierlichkeit infolge eines sehr deutlichen Fingerzeiges von oben wohlwollend gegenüber.

Dieser Ausschuß bestand aus Jungfrauen, die dem vorhin erwähnten Tugendbunde angehörten, Jünglingen, die aus den vornehmsten Geschlechtern entnommen waren, kunstbegeisterten Männern und gelehrten Greisen, unter welchen letzteren ich den Oberbürgermeister und den Rektor der Universität nenne. Alle waren weißgekleidet und mit Rosen bekränzt.

Als erste Rednerin trat die schönste der Jungfrauen hervor. Das holde Kind feierte mich wegen der Erhöhung der allgemeinen Sittlichkeit, die man mir verdankte, wurde aber dermaßen von anmutiger Schamhaftigkeit überwältigt, daß sie sich vor ihr liebliches, auf das reizendste rosig überhauchtes Gesichtchen die niedlichen Händchen schlug und in ihrer süßen Verwirrung mit dem zartesten Stimmchen flehte, mir im Namen des Tugendbundes einen Kuß geben zu dürfen. Nachdem ihr diese Bitte gewährt worden war, knüpfte der Oberbürgermeister, der eigentlich nicht auf der Rednerliste verzeichnet stand, auf das verwegenste an ihre Rede an. Er 298 führte aus, jenen Dank habe mir nicht nur der Stand der Jungfrauen, sondern vielmehr die Stadtgemeinde zu votieren, und entwickelte dabei stellenweise einen recht glücklichen Humor. Nach ihm redete ein schöngelockter Jüngling, der mich als, wenn auch unerreichbaren, so doch zu den höchsten Anstrengungen begeisternden Meister in der Kunst der Beredsamkeit feierte. Fehlte diesem Redner auch der lateinische Stil, mutete seine Ausdrucksweise auch ein wenig schlicht an, waren auch seine Sätze nicht besonders kunstreich ineinander verflochten, so ließ man ihn sich doch gefallen, weil er ein seiner Jugend wohlanstehendes Feuer entwickelte.

Nun aber kam erst die Lobpreisung an die Reihe, die meinem Herzen die teuerste sein mußte. Es trat nämlich ein Greis mit wallendem Silberbart hervor und pries mich in meiner Eigenschaft als Interpret und Verkünder der platonischen Philosophie. Da konnte man sehen, was ein geschulter Redner war, da verband sich mir mit der Genugtuung, mich von einem nahezu Ebenbürtigen anerkannt zu wissen, der edelste Kunstgenuß. Der Greis entwickelte Perioden, von denen eine einzige im Druck eine ganze Zeitungsspalte einnehmen würde.

Als ich eben meine Rührung soweit überwältigt hatte, daß ich zu antworten vermocht hätte, entstand eine Bewegung. Ein Mann in der Vollkraft der Jahre stürzte herein und warf sich mir zu Füßen. Der Rosenkranz saß ihm schief auf dem braunen Scheitelhaar und er befand 299 sich in dem Zustande völliger Verzweiflung. Es stellte sich heraus, daß er der Sprecher des rüstigen Mannesalters war. Er hatte es übernommen, mich als Meister im Flötenspiel zu feiern, und zwar, wie sich wohl von selbst versteht, in rauschenden Hexametern. Der war freilich als gottbegnadeter Dichter bekannt, hatte auch bei der Begrüßung manches gekrönten Hauptes seinen Mann gestanden. Nun war ihm aber vor meiner Kennerschaft dermaßen bange geworden, daß er sein Werk immer wieder dem Feuer überantwortet und am Ende nicht eine einzige Strophe zustande gebracht hatte. Die Menge verlangte, er solle improvisieren, widrigenfalls man ihn lynchen würde. Indessen gebrauchte ich mein Ansehen, ließ ihm Verzeihung angedeihen und lenkte die entrüsteten Gemüter auf andre Dinge, indem ich meine Rede hielt.

Es muß hier eingeschoben werden, daß nach meinem Fortzuge aus Anlaß dieser Rede ein Zeitungskrieg entstanden ist. Die konservative Presse vertrat nämlich die Auffassung, eine Rede wie die könne platterdings nicht aus dem Stegreif komponiert worden sein, die ganze scheinbar improvisierte Feier sei unzweifelhaft heimlich verabredet gewesen. Die liberalen Blätter der verschiedenen Schattierungen ließen diese Deduktion an sich als plausibel gelten, wiesen aber darauf hin, was für alle andere Redner gelte, gelte darum noch keineswegs für einen Brinkmeyer. –

Als ich nun erklärte, daß es mir am Orte 300 ganz gut gefallen habe und daß ich recht gern an die Stadt zurückdenken würde, steigerte sich der Beifall dermaßen, daß es mir wirklich unangenehm war. Ich eilte rascher zum Schlusse, als meine Absicht gewesen war, und zwar schloß ich mit folgendem Satzgebilde: Da ich nun aber eingesehen habe, daß ich weil meine Anwesenheit, in anbetracht dessen, daß meine Mission nicht örtlich begrenzt sein darf, obgleich ja, ungeachtet dessen, daß ich mich redlichst bemüht habe, geschweige denn, daß ich meine Aufgabe hier als beendet ansehen könnte, meine Nachwirkungen soeben erst begonnen haben, an andern Orten des Vaterlandes, Europas, des Erdkreises erforderlich ist, in einem längeren Verweilen eine Mißachtung der mir von den Musen auferlegten Pflicht erkennen müßte, so ermahne ich euch, versammelte Greise, Männer, Jünglinge und Jungfrauen, daß ihr nicht unternehmt, mich etwa zurückhalten zu wollen, denn das wäre die Handlung nicht eines klugen und gerechten, sondern eines ungerechten und törichten Menschen.

Wie nun meine ganze Rede aus ähnlichen Sätzen bestand und gleichwohl die gelehrtesten Köpfe der Universität keinen einzigen Verstoß gegen Logik, Grammatik oder Stilistik ausfindig zu machen vermochten, erscheint ja der Irrtum der konservativen Blätter einigermaßen begreiflich.

Aus meinen Schlußworten sah jedermann, daß mein Entschluß unerschütterlich war. Die Jungfrauen nahmen mir den Hut ab und setzten mir 301 einen Lorbeerkranz auf, was bei dem herrschenden Frostwetter kein Vergnügen war.

Sodann setzte sich der Zug in Bewegung. Den Anfang machten vierundzwanzig Trommler. Ihnen folgten ebensoviel Dudelsackpfeifer. Man hatte sich diese letzteren Instrumente aus Schottland verschrieben, um mir als einem Fachmanne etwas Besonderes bieten zu können. Die Dinger wirkten ja auch, der Stimmung des Abschiedes entsprechend, recht kläglich.

An die Musikanten schlossen sich die Jungfrauen an. Sie trugen meinen Hut auf einer Stange, womit sie symbolisch ausdrückten, auf welche Fahne sie leben und sterben wollten.

Den Jungfrauen folgten die Jünglinge mit meiner Flöte, den Jünglingen die Greise mit meinem Platon.

Nun kamen die rüstigen Männer, die mich selbst auf den Schultern trugen. Uns folgten abermals je vierundzwanzig Trommler und Dudelsackpfeifer, und den Schluß bildete eine Reihe von Vereinen, deren Ehrenmitglied ich war. Der Zug war in seiner ganzen Länge von Fackelträgern flankiert.

Die Bürgerschaft bildete Spalier. Des ernsten Abschiedes eingedenk, jauchzte man mir nicht zu, zog aber ehrerbietig die Hüte, so daß ich nur immer nach rechts und links durch Lüften des Lorbeerkranzes zu danken hatte.

Am Tore hatten sich der Magisterrat und die Stadtverordneten postiert und empfingen mich mit Böllerschüssen. Es waren vierundzwanzig 302 Schüsse vorgesehen, aber nach dem elften erklärten sich die Stadtväter zu weiterem außerstande, weil ihnen zuviel Tränen über die bärtigen Wangen liefen.

Als ich mich endgültig loszureißen im Begriffe war, entstand ein Auftritt, den zu schildern meine Feder zu schwach wäre, auch wenn ich mich nicht, wie es tatsächlich der Fall ist, von der Erinnerung schmerzlichst übermannt fühlte; aus welchem Grunde, das wird sogleich offenbar werden.

Nur beiläufig sei erwähnt, daß von den vierundzwanzig Jungfrauen auch nicht eine an ihrem Platze aushielt: sie wurden den achtundvierzig schwergeprüften Eltern ohnmächtig ins Haus getragen.

Ich muß nun auf ein Kapitel in dem Buche meines Lebens kommen, das ich (wie es wohl auch der Aufrichtigste täte) überschlagen würde, wenn ich mir nicht (dem Christen katholischer Konfession im Beichtstuhl vergleichbar) die rückhaltloseste Offenheit zu heiligster Pflicht gemacht hätte.

Darin offenbart der böse Feind seine echte Höllentücke, daß er die ohnehin der Sünde Verfallenen unbehelligt ihres Weges gehen läßt; je inniger aber der Mensch den Tugenden ergeben ist, um so listenreicher führt ihn Satanas in Lebenslagen, wo er fast mehr als ein Mensch sein müßte, wenn er seine Haupt- und Kardinaltugend rein zu erhalten vermöchte: Der Redliche seine Wahrheitsliebe, der Friedliche seine 303 Sanftmütigkeit, der Enthaltsame seine Sittenstrenge. Ob ich nun in einer dieser Tugenden oder etwa in allen dreien während meines übrigen Lebens hervorgeleuchtet habe, das zu entscheiden, steht mir nicht an; denn auch, falls ich in keiner von ihnen als eine über das Mittelmaß hervorglänzende Leuchte sollte erfunden werden, eine andere wird mir ja wohl auch der erbittertste Gegner nicht absprechen: die Bescheidenheit.

Für dasmal hatte es der böse Feind aber auf meine Wahrheitsliebe abgesehen.

Da man mich nämlich mit Gewalt festhielt, auch die Herausgabe meines Hutes verweigerte, ja sich in der Exaltation des Schmerzes hinreißen ließ, mir den Platon vorzuenthalten, so habe ich den Leuten, zwar nicht etwa versprochen, aber doch in Aussicht gestellt, ich würde über kurz oder lang einmal besuchsweise wiederkommen.

Ich muß nun mit tiefer Beschämung eingestehen, daß ich diese In-Aussicht-Stellung zwar selbstverständlich nicht bewußt falsch, aber doch mit dem Unterbewußtsein abgegeben habe, daß die Erfüllung bei den unabsehbaren Windungen dieses Labyrinthes, das wir unser Leben nennen, höchst ungewiß war. Wie mich denn tatsächlich jene Stadt niemals wieder in ihren Mauern gesehen hat.

Mit den Moralgelehrten nun, die mich etwa damit trösten wollen, daß derjenige, welcher sich seinen Mitmenschen allerwegen höflich erweisen wolle, in den mannigfachen Verlegenheiten dieses Erdenwallens nicht gänzlich der sogenannten 304 Notlüge zu entraten vermöchte, während vorliegend billigerweise nur von einer Notungenauigkeit die Rede sein könne, habe ich nichts abzumachen; Laxheiten in der Moral sind meine Sache nicht, und am allerwenigsten da, wo es sich um die Pflicht zur Wahrhaftigkeit handelt.

Ich mußte mich unweigerlich, der Gefahr einer wenn auch vielleicht lebensgefährlichen Erkältung Trotz bietend, meinen Anhängern im bloßen Lorbeerkranze entreißen. Nur die Frage scheint mir des Nachdenkens der Weisen und Gerechten im Lande wert zu sein, ob es mir erlaubt gewesen wäre, mich meines Platon mit Gewalt zu bemächtigen, oder ob ich im äußersten Falle, nämlich, wenn es mir nicht gelang, meine Verehrer durch Rednerkünste zur Herausgabe des Buches zu bewegen, dies höchste Palladium meines Lebens hätte müssen im Stiche lassen.

Wenn sich nun aber der eine oder andre meiner Leser durch mein Beispiel warnen läßt, daß er auch in dem scheinbar Unbedeutendsten die Gelegenheit wittert, vom Pfade der Tugend abzuirren: so ist der nicht geringe Bruchteil der rund achtzehntausend seither vergangenen Nächte, in denen ich mein Kissen mit Reuetränen benetzt habe, nicht umsonst durchseufzt.

Wie tief und nachhaltig mein Gemüt durch diesen Fehltritt erschüttert ist, wolle der Leser daraus erkennen, daß ich ein zum einen Teil von der Arbeit, zum andern von der Versenkung in mich selbst und den Platon ausgefülltes Leben 305 der glänzenden Laufbahn vorgezogen habe, die mir meine Erfolge und die Prophezeiungen der Kenner in seltener Einmütigkeit gewährleisteten. In welcher Entschließung ich mich denn freilich, von einer höheren Warte aus, als einen klüglichst auf seinen wahren Vorteil bedachten Hausvater möchte erwiesen haben. 306

 


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