Friedrich Huch
Mao
Friedrich Huch

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Elftes Kapitel

Der Wagen hielt vor dem neuen Hause, die Dienstboten eilten die Steintreppe hinab. Ein grünes Gewinde und ein rotes Willkommensschild prangten über der Türe. Aus den umliegenden Häusern schauten Neugierige hervor. Thomas stolperte die Treppe schnell empor und drehte sich im Vorplatz ungeduldig um. Was zögerte seine Mutter noch da draußen vor dem Hause? Und Ursula – er konnte sie überhaupt kaum ansehen, in ihrem Sonntagskleide, mit den verweinten Augen, die schon wieder ganz vergnügt blickten. Jetzt hörte er sie heraufkommen, und unwillkürlich ging er zum ersten Stock empor, um dort wiederum zu warten. Aber sie kamen nicht; er hörte die Stimme seiner Mutter, welche Anordnungen erteilte. – Drunten sah alles noch wüst und ungeordnet aus, viel schlimmer, als Frau Elisabeth sich vorgestellt hatte. Die Möbel standen zum Teil in falschen Zimmern, und man mußte sie auf den Vorplatz schaffen, um die richtigen hineinzubringen. Dort standen große vernagelte Kisten, und neue wurden von außen herbeigeschleppt von Arbeitern in blauen Blusen; es war ein wirres Durcheinander; sie riefen sich gegenseitig zu, dumpf schlugen die Kisten auf den Boden, das Geräusch von vielen Tritten, ungleichmäßig, schlurfend, ziehend, stoßend, schwirrte durch die Luft, die der Dunst der Arbeit füllte, Tragtücher, Pappen, Stricke, Umhüllungen lagen überall herum, Schmutz und Staub fleckten den Boden. – Thomas stand noch immer unbeweglich oben am Treppengeländer und sah hinab auf das Treiben unter ihm. Ursula lief die Stufen hinauf; schnell wandte er sich fort und stieg in großen Schritten geräuschlos eine Treppe höher. Ein paar Türen schlugen im unteren Stockwerk zu, dann war alles ruhig; der Lärm vom Erdgeschoß klang hier um einige Meter ferner. Wieder hörte er die Türen zuschlagen, Ursula lief die Treppe hinab, und ließ sich, um schneller nach unten zu kommen, vor der letzten Wendung auf dem Geländer niedergleiten.

»Wo ist eigentlich Thomas?« hörte er seine Mutter sagen. – Sie sollten ihn hier oben nicht finden; schnell tappte er, so leise es anging, die Stufen wieder abwärts und verschwand im ersten Stock in irgendeinem Zimmer. Gleich darauf hörte er den Schritt seiner Mutter, und wie sie nun wirklich eintrat, fand sie ihn bemüht, ein schweres Möbel, das mitten auf dem Boden stand, irgendwohin an die Wand zu schieben. Sie tat, als verwunderte sie sich nicht, und sagte: »Wenn du mithelfen willst, so komme nach unten, da gibt es jetzt vor allem etwas zu tun.« Sie wandte sich wieder hinab, und er folgte ihr. – »Erst müssen wir das Wohnzimmer in Ordnung bringen«, sagte sie, »daß man wenigstens einen Fleck hat, wo man sich ausruhen kann.« – Sie sah dabei in einen falschen Raum, fand dann aber gleich den richtigen. Lauter fremde neue Möbel standen hier herum, sie wußte bei einigen nicht sofort, was sie bedeuteten, so eigenartig und modern waren sie. Ursula aber erriet alles gleich, und da sie viel praktischer war als ihre Mutter, und ihre Vorschläge, nachdem man anderes versucht, sich doch stets als die besten erwiesen, so leitete sie alsbald das Ganze.

Thomas wußte nicht recht, wie und wo er zufassen sollte, ging bald hier-, bald dorthin, stand schließlich nur im Wege, ließ sich von den Arbeitern beiseite schieben und stellte sich endlich in einen Winkel, wo die vorspringenden, knochenartigen Kantengebilde zweier gleichgebauter Schränke ihn von beiden Seiten schützten. Er war so müde; alle Stimmen klangen ganz entfernt. Ursula lachte laut, wie sie ihn so stehen sah, und Frau Elisabeth meinte, er solle lieber nach oben gehen, die zweite Tür nach rechts, dort sei sein Zimmer. – »Die dritte Tür«, rief Ursula hinter ihm her, »die dritte!« – Er ging langsam hinauf, blieb aber erstaunt auf der Schwelle stehen: Da war der alte schwere Tisch aus dem Wohnzimmer, das strohgeflochtene Sofa seines Schlafzimmers, ein dunkler geschnitzter Schrank, der Teppich aus dem Eßzimmer lehnte in einer Ecke, alles, alles waren Dinge aus dem alten Hause. Er wagte kaum näher zu treten und hielt fast den Atem an. Endlich schritt er leise auf den Schrank zu und berührte ihn mit den Fingerspitzen; er fühlte ihn, fühlte ihn wirklich; es war keine Täuschung. Er schloß die Augen.

Daß er einmal in dem alten Hause war, erschien ihm lange, lange her. Und doch wußte er: Noch vor ein paar Stunden hatte er dort allein, in seinem Schlafzimmer, auf dem Boden gelegen. War das nicht ein Traum? War er nicht weit, weit fortgereist, so weit, daß er nie zurückzukehren vermochte? Lag das Haus wirklich nur eine halbe Stunde von hier entfernt, konnte man es auf einem Gange wie auf jedem anderen erreichen? Wohnten noch die Menschen in den Nachbarhäusern, die früher darinnen waren? War nicht alles fort, verschwunden? – Ein breites dunkles Band schwebte ungesehen vor seinem Blicke, die Laute von unten klangen ganz aus weiter Ferne. – »Ja!« rief er auf einmal, denn draußen stieß jemand scharf gegen die Tür. Er wollte sich in seinem Bett aufrichten, aber er stand aufrecht mitten im Zimmer. Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür, zwei Arbeiter, die etwas Ungefüges schleppten, stampften schwerfällig herein. Thomas tat einen Schritt, ein leichter Schwindel kam und ging, sie setzten ihre Last nieder und gingen wieder hinaus, ohne die Tür zu schließen. Thomas ließ sie offen. Was wollte er eigentlich hier? Er konnte ebensogut hinabgehen.

Als Frau Elisabeth ihn sah, fiel ihr sogleich die Überraschung mit den Möbeln ein, die sie sich für ihn ausgedacht hatte, und sie sah ihn mit erwartungsvollem Blick an. Aber er hatte das schon wieder vergessen, und auf seinem Gesichte stand nicht die Freude und Dankbarkeit, die sie erwartete. »Freust du dich denn gar nicht darüber, Thomas?« Er nickte eifrig, mit ernsthaftem Gesicht, indem er langsam in eine Ecke ging und gedankenlos emporgriff nach einem Stützpunkt für seinen Arm. – »Sieh mich doch wenigstens an, Thomas!« sagte sie mit verhaltener Stimme; »ich habe mir doch das für dich ausgedacht!« Er sah auf sie, blickte aber gleich wieder fort; sie sah so verändert aus, in ihrer großen Schürze, mit ihrem gelockerten Haar, von dem sich eine Flechte gelöst hatte, ohne daß sie es wußte, und auf der Wange hatte sie einen verwischten schwarzen Fleck. – Sie ertrug dies kalte Wesen von ihm nicht länger, ging auf ihn zu und faßte ihn an beiden Schultern: »Wie bist du denn jetzt immer gegen mich? Hast du mich denn gar nicht mehr lieb?« – Aber er drehte das Gesicht ab und drängte sie leise von sich fort. – »Du siehst ganz anders aus!« sagte er halblaut, stockend, wie zur Entschuldigung. – Frau Elisabeth warf einen Blick in den Spiegel. »Aber Thomas« – sie begriff ihren Sohn nicht mehr, und etwas krampfte sich in ihr zusammen – »aber Thomas, hast du mich denn darum weniger lieb, weil bei der Arbeit hier etwas an mir in Unordnung geraten ist?« – Er seufzte tief und ungeduldig, antwortete nicht, ging wieder hinaus, auf sein Zimmer, aber darin waren Arbeiter; er wollte in ein anderes, aber es war von innen irgendwie versperrt.

»Ich halte dies nicht mehr aus!« schrie er plötzlich.

» Was hältst du nicht mehr aus?« – Es war die Stimme seines Vaters, der inzwischen angekommen war und sich unten den Mantel auszog. Thomas verhielt sich totenstill, der Justizrat fragte seine Frau, was mit ihm geschehen sei. Sie wollte ablenken, verschweigen, aber Ursula brach los: Thomas' Benehmen sei empörend, geradezu roh; sie erzählte den ganzen Vorgang von vorhin, genau so, wie er gewesen war, und schloß mit den Worten: »Er tut so, als ob er der König wäre, dem alle folgen müßten, liegt auf den Stühlen umher und ist mißgelaunt, weil andere sich durch ihn die Laune nicht verderben lassen, sondern helfen und mitanfassen, so wie es sich gehört.«

Der Justizrat ging ohne weiteres nach oben. Thomas hörte seinen Schritt, und lautlos stieg er eine Treppe höher; der Justizrat folgte ihm. Eine tödliche Angst befiel ihn; er wollte in eines der nächsten Zimmer fliehen, aber er dachte plötzlich: Es ist ja doch alles gleich, er mag tun, was er will. – Der Justizrat war inzwischen heraufgekommen, packte Thomas am Arm und zog ihn in den nächsten Raum hinein. – »Da höre ich ja nette Geschichten von dir, mein Sohn!« fing er an. Ursprünglich hatte er – durch den Wohnungswechsel und die ganze Unruhe des Tages in seiner Stimmung gehoben – die Absicht gehabt, ihn einfach zu züchtigen, aber wie er den blassen Jungen mit den kalten grauen Augen vor sich sah, erschien er ihm plötzlich viel zu groß für diese Strafe. Auch hatte er Thomas noch nie geschlagen.

- »Du bist in einem Alter«, fuhr er fort, »wo man dich nicht mehr als ein kleines Kind behandeln kann. Meint deine Mutter es nicht gut mit dir? Tut sie nicht alles für dich, was sie sich nur ausdenken kann? Und wie lohnst du es ihr? Mit Schmollen und Mundverziehen und Grobheit! Schließt dich in die Zimmer ein, wo du weißt, daß jeder zupackt und tätig ist und hilft, daß es alle bald gemütlich haben. Jeder andere Junge benähme sich anders als du; Onkel Matthäus hat mir sogar gesagt, daß sein Sohn sehr gern käme und hülfe, und der hat doch wahrhaftig kein Interesse daran, daß hier bald alles in Ordnung kommt! Ich begreife es ja vollständig, daß dir der Abschied von dem Hause nicht leicht geworden ist, er ist uns allen nicht leicht geworden. Aber, du lieber Gott, das ist doch nun einmal so und läßt sich nicht ändern! Gerade wenn du hier fleißig mithülfest, kämest du am leichtesten über die Sache hinweg. Was würde wohl geschehen, wenn wir uns alle, jeder für sich, in eine Ecke stellen und ausrufen wollten: Ich halte es nicht mehr aus!?« – Thomas war während dieser Rede vollkommen ruhig und gelassen geworden. Sein Vater bemerkte dies, er glaubte fast ein Lächeln um seine Lippen zu sehen, schrieb es seinem letzten Satze zu und wiederholte: »Nicht wahr, das wäre komisch!« und lachte selbst ermunternd. – Er will sich seiner Würde nichts vergeben! dachte er und klopfte ihm auf die Schulter. – »Nun komm mit hinunter, wir essen bald zu Abend. Und am ersten Abend will ich fröhliche Gesichter um mich sehen.« – Er zauderte noch einen Augenblick, indem er überlegte, ob er Thomas veranlassen sollte, seine Mutter um Verzeihung zu bitten, fand es dann aber besser, der ganzen Angelegenheit weiter keine Wichtigkeit beizumessen, nachdem sie einmal durchgesprochen war, und sagte: »Geh voran.«

Das Abendessen verlief unruhig, das Geschirr war noch nicht alles beisammen, die Köchin, an die altmodische Küche gewöhnt, wußte noch nicht recht mit den Schnellbrennern auf dem neuen, funkelnden Herde umzugehen, und das Serviermädchen hatte Mühe mit dem Aufzug, der die Speisen hinaufbeförderte.

Wie Thomas zu Bette ging, klopfte ihm sein Vater noch einmal aufmunternd auf die Schulter. Seine Mutter suchte ihn in seinem Zimmer auf, wunderte sich, daß er schon zu Bett lag und das Licht gelöscht hatte, und setzte sich leise zu ihm auf den Bettrand.

Undeutlich konnte sie in dem dämmerigen Zimmer, in dem noch die Gardinen fehlten, sein Gesicht erkennen, dessen offene Augen zur Decke sahen.

»Laß uns nichts zusammenreden, Thomas, laß mich nur bei dir sein.« – Sie legte ihren Kopf an seine Brust, und leise, damit sie es nicht zu sehr merke, schlang er seinen Arm um sie. So lagen sie eine lange Zeit.

Von fernher schlug eine Turmuhr, dieselbe, die er hörte, wenn er daheim im Bette lag; vom alten Turm her. Jetzt klang sie aus größerer Ferne.

Da wurde sein Atem schwerer, seine Brust ging höher, er öffnete die Lippen, er begann zu keuchen, und nun zitterte sein Körper in lautlosem Schluchzen. – Sie richtete sich halb empor und zog seinen Kopf an ihre Brust. Er umklammerte ihre Schulter.

Frau Elisabeth fühlte, daß jedes Wort des Trostes, wenn auch noch so zart, ihn nur beengen würde, sie schwieg, voll Dank, daß er sie wenigstens nicht von sich wies, daß ihre Gegenwart ihm etwas Trost sei, wie seine Umschlingung es ihr sagte, daß sie ihm doch etwas Teures war, ihm, der ein so einsames, rätselvolles Dasein führte. Sie begann seine Hand zu streicheln, stockte aber bald, da sie fühlte, daß es ihm nicht lieb war, in Angst, seine Seele, die ihr jetzt so nah war, könne wieder fliehen. –

Der nächste Tag brach an, Thomas besann sich, wo er war. Er mußte früh aufstehen, denn die neue Wohnung lag entfernter von der Schule. Er ging nicht den nächsten Weg, der ihn hätte über den Markt führen müssen. In der Schule fiel seine Blässe auf, aber sonst schien er wie immer, nur daß er in den Pausen sich von allen fernhielt. Auch zu Hause war er stumm und saß oft grübelnd in seinem Zimmer, zwischen den alten Möbeln, die ihm anfangs wohltaten, aber bald fast unerträglich wurden, so stumm und tot und wesenlos erschienen sie. Manchmal kam er sich vor, als sei er selber nicht mehr lebend. Er ging herum wie früher, aß, trank, schlief, sprach, machte seine Schularbeiten, aber es war, als sei kein Blut mehr in ihm. Er fühlte sich immer matt und schlafbedürftig, sein Gesicht wurde schmal und hell.

Unter seinen Kameraden hatte es sich bald herumgesprochen, woran er litt. Er tat ihnen plötzlich leid, sein Hochmut von früher war vergessen, sie wollten versuchen, ihn wieder in ihren Kreis hineinzuziehen. Aber keiner wollte der erste sein, denn es war ungewiß, wie Thomas es aufnehmen würde. Da erbot sich Alexander, mit ihm zu sprechen; er tat es zwar nicht gern, aber er hatte Mitleid mit ihm und dachte, jetzt, wo er sich ganz verlassen vorkomme, werde vielleicht doch etwas von der früheren Freundschaft, wenn er ihm herzlich nahe, aufwachen.

So blieb er eines Tages nach Schulschluß länger als die anderen in der Klasse, da er wußte, daß Thomas jedesmal den Schwarm sich erst verlaufen ließ, ehe er selbst nach Hause ging. Thomas erhob sich und wollte mißtrauisch an ihm vorbeigehen. Alexander hielt ihn auf. Seine Ledermappe, die er unter dem Arm hielt, funkelte und glänzte im Schein der Mittagsonne. Thomas musterte ihn mit einem Blicke.

»Was willst du?«

Alexander begann nun zu sprechen; er fing an, sich vor allem zu entschuldigen, falls das, was er sagen würde, Thomas unangenehm wäre. Und dann sprach er davon, wie seine Zurückgezogenheit allgemein bedauert würde, und daß man wünsche, er möge doch mehr Kameradschaft zeigen. – »Du tust uns allen ja so leid!« –

Thomas blickte in diese freundlichen, wohlwollenden Augen, ließ plötzlich seine Bücher fallen, und ehe Alexander etwas weiteres denken konnte, fühlte er sich zu Boden geworfen und unter Thomas' heftiger Mißhandlung vergingen ihm fast die Sinne.

»Jetzt werdet ihr mich wohl in Ruhe lassen, und du vor allen anderen!« – Er raffte seine Bücher vom Boden und entfernte sich, während Alexander, wie aus einem Traume, sich mühsam erhob. – Er ist verrückt, er muß verrückt sein! dachte er, und am nächsten Morgen warnte er seine Mitschüler vor ihm: Er sei leidenschaftlich erregt gewesen, und wenn man den Versuch der Annäherung wiederhole, könne er sich wohl gar zu Tätlichkeiten hinreißen lassen.


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