Friedrich Huch
Mao
Friedrich Huch

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Eines Tages, als er aus der Schule kam, wunderte er sich; wo früher ein Schrank gestanden hatte, stand jetzt ein Stuhl, die beiden geschweiften, ungefügen Sessel mit dem verschossenen roten Stoff waren überhaupt nicht mehr da; wo sie gestanden, lag ein Teppich; auch die beiden hohen Kaminstühle mit den gestickten Perlenblumen waren fort, und vor dem Kamine war es leer. Er ging ins Nebenzimmer, um zu sehen, ob sie wohl da hineingeraten wären, und dachte: Komisch, daß sie jetzt, wo es keinen Sinn mehr hat, noch alles anders stellen. – Aber auch hier sah es fremd, leerer aus. Die vergoldeten, schmalen, hohen Spiegel fehlten; da, wo sie früher standen, war jetzt ein dunkelroter Streif an der verschossenen Wand.

Er ahnte plötzlich, daß er sie nie mehr sehen werde; seine Mutter bestätigte es; ein Antiquar war am letzten Tage dagewesen; in den nächsten Tagen würde man noch andere Möbel abholen. – »Aber das geht doch nicht!« rief er in plötzlicher Entrüstung, »das geht doch nicht, daß man uns unsere Möbel fortholt, solange wir noch hier wohnen! Und überhaupt, daß ist doch furchtbar, daß sie verkauft werden!« – »Aber du weißt doch, Thomas, daß wir neue Möbel bekommen, und daß viele schon in der neuen Wohnung stehen!« – »Ja, aber deshalb braucht man die alten doch nicht zu verkaufen!« – »Aber was wollen wir denn mit ihnen machen?« fragte Frau Elisabeth und sah ihn etwas unsicher an. – Er hatte darüber noch gar nicht nachgedacht, aber jetzt rief er schnell und heftig: »Doch lieber verbrennen als verkaufen! Sie gehören doch uns und können nicht in fremde Häuser hinein oder in einen Laden zwischen altes Gerümpel. Das ist doch gräßlich, empörend!« – »Du wirst dich noch an manches gewöhnen müssen.« – »Ich schäme mich aber, wenn man mich fragt.« – »Du brauchst dich nicht zu schämen bei dem, was dein Vater tut.« – »Aber es ist doch eine Gemeinheit, eine furchtbare Gemeinheit« – brach er los. – Frau Elisabeth verwies ihm dieses letzte Wort. Da rief er: »Du bist auch auf seiner Seite!« – Er wollte noch mehr sagen, fand aber keine Worte, ging zur Tür und warf sie hinter sich ins Schloß. Seine Mutter wollte ihn zurückholen, blieb aber unbeweglich und starrte ihm nach.

Am nächsten Tage waren wieder Veränderungen vor sich gegangen, Thomas beeilte sich auf seinem Schulwege. So ging es Tag für Tag.

Einmal traf er fremde Männer im Gang, die einen ungefügen, fast schwarzen Schrank auseinandernahmen. Solange Thomas denken konnte, stand er da, so fest, so sicher wie das Haus selbst. Er rannte zu seiner Mutter: »Ich will nicht, daß der Schrank verkauft wird« – aber er las in ihren Augen, daß es schon zu spät war.

Sie sprach mit dem Justizrat. – »Unsinn!« sagte er; »Sentimentalität! Soll ich mich seinetwegen weiterschleppen mit dem alten Zeug?« – Und er sprach selbst mit Thomas: »Es ist schön von dir, daß du an den alten Dingen so hängst; wir sollen das Vergangene ehren, Dinge ebenso wie Menschen; aber wir dürfen nicht einseitig sein und müssen auch dem Neuen sein Recht einräumen. Übrigens werden wir noch immer manches von den alten Sachen zurückbehalten müssen, mehr als mir lieb ist; du kannst also ganz beruhigt sein.«

Es war ein ödes, trauriges Gefühl, wenn er nun durch die Zimmer ging und um sich blickte; so, als sei er eigentlich nicht mehr darinnen, oder als seien die Möbel nicht mehr da. – Oft stand er plötzlich von seinen Schularbeiten auf und lief in irgendeinen Raum, der ihm mitten im Schreiben eingefallen war, und von dem er mit einem Male das Gefühl hatte, er sei überhaupt nicht mehr da. Zuerst bezwang er sich, indem er sich sagte, es sei unsinnig, kindisch, was er da denke, aber der Gedanke kam immer wieder, immer dringlicher, und endlich stand er auf und ging, nur um ihn loszuwerden. Dann sah er die anderen Räume, die er durchschreiten mußte, überhaupt nicht an, und zögerte vor dem letzten, ehe er ihn öffnete, und ihn wiederum beachtete er nicht, wenn er ihn durchschritt, um einen anderen zu suchen.

Aus diesen Gängen wurde endlich ein planloses Irren, er wußte nicht mehr, was er suchte, er war von einer allgemeinen dunklen Angst erfaßt.

Die Stuben standen voll von Kisten, die Bilder wurden von den Wänden genommen, endlich fehlten auch die Gardinen, alles war eingepackt, nur das Notwendigste, zum täglichen Leben Nötige war noch da. Die Fußböden waren nackt, die Tritte hallten, die Wände schienen noch höher als sonst.

»Übermorgen um diese Zeit ziehen wir in die neue Wohnung!« sagte Ursula; »dann singen wir: So leb denn wohl, du altes Haus; und für Thomas will ich drei Taschentücher einstecken.«

Thomas achtete nicht auf ihre Worte; er war seit einigen Tagen in einer inneren Erstarrung; langsam, ohne Gemütsbewegung, hatte sie sich in ihm vorbereitet, mehr und mehr senkten sich die Schleier auf ihn nieder.

»Es ist ja gar nicht möglich!« sagte er einmal laut, und erwachte durch seine eigenen Worte aus einem langen, tiefen Brüten. »Es ist ja gar nicht möglich!« wiederholte er, während schon die Wirklichkeit wieder um ihn stand, die er auf Augenblicke ganz vergaß, wenn er nur die starren, schweigenden Wände um sich fühlte.

Am letzten Abend stand er an seinem Schlafzimmerfenster.

Hoch und regungslos stand der Garten, feierlich umschlossen von dem Hause. Die Sonne ging zur Rüste, alles war wie immer, genau so, wie er es als ganz kleines Kind gesehen. Still und friedlich, als ob nichts sich geändert, lag das Haus im Abendlichte, lautlos stand der Garten, nur der höchste Wipfel der Linde bewegte sich leise.

Morgen sollte er das alles auf immer verlassen.

Dieser Gedanke wurde ihm immer unfaßbarer, so unfaßbar, daß er ihn fortwährend vergaß. Irgend etwas mußte eintreten, das alles änderte.

Friedlich lag das Haus im Abendlichte.

Wie wird es wohl, wenn sie alle in dem neuen Hause sind! –

Aber er ging ja mit ihnen – wenn er auf die alten Mauern sah, wenn er den Blick richtete auf all das, was er verlassen sollte, schwand ihm immer wieder langsam und vollkommen die Wirklichkeit, er fühlte sich eins mit allem, er vergaß, daß er selbst ein Mensch war, ein Körper wie jeder andere. Jenes Gefühl, das ihn als Kind zuweilen faßte, das er seither fast ganz vergaß, es schaukelte ihn wie nie zuvor. Er fühlte sich selbst, und während er sich fühlte, war er sich wieder längst entflohen, sich selber grauenhaft und fremd; und fern und fremd erschienen ihm die Menschen, die, die er nicht kannte, und die, die ihm vertraut und lieb waren.

Mit leerem Blick irrte er durch alle leeren Räume.

Der Tag war da; er erhob sich aus traumlosem, festem Schlaf. Er kleidete sich an wie jeden anderen Morgen, er ging zur Schule wie an jedem anderen Tag, er antwortete wie immer, wenn er gefragt wurde, und er kehrte wie immer um die Mittagszeit nach Hause zurück. Er aß auch wie an jedem anderen Tag, nur daß es ihm schwerer wurde, daß er sich zu jedem Bissen zwingen mußte. In einer Stunde würde der Wagen vorfahren, der sie in die neue Wohnung brachte.

Frau Elisabeth wollte diese letzte Stunde mit ihren Kindern verbringen. Aber Thomas sagte, er wolle allein sein. Sie fühlte sich zurückgestoßen, sie wollte etwas entgegnen, aber sie vollendete ihre Worte nicht, denn er sah sie mit einem so großen und sprechenden Blicke an, daß sie scheu verstummte.

Er ging in sein Schlafzimmer, verriegelte die Tür, legte sich auf den leeren Boden, hielt die Hände vors Gesicht und schloß die Augen.

Ursula sah, wie ihre Mutter blaß und traurig war, vermutete, es sei hauptsächlich Thomas' wegen, lief ihm nach und klopfte an die verschlossene Tür. Anfangs antwortete er nicht, aber als sie immer lauter seinen Namen rief und immer heftiger anpochte, schrie er endlich: »Laß mich in Ruhe, ich lese!«

»Er liest!« sagte sie empört zu ihrer Mutter; »Thomas hat nicht einen Funken von Zartgefühl. Es ist doch wirklich keine Kleinigkeit, so eine letzte Stunde in einem Hause zu verbringen, in dem man aufgewachsen ist. Da wachen doch alle Erinnerungen auf, und man fühlt erst so recht, was man verliert. Aber Thomas ist eben noch sehr jung, und deshalb muß man ihm verzeihen. Nun wollen wir beide uns noch hier in einen Winkel setzen, und da sollst du mir erzählen, wie es war, als ich ganz klein war.« – Sie ließ sich in eine Ecke nieder und sagte: »Komm, gib mir deine Hand. Sei doch nicht so traurig«, fuhr sie fort, als sie sah, wie ihre Mutter mit gesenktem Kopfe dastand, »laß mich wieder dein ganz kleines Kind sein!« – Sie klatschte aufmunternd in die Hände. Sie wußte aus Büchern, daß in großen Augenblicken Vergangenes im Menschen aufwacht, ja sie hatte gelesen, daß ein alter Mann, der hochangesehen aus dem Leben schied, in seiner letzten Stunde vermeinte, wieder der törichte kleine Geißbub zu sein, der er in seiner Kindheit war; und so wollte sie sich selber wieder ihre Kindheit verzaubern, sich vortäuschen, sie sei das ganz kleine Mädchen von früher und nicht die erwachsene junge Dame.

Frau Elisabeth durchschaute das nicht ganz, dies Wesen ihrer Tochter war ihr nur unsympathisch, aber da Thomas sich so zurückgezogen hatte und sie sich wirklich verlassen und hilfsbedürftig vorkam, so setzte sie sich neben sie, legte dankbar den Arm um ihren Hals, was sie seit Jahren nicht getan, und fing an, von Ursulas frühester Kindheit zu erzählen; und Ursula hörte gespannt zu, um nichts zu vergessen, denn all das wollte sie später in ihre Selbstbiographie bringen, wenn sie erst berühmt war. – Und während Frau Elisabeth scheinbar von Ursula erzählte, war es doch immer nur Thomas, an dessen Kindheit sie dachte, von der sie erzählte, ohne es zu wollen. – Sie bemerkte es endlich selber, und in plötzlicher Erschütterung brach sie in ihren Worten ab und wandte sich zur Seite, um ihre Tränen zu verbergen. Aber Ursula bemerkte sie doch; und da sie durch die Aufregung, durch die Selbsttäuschung, in die sie sich versetzt, durch die Erzählungen ihrer Mutter, in denen sie sich rührend erschien, selbst gerührt worden war, so brach sie in Tränen aus, ohne eigentlich zu wissen, warum. Dann wollte sie wieder ihre Mutter trösten, indem sie halb meinte, sie weine ihretwegen, über die dahingegangene Kindheit, aber Frau Elisabeth schüttelte abwehrend den Kopf und flüsterte: »Das ist es nicht.« – Da dachte Ursula, es sei des Hauses wegen, das sie verlassen mußten – natürlich, es konnte ja auch gar nicht anders sein; es war ja auch furchtbar und entsetzlich, daß sie die Stätte ihres Glückes, daß Ursula selbst die Stätte ihrer Kindheit verlassen sollte; sie hatte ebensoviel Gefühl wie ihre Mutter, ja noch mehr; sie schluchzte laut, und als nun das Mädchen den Wagen meldete, bekam sie fast einen Weinkrampf.

Thomas erschien auf der Schwelle, in Hut und Mantel. Er sah blaß und ruhig aus und sah mit abwesendem Blick auf die beiden. Ursula fiel ihm um den Hals und küßte ihn, sein Gesicht zeigte weder Überraschung, noch sonst etwas.

Langsam schritten sie die Treppe hinab; am Wagen kehrte er noch einmal um, die Haustür zu schließen. Da sah er, daß das Tor in seiner ganzen Weite geöffnet war. Er ließ die Hand, die er schon gehoben, wieder sinken, und ohne sich noch einmal umzusehen, fuhr er mit den übrigen davon.


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