Friedrich Huch
Mao
Friedrich Huch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Es war nicht mehr dasselbe Bild: Ernst blickte auf ihn, ernst und unverwandt ein Knabenkopf, wie er nie einen sah.

Thomas stand regungslos; dann warf er sich seitwärts auf die Sofalehne und vergrub das Gesicht in seine Hände. Es rieselte auf ihn herab, es durchtränkte ihn mit nie gekanntem, zartem und doch starkem Rausche: Ein Ausruhen nach langer irrer Fahrt, ein Versinken auf weichem, mächtigem Flügelfittich. Leise und unaufhaltsam rannen seine Tränen. Glück und Unglück strömten ineinander und mischten sich zu einem Neuen, das nicht das eine noch das andere war.

Langsam hob er den Kopf empor. Mit zager Inbrunst sah er auf das Bild, das den dunklen Blick schweigend auf ihn gerichtet hielt. Aus zarter Spitzenkrause wuchs der schlanke Hals, kostbar gesteppter, bläulicher Seidenstoff umschloß die breite Brust. Wie aus buntem Staub zusammengeweht erschien das Bild. Die Dämmerung wich dem Abend, es dunkelte sich mehr und mehr, und wie er sich darüber neigte, drang ein leises, leises Klopfen an sein Ohr, es pochte drinnen wie ein feiner Pulsschlag. Mit scheuer Hand strich er über das Glas, wie wenn er einen lebenden, träumenden Menschen berühre.

Er hing es leise an seinen alten Platz zurück; unkenntlich, trübe sah es auf ihn nieder.

Nun wußte er, warum das alles war; niemand sollte es erkennen, sein Wesen war Geheimnis und nur ihm gelüftet. Wer war es, und woher kam das Bild? – Die erste Frage – nichts in der Welt hätte ihm die Antwort umstoßen können. Aber woher kam sein Bild? – Er lag in Grübeln versunken, da trat Frau Elisabeth leise herein, ihm gute Nacht zu sagen. Er ließ sie nicht aus seiner Umarmung, denn die Frage brannte in ihm. Mehrmals setzte er zu einem Worte an, ohne daß sie es bemerkte, und endlich überwand er sich mit heimlicher ungeheurer Anstrengung. »Was ist das für ein Bild?« sagte er mit halber gelassener Stimme, und deutete kaum merklich empor. Sie antwortete: »Ein Knabe ist es, hast du ihn noch nie gesehen?« – Er war enttäuscht, daß sie es wußte, beeilte sich zu nicken und fürchtete, sie könne es von der Wand herabnehmen und ihm zeigen wollen. – »Wenn man es nicht wüßte«, fuhr sie fort, »so sähe man es kaum. Früher hing es dicht über deinem Bett, als du ganz klein warst und noch in der Ecke schliefst. Damals sah man es besser. Dein Vater wollte es ganz entfernen, da es so blind sei und man nichts darauf erkennen könne. Mir aber war es eine Erinnerung an deine früheste Kindheit, ja an die Zeit, eh du geboren warst und an die ganze Zeit von damals überhaupt, als ich dich erwartete; und ich war im Grunde einverstanden damit, daß es nun hoch hing und man es nicht mehr erkennen konnte.« – Sie schwieg betroffen, denn sie redete zu Thomas fast wie zu sich selbst. – »Ehe ich geboren war?« fragte er leise. – »Damals sah ich es zum erstenmal. Durch Zufall fand ich es, verstaubt und versteckt in einer Bodenkammer. Gott weiß, wem es gehörte und wie es dorthin gekommen war. Dein Vater erinnerte sich nicht; es muß vor langen Jahren im Hause einmal vergessen worden sein. Ich aber nahm es herab, denn mir tat der arme Junge leid, daß er all die Jahre da oben allein gewesen war.« – Thomas richtete sich etwas auf: »Sagst du das im Ernst?« fragte er in leisem Staunen. – »Ich meine, hier unten war ein besserer Platz für ihn, weil hier die Sonne scheint.« – Thomas sank wieder in das Kissen zurück und hörte nicht mehr auf seiner Mutter Worte. Über ihn lief eine Kühle und dann ein warmer Strom, wie Schatten und Lichtmassen über einen großen, windstillen Wald.

Er schwieg; und als sie fragte, ob er müde sei, nickte er nur leise.

Lange lag er allein mit offenen Augen. Das Haus, das Bild, er selbst – alles verklang zu einem Einzigen. Eine große, wundervolle Stille breitete sich über ihn; wie ein unbeweglich stiller, nächtlicher See, in dem der Himmel mit dem Mond sich spiegelt, ruhte seine Seele.

Aber dann durchriß ihn tiefes Weh, wenn er der verflossenen Zeiten dachte, seines unbewußten Treubruches an dem, den er, ohne es zu wissen, schon all die lange Zeit geliebt, den er ahnte, ohne daß er ihn je sah, der aus Nacht und Dämmer zu ihm herabgekommen war, der all die Jahre schon auf ihn herniederschaute, der ihn erwartete, der ihm Zeichen gab, der ihm im Traum erschien, dem er, ohne es zu ahnen, all seine Rechte, all seine Heiligtümer nahm; er häufte sie auf einen anderen, auf ihn, dem nichts, gar nichts von allem zukam, der fremd und kalt dort draußen stand, er drang ihm seine Heiligtümer auf, der sie zurückwies, der ihm den Rücken kehrte, und dem er sie auch dann noch nachtrug, den er auch dann noch mit ihnen schmückte, ohne sehen zu wollen, daß sie zu Boden glitten, daß er mit dem Fuß über sie hintrat.

Glühende Scham drang ihm aus allen Poren. Wie, wie war das alles möglich? Leuchtend, unvermittelt trat ihm jene Erinnerung vor die Seele, wie einst Alexanders Gestalt ihm fern entschwand, wie er ihn noch zu sehen glaubte und sein Blick, ohne daß er es wußte, auf dem Bilde ruhte. Und für die Dauer eines Blitzes zerriß der Schleier vor seinem Grübeln. Wie dem nächtlichen Wanderer sich die Bahn, durch die sein Fuß sich tastet, im Wetterstrahl erhellt und im nächsten Augenblick in finsteres Nichts zurücksinkt, so stand in Thomas' Seele die Gewißheit in traumhafter Helle, unfaßlich klar. Doch die Vision erlosch, ehe er sie halten konnte. Schauernd blickte er empor zur Wand, sein Auge suchte das Dunkel zu durchdringen, das Bild zu finden; er fand es nicht mehr; aber er wußte, es sah auf ihn herab, auch durch das Dunkel. –

Thomas war wie umgewandelt; alles Suchen und Tasten hatte nun ein Ende; alle Unsicherheit war geschwunden, alles Nebelige, Zwielichthafte zerstört, er lebte wieder voll in der Wirklichkeit – freilich in einer ganz anderen Wirklichkeit, als die der anderen war. Er saß in seinem Gärtchen neben dem kleinen Springbrunnen, den er einst selber angelegt; er horchte auf das leise Plätschern, und es war in Wirklichkeit das Geräusch einer fernen, ungeheuren Fontäne mitten in dem Garten. Die leuchtenden Perlen wurden zu Kristallbällen, die sich in den Himmel schleuderten und nicht mehr zurückkamen. Urwaldartig wuchs der Garten, die Nachtviolen wurden zu Riesenblüten, die Marienblumen drehten sich als Sonnenräder, der Goldlack schoß als Pappel empor, die blauen Glockenblumen wiegten sich als Turmglocken an schwanken Stämmen hoch oben in der Luft, und Falter mit leuchtenden Segeln ließen sich auf ihnen schaukeln. In der Mitte des Gartens aber glomm ein dunkles Dickicht, in dem kein Wind wehte, in dem es still war. Und dort saß der, dem das alles zu eigen war, durch seine Finger rannen funkelnde Rubine, die er vors Auge hielt und achtlos wieder fallen ließ. Sie wurden zu Purpurströmen, auf denen die Sonne glitzerte, ein Rauschen ging durch den Garten, golden war das ganze riesige Haus, alle Fenster waren weit geöffnet, und ein einziger, unsichtbarer Strom flutete durch sie, flutete durch den Garten und durch Thomas selbst. Es knirschte und knackte in dem Innern des Hauses, und Thomas wußte: Es dehnte und reckte sich. Ungesehen durchzog es unterirdisch eine ungeheure Achse, und wenn man die berührte, so erwachte es. Niemand konnte sie finden, aber sie war da. Nur einer kannte das Geheimnis, und Thomas wußte davon aus einem Traum. Er wußte jetzt auch den Namen jenes Einen: Zwischen Traum und Halbwachen sprach oder hörte er ihn.

Mao – – schrieb er nieder und starrte den Namen an wie eine Zauberformel. Dann entzündete er ihn schnell und ließ ihn verbrennen, um ihn wieder aufzuschreiben und wieder zu verbrennen. Endlich versuchte er, die drei Zeichen so auf- und übereinander zu schreiben, daß der Name für andere unkenntlich ward; und nun begann er dieses magische Symbol auf die Wände des Hauses aufzutragen, zunächst in seinem Schlafzimmer, ganz verborgen und klein, in einer Ecke. Dann auf dem Dachboden, darauf im Keller, alsdann im Saal, im Wohnzimmer, im Arbeitszimmer seines Vaters, ja endlich gab es keinen Raum im ganzen Hause – soweit er von ihnen wußte –, der nicht das Zeichen trug. Auch von dem Garten nahm er Besitz, denn er vergrub ihn in der Mitte des kreisrunden großen Rosenbeetes, das genau im Mittelpunkt lag. – Das Gold und Silber, das ihn an Alexander erinnerte, ward aus dem hohlen Holunderbaum herausgeworfen, heimlich in den Küchenherd gestopft und da verbrannt. Der Name Mao aber ward, geschnitzt in eine kleine Holztafel, in den Baum versenkt. Nun endlich enträtselte sich ihm auch das Wappenschild: Es war das Innerste von Maos Namen, das, was nach beiden Seiten hin geschützt, nur Eingeweihten sein Geheimnis offenbarte. Und wie Thomas über den Namen nachsann, der fremdartig und weich war, fand er ihn mit einem Male, umgestellt, im Herzen seines eigenen Namens wieder. Nun war er ihm ganz zugehörig; noch mehr: Einer war in dem anderen; – eine geheimnisvolle Kraft durchdrang ihn. Nun fühlte er sich als den Meister des Hauses; es lag in seiner Macht, es zu verändern, so wie es früher gewesen war: Er zauberte.

Am vollen Mittag stellte er sich mitten in sein Zimmer, nachdem die Tür abgeschlossen war, und sprach dunkle Worte, wie sie ihm in den Sinn kamen. – »Sibu«, das hieß: Der Wind soll kommen und durch die Fenster blasen, daß Musik entstehe. »Wuho!« das hieß: Das schwarze Wasser hinter dem Gartenzaun soll aufsteigen und das Haus umzingeln, daß es uneindringbar werde. Das mächtigste Wort aber bedeutete: Die Welt soll verschwinden, nur das Haus soll da sein. Und während er diese Worte sprach, glaubte er fest, daß alles geschehe, so wie er es wolle, nur daß er selbst es nicht sehen und nicht hören konnte. Mao aber sah und hörte alles und wußte noch viel mehr Worte als er selbst, Worte, über die er nachgrübelte, ohne sie zu finden, die Unerhörtes bedeuteten, Unerhörtes, dessen Riesenschatten zurückwich und sich zerlöste, wenn er den Blick seines Bewußtseins darauf richtete. –

Dann wieder faßten ihn Zweifel, wenn er etwa ein Wort sprach, das bedeutete: Der alte Turm soll sprechen! und unerschütterliches, unerbittliches Schweigen um ihn wuchtete, während er erwartend auf den feierlichen, finsteren sah. Und einmal stand er nach dem Regen in dem Garten, vor einer kleinen, dunklen Wasserlache, in der sein Spiegelbild vollkommen schwarz erschien. Und obgleich er wußte, es war nur eine Wasserlache, so wußte er auch: Es wurde ein unendlich tiefer See, wenn er sich mit dem Kopf voran in ihn hineinstürzte. So stand er vor ihm, wollte tun, wozu ihn sein Glaube trieb, und immer wieder hielt ihn etwas zurück. In solchen Augenblicken überkam ihn eine tiefe Traurigkeit, ein grauenvolles Gefühl, das, wenn es andauerte, ihn hätte versteinern müssen: Die dunkle Ahnung des Nichts, der leere, gespenstische Blick der Wirklichkeit.

Aber er schob die Schuld auf sich: Wenn er den Turm nicht sprechen hörte, wenn auf seinen Befehl der Boden nicht zu sinken begann, um ungewisse, versunkene Stockwerke von früher an das Licht zu bringen, wenn die Wurzeln der uralten Linde unter dem Boden, auf dem er stand, nicht zu pochen begannen, um zu bekräftigen, daß der Baum einst von Mao als zartes Reis gepflanzt war, wenn das Wappenschild unter dem Dach im Dunkel nicht erglühte, wenn die schwarzen, lautlosen Fledermäuse in ihrem irren Flug nicht plötzlich innehielten und starr in der Luft standen, um zu beweisen, daß alles, was er dachte, wahr sei: Dann fühlte er: Nur sein Glaube war nicht stark genug, oder, wenn er es war, so reichte seine Fassungskraft nicht an das Wahrnehmen des Wunders.

Einmal trat er vor Maos Bild; er wollte ihn lebendig zaubern; aber das Wort, das sonst von selbst kam, ohne daß er es suchte, stellte sich nicht ein. Da erschien ihm sein Unterfangen frevelhaft, vermessen. Tagelang verließ ihn nicht ein Gefühl von Schuld und Scham, ein peinigendes, quälendes Gefühl der Erniedrigung, daß er Mao nicht mehr in die Augen blicken konnte.


 << zurück weiter >>