Friedrich Huch
Mao
Friedrich Huch

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»Er ist hochmütig!« so hieß es; die einen meinten, weil er von mütterlicher Seite aus einer Adelsfamilie stamme, die anderen, weil er stets blendendreine Wäsche trug, wieder andere, weil sein Vater ein Haus besitze, das fabelhaft groß sei, und einen uralten Garten, der sich weithin erstrecke; so wenigstens sagte man; das Haus – nun, von vorne war es immerhin recht ansehnlich, aber was dahinter war, konnte niemand wissen; den Garten aber hatte überhaupt noch niemand zu Gesicht bekommen. Wer konnte auch im Ernste glauben, daß sich darin – wie Thomas in der Botanikstunde angab – ein Baum befand, so hoch wie ein Haus, der wirkliche Tulpenblüten trug? – Er solle eine jener Blüten mitbringen, so forderte man, damit er beweise, daß er wahr gesprochen. Aber ihm lag nichts daran, ob sie ihm glaubten oder nicht, und er maß sie nur mit einem stummen Blicke. Sie waren ihm alle gleichgültig. Mit Alexander, den er früher mied, verkehrte er jetzt wie mit jedem anderen, und Alexander, der weder den früheren Wechsel begriff noch den jetzigen, aber gegen Thomas im Grunde nichts einzuwenden hatte, hielt sich in den Grenzen des Verkehrs, die Thomas vorzeichnete. Wenn er sich auf dem Nachhauseweg von ihm verabschiedete, streckte er Thomas die Hand entgegen mit einer Bewegung, die, bestimmt und von reservierter Herzlichkeit, ungefähr besagte: Ich will dich nicht länger aufhalten – also bis zum nächsten Male. – Und doch geschah es einmal, daß Alexander die alten Erinnerungen aufrührte. Das war an einem Sommerabend, als sie von einem Schulausfluge heimkehrten. Schon am Nachmittage hatten sich die beiden, ohne daß der eine den anderen suchte, von den übrigen abgesondert, durch Zufall waren sie zusammengetroffen, hatten erst gestutzt, wie sie sich plötzlich allein sahen, und dann waren sie wie selbstverständlich nebeneinander hergegangen, erst wortlos, dann im Gespräche; und wie sie so zusammengingen, wie in alter Zeit, begann Alexander wärmer zu empfinden, und er meinte, Ähnliches müsse auch in Thomas vorgehen. Er sah, auch Thomas hatte keine eigentlichen Freunde, geradeso wie er; weshalb sollte nicht das frühere, herzliche Verhältnis wiederkehren? Sie redeten über die gleichgültigsten Dinge, aber wie Thomas ihm unter der Tür seines Hauses die Hand entgegenstreckte, hielt Alexander sie unschlüssig längere Zeit, und dann sagte er: »Thomas, wir waren doch früher Freunde; hast du das ganz vergessen?« – Thomas erblaßte. »Nein,« sagte er, »das habe ich nicht vergessen,« und suchte ihm die Hand zu entziehen. – »Können wir nicht wieder Freunde werden, so wie früher?« – »Laß mich los,« sagte Thomas, »und wenn du willst, daß wir weiter miteinander verkehren so wie jetzt, so sage das nie wieder.« – Er entzog ihm seine Hand, trat in den Vorplatz zurück und schloß die Haustür. Dann ging er langsam die Treppe empor, und wie er in seinem Zimmer anlangte, stand er regungslos, und seine Schläfen klopften.

Es dauerte eine Zeit, ehe er die große Verstimmung, die jener Abend in ihm aufrührte, überwand. Er war nicht traurig, er war auch nicht unglücklich, aber eine dumpfe Leerheit war in ihm, und sie verkörperte sich in jenem Kopf, den er gedankenlos aufs Löschblatt, in seine Bücher malte: Ein armseliges, verzeichnetes Profil, in allen seinen Teilen falsch und verzerrt. Aber jene Stimmung verging wieder; der Zwang der Schule, das lebendige Treiben um ihn herum half dazu, und auch er selbst gab sich Mühe, sie von sich abzuschütteln. Er hatte allmählich Erfahrung gewonnen und wußte, daß alles Trübe, Traurige vergeht im Leben, wenn man es möglichst wenig beachtet, wenn man tut, als sei es im Grunde gar nicht da, wenn man die Augen fest ins Licht kehrt. – »Mach dir Bewegung und turne« – hatte der Justizrat zu ihm gesagt, und Thomas, der es gelernt hatte, in seinem Vater ein Vorbild zu sehen, folgte ihm und fand, daß er recht habe. Denn wenn er erschöpft von solchen Übungen in sein Zimmer ging, so war ihm frei und frisch zumute. Ein anderes Mittel, das er sich selbst ausgedacht hatte, half fast noch besser: Er schlug sich rechts und links rücksichtslos mit den flachen Händen gegen das Gesicht, bis es heiß wurde, gegen Backen, Stirn und Hinterkopf, und nach solcher Maßregelung kam er sich vor wie ein Herr, der seinen Sklaven gezüchtigt hat, und der weiß, daß jener ihm nun wieder für einige Zeit gehorsam folgt.

Alexander versuchte keine neue Annäherung an Thomas, es schien sogar, als vermeide er ihn jetzt ein wenig; aber Thomas tat, als bemerke er es nicht; er hatte gegen ihn eine Sicherheit des Tones wie ein Erwachsener, und auch Alexander kehrte zuweilen die Augen vor seinem Blicke fort, der so war, als richte er sich auf eine Sache und nicht auf einen Menschen.

Mehrere Mitschüler erlebten Enttäuschungen mit ihm. Er täuschte sie, ohne es zu wollen. Es konnte immer noch geschehen, daß er sich scheinbar anschloß an einen Kameraden. Aber ebenso oft geschah es, daß er plötzlich einmal mit Widerwillen an ihn dachte, ohne den geringsten Grund dafür zu wissen; daß er ihn, ohne es zu wollen, kalt, hochmütig behandelte und ihm schließlich geradeheraus erklärte, er wolle nicht mehr mit ihm verkehren. – Einmal sagte ein so Zurückgestoßener: Einen wirklichen, wahrhaften Freund behandle man nicht so. Da sah ihn Thomas mit einem großen, halb erstaunten, halb kalten Blicke an und erwiderte: »Freund? Hast du dir eingebildet, daß wir Freunde wären? Da müßtest du ein anderer sein!«

Um so merkwürdiger war sein Verkehr mit einem großen untersetzten, breitschultrigen Jungen, der täglich morgens aus einem benachbarten Dorfe zur Schule fuhr, durchaus wie der Sohn eines Bauern aussah und für die Klasse viel zu alt war. In der Turnhalle hatte sich dieser Verkehr entwickelt. Thomas wußte genau, daß er sich im Grunde nichts aus ihm machte, aber gerade weil diese Freundschaft keine Abkühlung, keine Enttäuschung erfahren konnte, war sie von etwas größerer Dauer. Thomas half ihm vor der Stunde an seinen Arbeiten, da er ein wenig schwer begriff, freute sich an seinen täppischen Ausdrücken für Dinge, die er nicht verstand, gab ihm gern von seinem Taschengelde, da jener schon rauchte, und der andere wiederum brachte ihm zum Dank eine Pflaume, einen Apfel oder eine Birne mit aus seinem Dorfe. Auch mußte er Tintenflecke in Thomas' Heften ausradieren, ihm Bleistifte spitzen, alte Stahlfedern aus dem Halter entfernen, ihm beim Anziehen des Mantels behilflich sein und in den Pausen, wenn es Thomas einfiel, zum Konditor hinüberlaufen, um Süßigkeiten für ihn zu holen. Zum Dank erhielt er ein Stück davon, das er mit dem Munde fangen mußte. Thomas nannte ihn Barry, und in der Tat war er für ihn ein großer, folgsamer, treuer Hund, auf den er sich verlassen konnte. Die Klügeren unter den Lehrern wunderten sich, was wohl den feinen, sich abschließenden Sohn aus der hochangesehenen Familie mit dem breiten, in seinen Manieren ungehobelten Bauernjungen verbinde, und auch den Mitschülern war diese Freundschaft nicht verständlich. Sie versuchten, ihn mit seinem plumpen Freunde lächerlich zu machen; aber Thomas sah nur nachdenklich und langsam, ohne ein Wort zu sprechen, an ihnen herunter. Und sie ließen es ganz, als einer unter ihnen von Barry, der einmal dazukam, auf Thomas' Wort und lässige Handbewegung eine schallende Ohrfeige erhielt. Barry war der stärkste in der Klasse. Diese Stärke war etwas Unwandelbares, auf das man sich verlassen konnte, etwas, das mit ihm selbst eigentlich gar nichts zu tun hatte, und gerade deshalb mochte Thomas ihn so gern. Jede Woche freute er sich schon auf den Samstag, denn da entfaltete sich diese Kraft vollkommen.

Am Samstag fand nach Schluß der Schule mit Regelmäßigkeit die große Schlägerei statt zwischen den Gymnasiasten und den Bürgerknoten, womit man die Schüler der Volksschule meinte, ein Ausdruck, der Thomas außerordentlich gefiel. Er selbst nahm niemals an diesen Schlägereien auf dem Kirchplatz teil. Barry besorgte ihm ein gutes Plätzchen, wie einem Zuschauer im Theater, und holte ihn am Ende der Schlacht dort wieder ab. – Obgleich beide Heereshaufen sich um die gewohnte Stunde mit zielbewußter Absicht aufeinander zu bewegten, lag doch jedesmal der Schein eines zufälligen Anlasses zum Kampfe vor: Auf einem sehr schmalen Fußsteig wurden je zwei Feinde einander entgegengeschickt. Anscheinend in ein Gespräch vertieft, bewegten sie sich unentrinnbar aufeinander zu: Ein heftiger Ruck und einer flog vom Pflaster auf die Straße. Die Beendigung dieser Zeremonie war zugleich das Signal zum allgemeinen Kampfe.

Da war der Häuptling der Volksschule, dessen Handgelenke und Fußknöchel weit aus dem zu kurzen, schlotternden grauen Anzug herausschauten; der keine Strümpfe trug, dessen hängende Unterlippe troff wie bei einem Hunde; er hatte fürchterliche Mandelnarben an beiden Seiten des Halses und zwei schreckliche Augen, in denen sehr viel Weiß war, eine gerötete, aufgestülpte Nase und eine schauerliche Stimme. Mit lebhafter Freude erfüllte Thomas der Anblick dieses Scheusals. Er sah auf ihn, so wie man im zoologischen Garten auf ein phantastisches Ungeheuer sieht; und auch Barry, der nun zum Kampfe auf ihn zutrat, erschien ihm ganz wie ein Tier. Barry verlor nicht einen Augenblick seine Ruhe und Gemessenheit. Mit vorgeschobenen, trotzigen Lippen, mit zusammengezogenen Augenbrauen und gesenktem Nacken stand er da, der Blick seiner treuherzigen, kernigen Augen bohrte sich über die Schulter seines Feindes hin in den Erdboden, wortlos, schnaufend suchte er ihn hinzustrecken. Sein Gegner stieß zeitweilig ein halbverstopftes, posaunenartiges Geheul aus.

Aber wenn nun hochgestreckt der Doppelkörper über dem Boden schwankte, als sei er angefüllt mit rollendem Metall, das ihn bald auf die eine, bald auf die andere Seite neigte, wenn er sich selbst vom Boden senkrecht in die Luft emporriß, sich hob und hob, fast im eigenen Gleichgewichte schwebte, sich auf die Seite neigte und endlich, endlich niederfiel, unter dem Siegesgeschrei der Umstehenden, dann vergaß Thomas alles um sich her; etwas Unerhörtes brach in ihm hervor, taumelnd, schwindelnd. Dann erörterten die anderen im lebhaften Gespräch, durch welchen Griff der Gegner besiegt sei, wie der andere anders hätte anfassen sollen – und dann sank mit einem Male alles in ihm zusammen, er war wieder in der Wirklichkeit, und kalt griff sie ihm ums Herz.

Einmal durchbrach er die Reihen und küßte im Taumel seinem Freunde beide Hände. Aber fast im selben Augenblick schon packte ihn die Ernüchterung; was er tat, erschien ihm unfaßbar, unmöglich, zu Hause rieb er seine Lippen mit Wasser und mit Seife, und als er am nächsten Tage seinen Freund wiedersah, der ihm die Hand entgegenstreckte, tat er, als sei er beschäftigt, in den Pausen vermied er ihn, und alsbald galt Barry ebenfalls als abgesetzt, wie sich die Kameraden ausdrückten.

Abscheulich war Thomas dies Erlebnis in der Erinnerung; es trieb ihm die Röte auf die Stirn, als er zu Haus an seinem Tische saß. Aber er sprang plötzlich auf, riß die offenen Vorhänge der Fenster noch weiter auseinander, schnallte seine Schulmappe ruckmäßig auf, stellte den Federkasten scharf auf den Tisch und öffnete das Übersetzungsbuch; alle seine Bewegungen hatten etwas Taktmäßiges, Festes. Die Arbeit, die er schrieb, war die beste und brachte ihm Lob ein.


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