Friedrich Huch
Mao
Friedrich Huch

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Thomas lief das Blut zu Herzen. – »Also nimm, schnell, schreib«, sagte er endlich.

Am vergangenen Tag ging er hinter Herrn Matthes her, und während er so ging, dachte er, wie sonderbar das eigentlich sei, daß der da so ahnungslos vorausschritt, während er selbst hinter ihm war. Da machte er hinter seinem Rücken jene Fratze, er wußte selber nicht weshalb. Da nicht das geringste daraufhin geschah, machte er sie gleich noch einmal.

»Bist du fertig?« fragte er drängend und streckte die Hand aus. Der andere schob den Federhalter ruhig in seine Tasche, hob den Kopf und verzog den Mund zu einem breiten, lautlosen Lachen. Jetzt erst begriff ihn Thomas. Im ersten Augenblick wortlos, tat er, von innerem Schamgefühl getrieben, als sei das Geschenk von Anfang an verabredet gewesen, und setzte von oben herab hinzu: »An dem Federhalter liegt mir gar nichts.«

Damit war für ihn alles abgetan, und er lief hinaus, Alexander noch zu sehen, aber er fand ihn nicht mehr.

Am nächsten Morgen hatte er die Sache fast vergessen. In der Pause aber kam jener Mitschüler wieder auf ihn zu und wich nicht von seiner Seite. Alexander stand wie gewöhnlich in einer Ecke des Schulhofes, allein, verzehrte sein Brötchen, und Thomas machte verzweifelte Anstrengungen, von ihm nicht gesehen zu werden. – »Was willst du denn von mir?« fragte er endlich heftig, indem er stehen blieb. – Wieder zog er seinen Mund in die Breite. – »Ich kann doch mit dir spazierengehen«, sagte er bedächtig, und nach einer Pause fügte er hinzu: »Du, schenk mir deinen schönen Bleistift.« – Thomas wurde blaß. »Auf keinen Fall«, sagte er fest und bestimmt. – »Dann sage ich es.« – Sie redeten hin und her, endlich zog Thomas den Stift aus der Tasche und warf ihn ihm vor die Füße. – »So gibt man ein Geschenk nicht, heb ihn auf, sonst sage ich es.« – Glühend vor Scham mußte er sich bücken, da half nichts; die Vorstellung, daß er in der Klasse vor allen Schülern, vor Alexander mit dem Stock geschlagen wurde, war stärker als alles andere. In Abständen, die kleiner und kleiner wurden, ward er nun um dieses und jenes gebeten, und als täglichen Tribut mußte er endlich außerdem noch Schinken und Wurst, die ihm die sorgliche Frau Elisabeth aufs Brot tat, bis auf das letzte Stückchen abliefern.

Das alles ging noch hin; aber das schlimmste war, daß sein Feind vor den anderen so tat, als seien sie eng befreundet. Er wartete in den Pausen vor der Tür auf ihn, hakte seinen Arm in Thomas' Arm, nahm ihn in Schutz vor anderen, wo es gar nicht einmal nötig war, sicherte ihm das beste Plätzchen, wenn es galt, einem Jungensringkampf zuzuschauen, und war überhaupt diensteifriger wie ein Untergebener.

Thomas suchte sich im Gewühl mit anderen durch die Tür zu drängen oder blieb auf seinem Platze sitzen; es half alles nichts. – »Was hast du denn gegen mich? Bin ich dir nicht gut genug? Tue ich nicht alles, was du willst?«

Thomas ging wie in einem bösen Traum umher. Alexander war nun schimmernder denn je, unerreichbarer; wie ein Prinz schaute er von ferne fremd und verwundert auf das Paar, das unzertrennlich schien. Thomas litt die ärgsten Qualen.

Die Forderungen nahmen an Bedeutung zu. Mit Ungeduld drängte ihn sein Feind, er solle ihm einen abgelegten Anzug schenken; er beschaute bereits prüfend den, welchen Thomas noch auf dem Leibe trug, behauptete, er sei nicht mehr gut für einen Sohn aus so reicher Familie, wollte den Stoff befühlen, während Thomas ihm mit heftigem und unwillkürlichem Ruck auswich, und sagte: »Es kommt nur auf dich an, ob wir Freunde oder Feinde sind; von mir aus können wir die besten Freunde bleiben – also bekomme ich den Anzug?«

So zog die ganze Angelegenheit ihre Kreise bereits in Thomas' elterliches Haus. Frau Elisabeth fand ihn kramend vor seinem Kleiderschranke. Er mußte lügen, sein abgelegter Anzug sei für den Schusterssohn, und Ausflüchte erfinden, daß er selbst ihn in sein Haus bringen wolle. Sie wunderte sich etwas über die plötzlich erwachte Regung in ihrem Sohn, der nun alles, was irgend anging, zusammenraffte. – »Weshalb faßt du denn alles nur mit den Fingerspitzen an, als wären es schmutzige Lumpen?« – Thomas packte das Bündel zusammen, und sowie er es aus dem Hause geschafft hatte, war er ein wenig erleichtert. Durch Straßen, Gassen und Gäßchen gelangte er nach manchem Fragen endlich an jene häßliche, abgelegene kleine Ecke, an die er bestellt worden war. Es war ein feuchter Abend, leiser Regen stäubte an den Laternen nieder. Wenn ihn jetzt jemand sähe! – Der andere war noch nicht da; Thomas wartete nur fünf Minuten, es deuchte ihm eine Ewigkeit. Endlich erschien er, sich immer im Schatten gedeckt haltend, lobte Thomas wegen seiner Pünktlichkeit und wollte das Paket in Empfang nehmen. – »Du bekommst es nicht, wenn du mir nicht die Hand darauf gibst, daß ich dir nie wieder etwas geben muß und daß du mich nicht anzeigst und daß ich nicht mehr mit dir zu gehen brauche.« – Er bedachte sich einen Augenblick, dann reichte er ihm die rechte Hand. Thomas nahm die Fingerspitzen und wollte sich schnell entfernen, mußte aber warten, bis der andere das Paket auseinandergewickelt und nachgesehen hatte, ob Thomas auch nichts zurückbehalten habe. Es war aber so viel darin, daß er ein ganz zufriedenes Gesicht machte und sich noch einmal bedankte.

Von dem Tage an hatte Thomas Ruhe. Sein unfreiwillig gewonnener Kamerad schien ihn kaum mehr zu kennen. Er brauchte nicht mehr mit ihm auf dem Hof zu gehen, und seiner Bekanntschaft mit Alexander hätte nichts mehr im Wege gestanden. Aber Thomas schämte sich vor ihm. Er wagte gar nicht ihn anzublicken, und Alexander wiederum schien jede Lust zum Verkehr verloren zu haben.

Eines Abends saß er wie gewöhnlich bei der Lampe vorn im Zimmer und machte seine Schularbeiten; da pfiff draußen jemand leise den Schulpfiff. – Alexander, dachte er, und mit Herzklopfen öffnete er das Fenster.

Aber schnell trat er zurück und setzte sich wieder auf seinen Platz, bewegungslos, kleine Körnchen flimmerten ihm vor den Augen. Jetzt begriff er es, warum ihn sein Feind in den letzten Tagen so nachdenklich von ferne ansah. – Nach einer Weile pfiff es von neuem, viel lauter als das erstemal. – Ihm wurde übel. – Wenn er nun die Treppe hinaufkam und läutete? Hastig sprang er auf und lief hinab. – »Was willst du?« fragte er tonlos und drängte ihn auf die Straße zurück. – »Geld!« – »Ich habe keins.« – »Du kannst es schon; wer so reich ist wie ihr!« – Thomas' Beteuerungen halfen nichts. Seine Vorstellungen, Beschwörungen, Erinnerungen an die rechte Hand wurden mit der Bemerkung zurückgewiesen, er habe Herrn Matthes zweimal die Zunge herausgestreckt, und sein Versprechen, ihn nicht anzuzeigen, habe nur für das erstemal gegolten. »Und wenn du mir das Geld nicht gibst, so sage ich es.« – Dies letzte Wort war ein Befehl des Schicksals. – »Mein Vater hat eine Masse Briefmarken in der Lade; willst du von denen?« – Er nickte und sagte, Thomas möge sie herunterbringen. – Unwillkürlich sah Thomas scheu zum Haus hinauf, empor zu jenen Fenstern, die zu seines Vaters Arbeitszimmer gehörten. Sie waren beide erleuchtet. – »Ich kann jetzt nicht, mein Vater ist noch zu Hause.« – »Dann warte ich hier unten, bis er fortgeht und das Licht ausmacht, und dann pfeife ich.« – »Nein!« rief Thomas in fürchterlicher Angst, »das tust du nicht!« – »Dann komme ich herauf und läute. Deiner Mutter will ich schon so was sagen, daß sie nichts merken soll.« – Da trat Thomas dicht vor ihn hin, sah ihn durchdringend an und sagte mit glockenklarer Stimme: »Glaubst du, ich sei ohne Schutz?« so daß er ihn ganz betroffen anblickte und für einen Augenblick eingeschüchtert schwieg. – »Gut«, sagte er nach einer Weile, »dann bringst du sie mir morgen in die Schule, und damit soll die Sache dann abgetan sein.«

Thomas' letzte Worte hatte er falsch verstanden; er dachte nicht anders, als er drohe ihm mit der Polizei oder der Dienerschaft, oder als würde seine Mutter ihn schimpfend hinauswerfen. Thomas aber hatte sie ganz anders gemeint. Daß jener das Haus betrat, in sein Inneres drang, dies schien ihm so ungeheuerlich, daß er die plötzliche Gewißheit hatte, irgend etwas müsse ihn retten, irgend etwas Fürchterliches werde unausbleiblich eintreten, eine Katastrophe, von selbst herbeigeführt, eine Rache, die genommen wurde.

»Was ist dir denn?« fragte Frau Elisabeth. Sie hatte in der letzten Zeit seine Verstörtheit, seinen Mangel an Appetit wohl bemerkt und sogar einmal davon geredet, den Arzt kommen zu lassen. Er aber schützte Kopfschmerz vor und begab sich früh zu Bette. Morgen vor der Schule würde er in seines Vaters Arbeitszimmer schleichen und die Marken holen. Er war bereits an diesem Abend einmal darin gewesen, aber es kam jemand dazu, und er entschuldigte sich, ohne daß es nötig gewesen wäre. Und was würde es helfen? Er würde doch immer wiederkommen.

Nachts fuhr er aus schlimmen Träumen auf. Er öffnete die Lade, er hörte ein Geräusch, er stieß die Lade zu und riß und riß an den Markenstreifen, die immer länger, immer unabsehbarer aus dem Spalt hervorquollen; dann lag er mit offenen Augen unbeweglich in seinem Bette, hörte den unermüdlichen Gang der kleinen Pendeluhr und sein eigenes schnelles Herz. Beide gingen auf Stelzen um die Wette.

Frierend, mit schwerem Kopf schlich er im grauen Morgen in seines Vaters Zimmer. Die Lade war verschlossen; verzweifelt mühte er sich, sie zu öffnen.

»Nun zeige ich dich an.« – Herrn Matthes' Stunden waren die beiden letzten. Es war, als könne es nie zehn Uhr werden. Und doch verrann eine Stunde nach der anderen. – Herr Matthes trat herein; Thomas ließ seinen Feind nicht aus den Augen. Und wirklich hob er den Finger, erst ein wenig, dann immer höher, doch stets so, daß es Herr Matthes nicht bemerken konnte. Schrieb er etwas an die Tafel, so ragte er hoch in die Luft, und Thomas stand Todesangst aus, Herr Matthes könne sich schnell herumwenden. Die Stunde verging, bleischwer waren seine Glieder; leise klapperten seine Zähne. Die zweite Stunde begann, ihm ward mitgeteilt, Herr Matthes habe in der Pause alles erfahren, in der nächsten Stunde würde er gezüchtigt werden. Blickte ihn Herr Matthes an, so sah er stumm zur Seite, sein Inneres war zusammengeschnürt, Herr Matthes redete lauter als sonst, er brüllte beinah, alles klang viel lauter als sonst, und dazu dröhnte fortwährend etwas aus der Ferne. Sein offener Federkasten war wie eine schwarze Kiste, der Halter schwoll dick unter seinen Fingern, riesengroß wuchsen die Buchstaben, die er mechanisch malte. Da schallte die Schulglocke fürchterlich. Thomas' Herz schlug jetzt mit Peitschenschlägen. Er schloß die Augen, eine Flut jagte über ihn dahin. Herr Matthes verließ die Schulstube wie an jedem anderen Tag.

Morgen, auf jeden Fall!

Dies Wort, halb geflüstert an seinem Ohr, hatte kaum eine Wirkung mehr auf ihn. Es summte und klang in seinem Innern; taumelnd erhob er sich, die Häuser auf den Straßen schwankten, er wußte nicht, wie er nach Hause kam. – Frau Elisabeth war erschreckt, als sie ihn sah; in seinen Augen lag ein Flackern. Sie sah sogleich, wie krank er war, entkleidete ihn und legte ihn zu Bette.

Bald begannen seine Phantasien. Er warf die Decke von sich und stieß einen Schrei aus, als er seine Mutter sah. Sie umfing ihn mit ihren Armen, aber in Todesangst stieß er sie zurück und schrie: »Du sollst mich nicht anfassen, du bekommst sie, du bekommst sie!« Mit geschwätziger Stimme setzte er dann auseinander, man müsse den Schreibtisch seines Vaters des Nachmittags um vier Uhr öffnen; da sei die Zeit, wo er am sichersten zu treffen sei; die Lade sei voll Marken, aber er habe auch Geld darin gesehen, wirkliches, wirkliches Geld. Das müsse man verkaufen gegen Marken, es sei so viel, daß er für sein ganzes Leben daran genug habe. Den nächsten Anzug aber werde er überhaupt nicht tragen, sondern gleich vom Schneider zu ihm schaffen lassen, da lägen noch viele Rollen Stoff für alle Anzüge, die man im Leben trage, so viele, so viele, so viele...

Frau Elisabeth hörte auf diese Reden, in denen Schreckliches verborgen lag, und Erbarmen schlug in ihr um ihren Sohn. Was mußte er durchlitten haben! Sie faßte seine Hand, er aber entzog sie ihr schnell und sagte: »Aber anrühren darfst du mich nicht, niemals; ich will dich dein ganzes Leben lang erhalten, aber wenn du mich ein einziges Mal berührst – wenn du ein einziges Mal in unser Haus kommst« – er atmete schneller »wenn du nur einmal in unser Haus kommst« seine Augen starrten auf zur Decke, und sein Geist ward gerissen in irre Traumflut. Da sah er ihn schon, aus dem Strahlenfeuerkranze oben in der Mitte des Saales schaute sein Kopf hindurch, die Augen blinzelten, und nun sprang er herab. Das Haus erdröhnte, wiehernd schüttelten sich die Wände, alles wankte und schwankte, und der Onkel Matthäus brüllte vom Ofen her: »Die alte Bude muß eingerissen werden.«

So lag er tagelang im Fieber; Visionen des Hauses glitten häufiger in seine Träume. Fetzenweise loderten sie auf in großen Bildern, zumeist verknüpft mit der letzten Vergangenheit: Der Sturm jagte über den Garten hin und spaltete die alten Bäume, das Wappenschild zerbarst. – – Er lag im Grase, das hoch emporstand, in den Bäumen läuteten die Bienen, ein Glas schob sich an seine Lippen, er wollte trinken, der Arm ward länger und wuchs auf durch den ganzen Garten bis hoch zum Giebel, wo sein Todfeind saß. Eine leise begütigende Stimme drang an sein Ohr: Der Arm verschwand, und statt der schrecklichen Gestalt gewahrte er dort oben Alexander. – – Feuer zischte aus allen Spalten und Fugen des Hauses, er wollte retten, löschen, Brandglocken dröhnten, und die lohe Fackel oben auf dem Turme schwang in riesenhaftem Kreise. Die Balken sprühten, knisterten und qualmten, und wie sie berstend niederkrachten, stand dort oben eine einsame Gestalt. Was er für Feuer sah, ward Glut der Abendröte. Leuchtend im Rosenlichte lag das Haus, regungslos stand die Gestalt. Zitternd streckte er die Arme nach ihr aus, er flüsterte einen Namen. Sie wich zurück, schwand ferner, verblaßte, zerging in schimmerndem Nebel – – noch traumverloren, halbwach, ruhte sein Blick auf dem trüben, blinden Bilde, das hoch am Fußende seines Bettes hing.

Lange lag er so mit offenen Augen. Ganz in der Ferne klang etwas leise, leise; langsam, zum ersten Male, erkannte er, wo er sich befand. Er schloß die Augen wieder, dachte nichts und fiel in langen, traumlosen Schlaf.

Beim nächsten Erwachen erinnerte er sich an alles, was geschehen war, gleichgültig, als gehe es einen anderen an. Er überlegte, daß er aufstehen müsse – es war gewiß schon spät – er wollte sich erheben, sank aber sogleich in Schwindel in die Kissen zurück. Seine Mutter trat leise ein, sah ihn halb aufrecht, er streckte ihr den Arm entgegen, und lautlos sank sie an seinem Bette nieder. Er mahnte mit matter Stimme, er müsse in die Schule, sie schüttelte den Kopf und küßte wieder und wieder seine Hände. Was war ihr nur? – Langsam, voll Schonung, erfuhr er nun, daß er Tage und Tage hier im Bette lag, während er vermeinte, es sei nur eine Nacht verflossen. Er wollte erzählen, was geschehen war, sie aber flüsterte, das alles habe seine Zeit, er solle ruhen und Kräfte sammeln. –

Tage vergingen, noch immer fühlte er sich matt, aber dann erzählte er alles, mit ruhiger Stimme, ohne die geringste Erregung. Selbst seinen Vater sah er ohne Angst. Der verließ ihn mit der Versicherung, er werde sogleich zum Direktor gehen, Thomas brauche sich nicht zu ängstigen, alles werde auf das beste erledigt werden. – Und in den nächsten Tagen brachte er die Nachricht, jener Schüler sei auf eine andere Schule gewiesen worden.

Herr Matthes erwähnte den Vorfall mit keinem Worte, war freundlich zu ihm wie immer, und Thomas erschien das Ganze wie ein Traum. Es war ihm fast sogar, als sei jener ausgewiesene Schüler und sein Feind gar nicht ein und derselbe Mensch, und auch auf Alexander blickte er aus Fernen.


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