Friedrich Huch
Mao
Friedrich Huch

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Fünftes Kapitel

Alexander trat eines Tages nach der Stunde zu Thomas hin und sagte ihm, er werde am nächsten Sonntag zu ihm kommen. Thomas entgegnete darauf nichts, auch zu Hause schwieg er, und erst als Frau Elisabeth ihm am Sonntagmorgen ganz nebenbei mitteilte, sie wolle am Nachmittag mit ihm ausgehen, antwortete er in scheinbar gleichgültigem Tone: ein Bekannter würde ihn besuchen. Frau Elisabeth schien überrascht und sagte, es freue sie, daß er sich endlich einmal einen Freund einlade.

In Wirklichkeit war diese Einladung einzig und allein ihr Werk. Eines Abends, als sie noch einmal an Thomas' Bett trat, während er schon schlief, sah sie aus seinem Nachtkleid etwas Blaues hervorschimmern. Vorsichtig zog sie es halb heraus und fand, daß es ein altes Schreibheft war, das Alexanders Namen auf dem Schilde trug. Thomas hatte es einmal unbemerkt aus dem Papierkorb herausgenommen. Sie schob es wieder an seinen Körper und bedeckte seine Brust. – In Erinnerung an eigene Schwärmereien aus ihrer Mädchenzeit untersuchte sie darauf die Sachen, mit denen Thomas am meisten umging, und wirklich fand sie hie und da ein Zeichen aufgeschrieben, das der erste Buchstabe von Alexanders Namen zu sein schien, in römischer Form; nur fehlte jedesmal der mittlere Querstrich, worüber sie sich wunderte; dann aber legte sie es sich so aus, als wolle Thomas das Zeichen für andere unkenntlich schreiben, was ihr sehr gut zu seiner Art zu passen schien. – Die Entdeckung dieses Geheimnisses erleichterte sie sehr. Sie sah nun, daß er Freundschaften wohl zugänglich war, daß nur Verschwiegenheit ihn hinderte, sein Gefühl zu äußern. In aller Stille setzte sie sich mit Alexanders Mutter, die sie flüchtig kannte, in Verbindung, und damit war die Bekanntschaft eingeleitet.

Thomas aber dachte gar nicht darüber nach, wodurch dieses Glück herbeigeführt sei. Er kam auch gar nicht auf den Gedanken, der der nächstliegende war: Alexander wolle ihn gern kennenlernen; er fühlte nur zagende Freude.

Und Alexander kam.

Thomas sah ihn vom Fenster des Saales aus ins Tor hineinschreiten; er wußte, nun ging er die Treppe hinauf; sein Fuß berührte das Holz der Stufen, er schritt empor zum ersten Stockwerk, jetzt war er mit ihm auf gleichem Boden, nun faßte seine Hand den Klingelzug – er lauschte mit Anspannung – der altgewohnte Ton klang fernher durch das Haus; aber wie anders klang er als sonst! – Er hörte Schritte, die große Flügeltür öffnete sich, unbeweglich sah er vom entgegengesetzten Winkel auf sie hin.

Alexander schritt auf ihn zu, bot ihm die Hand und entschuldigte sich, daß er sich etwas verspätet habe.

Aus dem Banne des Zaubers halb erwachend, lächelte er statt einer Antwort. Nun fühlte er sich beklommen, der eingebildete und der wahre Alexander verschmolzen zu einem dritten, den er vor sich sah, in handgreiflicher Deutlichkeit, vor dem er beinah Angst empfand, so wie man sie empfindet vor einem geheimnisvollen Wesen der Nacht, das man in hellem Tageslichte sieht mit seinem stummen Blick aus fremden Reichen, aus denen es verschlagen ward.

Beide standen da wie Statuen, als Frau Elisabeth hereintrat. Alexander überbrachte Empfehlungen von seiner Mutter.

Nun war Thomas vollkommen aus dem Bann erwacht, und was er fühlte, war Unbehagen.

Etwas mußte getan werden; so schlug er als nächstliegende Ausflucht den Garten vor, und alsbald trabten die beiden Knaben die breite Treppe hinab, wie Tiere, die auf der Wanderschaft nach einem neuen Aufenthalt begriffen sind. Thomas schritt voran.

Auf dem Grunde des Herzens keimte heimlich eine unerbittliche Enttäuschung, zuvörderst nur als leise, allgemeine Unbehaglichkeit, die in seiner Seele zu keinem Gedanken emporwuchs als höchstens dem, wie er seinen Freund nun beschäftigen solle. Ihm war ja Alexander auch so fremd! Er kannte ihn ja beinah gar nicht.

Verlegen stand er an dem Gartenzaun, während sein Freund die Schwelle überschritt. – »Was ist das für ein sonderbarer Baum?« fragte Alexander endlich. – Thomas folgte seinem Blick und sagte beinah geringschätzig: »O, das ist nur ein Holunderbaum.« Dann kletterte er aber an ihm empor und langte von oben mit der Hand in den Stamm hinein. – »Ist er hohl?« – Statt aller Antwort zog er die Hand heraus, die voll von flimmerndem, verblaßtem Gold und Silber war, Schätze vom letzten Weihnachtsfeste, die er hier geheimnisvoll verwahrte und die inzwischen eigentlich längst Alexander gehörten. Unbeweglich sah er auf ihn nieder; es war, als müsse jetzt etwas Ungeahntes, Wundervolles geschehen. Aber Alexander sagte nach einer Weile nur: »Komm doch wieder herunter.« Enttäuscht stieg er hinab, und beide Freunde sahen sich, in so plötzlicher Nähe, wieder etwas verlegen an. Eigentlich fehlte jetzt Herr Matthes und die ganze Schule, und dann hatten sie überhaupt nichts mehr miteinander zu tun. Er wäre gern wieder auf den Stamm hinaufgeklettert, denn er fand es viel schöner, von dort aus mit Alexander zu reden. – »Weshalb seufzt du denn?« – Er antwortete nicht. »Komm«, sagte er nur, schon vorausschreitend, »wir wollen tiefer in den Garten.« Sie gingen über den Rasen, in seiner Mitte machte Thomas unwillkürlich halt, als sei hier ein Punkt, wo man sich niederlassen könne. – »Das Gras macht Flecke«, sagte Alexander. – Wie er dastand! bescheiden und vornehm wie ein junger Fürst; nichts, gar nichts ließ sich aus seinem Gesicht herauslesen, es war hell und blond und hatte einen Zug von unbewußter Lauterkeit. Unwillkürlich suchten Thomas' Augen das Wappenschild unter dem Dache. Alexander folgte seinem Blick und schien plötzlich lebendiger. Er sagte, man müsse die alten Farben wieder auffrischen. Eine leise und selbstverständliche Empörung stieg in Thomas bei diesen Worten auf; im nächsten Augenblick aber verbesserte er selbst dies Gefühl, indem er sich sagte, daß es ja Alexander war, der sie sprach, und daß er allein ein Recht zu ihnen hatte. – »Überhaupt scheint euer Haus recht alt zu sein«, fuhr er fort, indem er sich mit einem Blicke umsah; »es müßte einmal neu angestrichen werden.« »Meinst du?« fragte Thomas und sah ihn bestürzt an. – »Sieh doch die Flecken überall! Unser Haus ist lange nicht so groß, aber viel reiner.« – »Das meinst du doch nicht im Ernst«, fragte Thomas dringlich, »daß unser Haus geändert werden müsse? Es muß doch so bleiben wie es ist!« – Er sprach laut und leidenschaftlich. – Alexander errötete leicht, im Gefühl, etwas Unpassendes gesagt zu haben. Thomas ließ ihn nicht aus den Augen, von wachsender Unruhe erfüllt. Da rief seine Mutter von oben zum Kaffee. – »Meintest du das wirklich?« wiederholte er, als sie schon wieder durch den Garten schritten, auf das Haus zu. – »Ich sagte es nur so«, antwortete Alexander nach einer Pause etwas verlegen, »um zu hören, was du wohl dazu sagen würdest.« Thomas atmete erleichtert auf. – Sie gingen nun ins Haus hinein, und er suchte gleichen Schritt mit ihm zu halten, so daß es klang, als ginge Einer. Sie stiegen die alte schmale Holztreppe empor, die vom Hof aus in den langgestreckten hintersten Flügel des Hauses emporführte und vom Gange aus gesehen wie eine Versenkung gähnte. Thomas stand schon oben und wartete; wie eine Erscheinung tauchte Alexander aus dem finstern Dämmer. Ein schneller Traum war das, sie gingen wieder weiter, bis Alexander stehen blieb. »Wieviel Treppen sind denn eigentlich hier im Hause?« fragte er, indem er auf ein paar Stufen deutete, die vor einer verriegelten großen Tür endeten, welche sich in halber Höhe der Wand befand. Auch am anderen Ende des Ganges sah er schräg ansteigende braune Bretterwände, die sich, umwendend, fortsetzten zu einem Gehäuse, das finster wie ein gewaltiger schiefer Kamin zur gegenüberliegenden Wand hinauszuführen schien. »Man ist ja hier wie verzaubert«, setzte er hinzu. – Thomas' Herz schlug in schnellen Schlägen; er wagte nicht, ihm ins Gesicht zu sehen.

»Nun, habt ihr miteinander gespielt?« fragte Frau Elisabeth, und Thomas sagte in aller Eile: »Ja!« und schob Alexander rasch zwei Körbe mit Kuchen hin. Während sie aßen, betrachtete sie Alexander unauffällig. Er schien ein wenig älter als Thomas; aber sein Gesicht war ihr nicht unsympathisch. Doch konnte sie in seiner ganzen Art nichts finden, was ihr Thomas' heimliche Begeisterung gerechtfertigt hätte; denn sie sah sehr wohl, mit wieviel verhaltenem Gefühl er ihm gegenübersaß. Und wie er nun errötete, als sie ganz nebenbei bemerkte, sie wolle ihm Kragen von ähnlichem Schnitt machen lassen, wie sie Alexander trage, mußte sie beinahe lächeln über seine von verschwiegenem Glück sanft durchleuchteten Augen. – Ursulas Stimme ward im Nebenzimmer laut, schnell erhob er sich, öffnete die Tür zum entgegengesetzten Zimmer, wandte sich um und sagte halblaut: »Komm!« Alexander folgte ihm gehorsam, noch kauend. – »Ich will dir die sonderbare Treppe zeigen«, setzte er wie zur Entschuldigung hinzu. An den verhängten Glastüren vorbei strichen sie durch die dunklen Zimmer, bis sie vor eine kleine verriegelte Tür gelangten. Er öffnete sie, und sie traten in den engen dämmerigen Platz. – »Man muß sich immer um sich selbst drehen«, sagte Thomas halblaut und schritt voraus, die schmale Treppe empor, viele kleine Stufen, bis er mit Herzklopfen oben stand und wartete. Endlich kam Alexander. – »Es wird einem ja ganz schwindelig«, sagte er. – »Nicht wahr?« fragte Thomas erfreut, »es ist, als drehe sich das ganze Haus um einen!« Und ohne ein weiteres Wort lief er wieder abwärts. Auf halber Höhe aber entdeckte er eine kleine Tür, die er noch nie gesehen hatte. Sie öffnete sich schwer, da der Boden mit leichtem Schutt bedeckt war. Der kleine viereckige Raum hatte einen Steinfußboden, war ganz leer und empfing sein Licht von einem einzigen schmalen, niedrigen Fenster seitwärts, das aber nicht ins Freie zu gehen schien. Thomas sah hindurch; vor ihm war purpurn schimmerndes Halbdunkel. Ein Fußboden lag sehr tief. »Das ist«, sagte er endlich mit verhaltener Stimme, »das Zimmer mit den seidenen Wänden.« Er sah hingerissen hinab. – »War denn dies Fenster immer hier?« fragte er nach einer Pause, in tiefsten Gedanken. – Ehe aber Alexander hätte antworten können, fragte er etwas anderes, Gleichgültiges. – »Wir wollen wieder hinab«, sagte Alexander ernsthaft; »es ist hier so langweilig; laß uns doch etwas spielen.«

Thomas schritt voran, die Treppe zum unteren Stockwerk nieder. Wie ein feuchter Nebel legten sich die letzten Worte um seine Seele. Die Wirklichkeit stand heller und heller in ihr, aber sie schloß die Augen und wollte sie nicht sehen, aus Furcht vor schrecklichster Enttäuschung, selbst wenn sie schon klar und kalt durch die durchrissenen Schleier schien. Durch eine zwiefach verschlossene und verriegelte Doppeltür gelangten sie ins Freie.

Unschlüssig standen sie am Gartenhause, besahen die Geräte, die Kugelspiele, und während Thomas gleichgültig das eine und das andere vorschlug, erscholl mit einem Male ein lautes Lachen in der Ferne, und er sah Onkel Matthäus, Tante Hermine und den dicken Vetter, ihren Sohn. Sogleich begann seine Seele wieder mit lebhafterem Flügel zu schlagen, nun war Alexander nur noch ein Kleinod, das er retten mußte. – Der Vetter war entsetzlich, und Tante Hermine – wenn Alexander die sah, das war unausdenkbar. Er wollte ihn seitwärts ins Gebüsch ziehen, aber Onkel Matthäus hatte sie schon gesehen und winkte und rief ein lautes »Hallo!« über den Rasen. Nicht oft erschienen diese Verwandten, und nun trieb sie gerade heute ein schlimmes Schicksal in die Garteneinsamkeit. Da stand der Onkel schon vor ihnen, musterte sie mit jovialem Blick, klopfte Alexander auf die Schulter, den er gar nicht kannte, und behauptete, er kenne ihn. Und der dicke Vetter schaute breitbeinig auf Alexander, als wolle er sagen: Ich kenne dich zwar nicht, aber es wird schon gehen. Dick und unverfroren stand er da, gerade so wie seine Mutter, die immer so redete, als dächten alle ganz genau so wie sie selbst, in ihrer breiten, lauten, gezogenen Sprechweise. Da stand sie, schwitzend in ihrem enggeschnürten Kleide, die Haare glatt an die Stirn geklebt, trocknete sich die Schläfen und zeigte, ohne sich zu schämen, alle ihre dicken roten Finger. – Frau Elisabeth nahte von der Gartenpforte her, überschaute die Lage, richtete ein paar vermittelnde Worte an Thomas und warf ihm einen aufmunternden Blick zu, einen Blick, den er schon kannte, der für ihn bedeutete: »Wir sind nicht allein, sondern in Gesellschaft!« und der in ihm ein ödes Gefühl erweckte, wie wenn er sowohl wie seine Mutter eigentlich jeder zwei Menschen wären, zwei, die sich lieb hatten, und zwei, die sich fremd waren.


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