Friedrich Huch
Mao
Friedrich Huch

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Er stand auf einer kleinen Plattform. Ein schmaler dicker Spalt führte wie ein riesiges Beil ins Freie, in die Luft. In mäßiger Tiefe lagen die Dächer der Häuser. Dieselben Knaben, die er vorhin im Spiele an der Kirchenmauer sah, schritten jetzt still nebeneinander über den Platz. Das Rollen der Wagenräder klang gedämpft herauf.

Er wandte sich zurück und schritt einen gewundenen Gang entlang, der mit einem Male in einen ungeheueren, deckenlosen Raum führte, an dessen Wänden eine Holztreppe unabsehbar nach oben leitete. In der Mitte war ein viereckiges, von Holzgeländer umgittertes großes Loch. Vollkommene Stille war ringsum. Nur die Treppen schienen in lautloser Bewegung Thomas voranzusteigen. Er trat hart ans Geländer und sah hinab. Unten war so schwarze Finsternis, daß er nicht das geringste erkennen konnte. Er blickte aufwärts, und in ferner Höhe sah er in der Dämmerung eine vollkommen runde, schwarzglimmende große Scheibe, die im Nichts zu schweben schien, wie ein Deckel über einem unsichtbaren Gefäße. Mutig schritt er empor, immer weiter, so daß er endlich gar nicht mehr wußte, daß er ging. Durch sonderbar geschweifte Löcher, die in Wirbeln beieinander lagen, schoß das Tageslicht, mehr und mehr formten sie sich in Riesenbogen, langsam senkten sie sich herab als vollkommenes, kunstvoll durchbrochenes Rund, ein mächtiges Rad, das zu brausen schien und doch so stumm war wie alles andere. Ein gleiches, weniger blendendes lag auf der anderen Seite. Thomas bestaunte es; dann dachte er: Bin ich erst so weit?! Da fiel ihm ein, daß man von einer Stelle des Hauses durch dieses Rund hindurchblicken konnte, aber er fand das kleine Loch nicht, denn von seinem Platz aus konnte er nach beiden Seiten überall hindurchsehen. Und doch suchte er es wieder und wieder, dieses bekannte, kleine, dreieckige Loch, aber alle sahen ihn fremd und abweisend an.

Das, was er von unten als Scheibe sah, erkannte er nun im Emporschreiten als Glocke, und er trat dicht an sie heran.

Das ist nun, dachte er, dieselbe Glocke, die ich mein ganzes Leben lang gehört habe, die schon schlug, ehe meine Eltern auf der Welt waren; vielleicht hat sie Mao noch gehört, oder sie schlägt noch viel länger. – Er lehnte sich über das Holzgeländer und streckte den Arm so weit aus, als er konnte, und klopfte mit dem Finger ans Metall, erst leise, dann stärker; es gab ein wundervolles, zartes Dröhnen, wie aus weiten, weiten Fernen. Und er dachte: So klang die Glocke, als es noch keine Zeit gab. – Und wie er so stand, in Träumerei verloren, da tat die Glocke einen Schlag, so jäh, daß er fast in die Knie knickte. Der Ton verdröhnte, unbeweglich finster blieb die Glocke. Die alten Namen und Jahreszahlen, die auf der Brüstung des Geländers eingeschnitten waren, starrten wie Grabinschriften. Thomas lief beinah die Treppen empor. Hoffnungslos, ohne Ende führten sie nach oben, wenn er noch eben gedacht hatte: Diese ist die letzte, soll wirklich die letzte sein. Er setzte sich auf die Stufen, es schien unmöglich, je bis in die höchste Höhe zu gelangen. Dann schritt er wieder aufwärts, ohne mehr an ein Ende zu denken. Wieder gelangte er auf eine Plattform, wieder stieg er eine kleine Treppe, die sich im Bogen wand, empor.

Mit einem Mal blendete ihn ein kaltes, helles Viereck; frische Luft schlug ihm entgegen, eine Tür stand offen, er schritt hindurch, zögernd, verwirrt. Er befand sich auf der Galerie, die den Turm in seiner Höhe umkränzte.

Im Gefühl des Schwindels schloß er die Augen, kniete nieder und senkte den Kopf vor dem Winde, der nicht stark wehte, aber die Kraft zu haben schien, ihn fortzublasen in die Leere.

Anfangs erkannte er nichts; er wollte nichts erkennen, wollte nicht hinunterblicken. Alles erschien ihm schrecklich, feindlich, fürchterlich. Mit heimlicher Angst sah er auf die Häusermassen, die dicht zusammengedrängt wie ein rötliches Meer erschienen, zwischen denen sich die Straßen wie Fäden zogen, auf denen ein winziges, wimmelndes Getriebe war. Seine Nachtvision trat ihm vor das Auge, er suchte das Haus, den Garten – es mußte anders daliegen als alles andere – er fand es überhaupt nicht. – Überall sah er die gleichen Häusermassen, zwischen ihnen verstreute kleine Flecke, die Gärten zu sein schienen, kleinere und größere, und einen, der größer war als die anderen, aber auch noch klein erschien. Seine Augen blieben auf ihm haften, und nun erkannte er ihn, nun erkannte er auch das Haus mit seinen Flügeln, aus dessen Schornsteinen Rauch qualmte wie aus den anderen Häusern. Einförmig lag es zwischen sie eingezwängt, nüchtern und abweisend wie alle anderen.

Die Tränen traten ihm in die Augen. – »Es ist alles ganz anders in Wirklichkeit!« sagte er halblaut, stockend; und er wiederholte seine Worte, um sie vor sich selber zu bekräftigen. Und dann sah er wieder hinab, in Hoffnung, er könne sich getäuscht haben und alles läge doch so wie in seinem Traume. Aber es war genau wie vordem. Er erkannte auch noch anderes: Er sah jenes ganze Gebäude, dessen fensterlose Wand mit den eisernen Ringen so drohend in den Garten blickte, er sah den weiteren Lauf des kleinen dunklen Wassers, das seitwärts in der Tiefe floß. Ich will es nicht sehen! dachte er und wandte den Blick hinweg. Eine tiefe Traurigkeit legte sich auf sein Herz. Es ist ganz anders in Wirklichkeit! dachte er abermals.

Voll Unmut schritt er auf die entgegengesetzte Seite der Galerie und sah von dort hinab, auf den Markt hinunter, über den er gekommen war. Die Dächer der Häuser erschienen, fast senkrecht in der Tiefe, platt auf die Erde gedrückt, die Bäume wie gepreßte runde Moose, das Pflaster wie die zarte Schuppenhaut eines Fisches. Zwei Menschen bewegten sich in entgegenkommender Richtung aufeinander zu, schienen sich zu berühren, für ein paar Augenblicke zusammenzukleben, und trieben wieder auseinander, der eine, um sich mit einem neuen Menschen zu verbinden, der andere vor einem Hause stehenbleibend, so wie ein Blatt, das auf dem Wasser treibt, von einem Hindernisse festgehalten strandet und wartet, bis er wieder freikommt.

Thomas sah abwechselnd auf den einen und den anderen, die sich eben noch begegneten, miteinander sprachen, und nun schon wieder ganz Verschiedenes taten und gar nicht mehr aneinander dachten.

»Geschäftsleute.« Dies Wort fiel ihm plötzlich ein, das der Onkel Matthäus so oft gebrauchte, und alle Menschen, die er dort unten sah, erschienen ihm als Geschäftsleute. Und er selbst: Würde er später auch ein Geschäftsmann werden? Später? Er mußte an graue Häuser und Regenhimmel denken. – Früher! Das Wort war Heimat, etwas Kostbares, das ihm zwischen den Fingern zerrann. Oft wenn er abends im Bette lag und müde gähnte, und der geheimnisvolle feine goldene Klang aus weiter Ferne ihm im Ohre flimmerte, dachte er an dieses Wort; dann fiel ihm der lange Gang ein, der stets im Dämmerlichte lag. Und er malte sich aus, wie seine Mutter, sein Vater und alle anderen nicht mehr im Hause wären, wie er das Tor ein für allemal verrammelte, wie er die Fenster, die nach der Straße gingen, für immer dicht verhängte, und es nicht gestattete, daß von außen ein Lichtstrahl in die Zimmer drang, und wie er einsam für sich leben würde, zehrend von den Vorräten, die er in den dunklen Räumen auf dem Boden aufgespeichert hatte und die für sein ganzes Leben ausreichten. Nur Mao blieb für immer bei ihm, und die Bäume wuchsen so hoch und dicht, daß auch vom Turm her niemand auf den Rasen, in die Fenster schauen konnte. Wer aber würde später, nach ihm, das alte Haus bewohnen? – Wenn ich einmal Kinder habe... der Gedanke stockte, und es überfröstelte ihn leise. Wenn ich sterbe, dachte er endlich, ist das Haus auch nicht mehr da.

Von weither tönte eine Glocke, eine zweite aus anderer Richtung setzte ein, eine dritte, eine vierte, alle Töne verbanden sich zu einem Glockenspiel von schwankender Bewegung, neue Stimmen kamen hinzu, da schlug der erste dröhnende Klang von unten auf, wie ein Riesenbeil unfehlbar treffend; wie ungeheuere Kugeln schwebten die Töne durch die Luft, und wie der letzte Schlag verklang, sandte die Glocke einen langen Seufzer nach, der sich kräuselnd verdichtete und zum Murmeln ward wie der ferne Hall der wilden Tauben im Abendwinde. Rings am Horizonte erhoben sich pfeifende, klagende, langgezogene Töne, die müde abklangen.

Mittagszeit! dachte Thomas und sah auf zur Sonne, die genau so unbekümmert irgendwo am Himmel stand wie zu jeder anderen Stunde.

Dicht über ihm erklang ein lauter Ton, und wie er hinaufsah, erblickte er ein paar Meter über sich ein Fenster, darin ein rotes Gesicht und ein Instrument aus gelbem Messing. Es war der bekannte Hornruf, den er gehört hatte, und der hier so laut klang. Der Mann rief herunter, ob er zu ihm hinauf wolle, und da Thomas den Kopf schüttelte, kam er zu ihm herab, froh, seine Einsamkeit zu unterbrechen. Er deutete ihm die Messingscheiben mit den Pfeilen und den beigefügten Namen, die rund auf der Brüstung aufgeheftet waren und die Thomas erst jetzt bemerkte. Aber er bezeigte nicht das allergeringste Interesse für sie, ja sie erregten ihm nur ein ödes Mißbehagen. Auch das obere Stübchen wollte er nicht sehen, und erst als der Mann sagte, ein solcher Junge sei ihm noch nie in seinem Leben vorgekommen, ließ er sich bewegen, ihm zu folgen. Oben war alles ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte, viel größer und nüchterner. Die Instrumente, die ihm gezeigt wurden, sah er beinah feindlich an, und als der Türmer meinte, er solle doch einmal durch das Fernrohr sehen, auf die Eisenbahnen oder auf die Berge, schüttelte er nur den Kopf. Er hatte jetzt nur noch den einen Gedanken: wieder hinabzukommen auf die Straße.

Ohne sich aufzuhalten, stieg er abwärts, und erst allmählich ward sein Schritt langsamer. An dem großen Rund, am Glockenstuhl ging er vorbei, ohne hinzublicken. Dumpfes Rollen klang von unten, er merkte, wie er zur Erde zurückkehrte. Und als er die dicke Holztür öffnete und vor sich den flachen, warmen Boden sah, war ihm zumute wie dem Seemann, der nach langer Fahrt zum ersten Male wieder Land betritt. Endlos lange war er von der Weit abgeschlossen gewesen. Wie er nun die Straßen hinabschritt, der Turm immer ferner zurückwich, und er endlich in die hohe Diele zu Hause eintrat, fühlte er sich gerettet vor irgendeiner drohenden Gefahr da draußen.

Am Nachmittag fiel ihm jene rätselhafte Hauswand ein, die er, jenseits des Wassers stehend, wahrgenommen hatte, mit ihrem einzigen runden Fenster. Er begann den Raum zu suchen. Er wußte genau, in welchem Teil, in welchem Flügel er ihn finden mußte: Hohe, türenlose Wände versperrten ihm den Weg; er fand ihn nicht.

Abends, als er sich entkleidete, fühlte er in seiner Tasche etwas Großes, Ungewohntes. Es war der Schlüssel zum Turm, den er vergessen hatte abzuliefern. Er trat zum Fenster und sah hinüber. Schwarz und drohend ragte er, als fordere er sein Eigentum zurück.

Er ging hinab zum Garten, drängte sich durch die Büsche bis zum Lattenzaun und warf den Schlüssel hinunter in das dunkle, zähe Wasser.


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