Friedrich Huch
Mao
Friedrich Huch

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Siebentes Kapitel

Als er erwachte, dämmerte der Tag. Gefühllos schob er Maos Bild, das ihm im Schlafe halb entglitten war, zurück an seinen Platz, lautlos schlich er sich in seine Kammer, in sein Bett. Er wußte nichts mehr von sich, bis ihn sein Vater am Arme rüttelte. Er erhob sich, ohne aufzuschreien, stumm und hastig kleidete er sich an.

Auf diesen Morgen folgte der nächste, dann kam wieder einer, und schließlich lief jeder Tag so hin wie alle vorhergehenden und alle nächsten. Vom Spaziergang ging es in die Schule, von der Schule nach Hause, am Nachmittag in den Garten, wo ihn seit einiger Zeit um drei Uhr ein Turnlehrer erwartete, den der Justizrat kommen ließ, damit Thomas sich in seiner freien Zeit beschäftigte, wie es seiner Gesundheit am zuträglichsten wäre, und dann ging es wieder an die Arbeit. Er hatte sich vorgenommen, für Mao in den alten Kellern des Hauses, in denen er einst mit Alexander war, einen Altar aus Steinen zu erbauen und darauf das Harz, das er im Sommer von den Bäumen sammelte, zu verbrennen, aber er fand die Zeit nicht, oder wenn er sie fand, so unterließ er es dann doch, weil er fürchtete, es würde alles hinterher nur um so schrecklicher sein, wenn er wieder hinaufstiege in die Zimmer, an seine Arbeit. Der Justizrat sprach die zuversichtliche Hoffnung aus, Thomas werde ihm zu Ostern Ehre machen und der Schule zeigen, daß er der Sohn seines Vaters sei. Und Thomas' Bemühungen wuchsen, als nun auch Ursula an den Spaziergängen teilnahm.

Eines Morgens stand sie wartend vor der Tür und schloß sich ihnen wie selbstverständlich an. Schweigend-pfiffig ging sie nebenher und hörte zu, wie Thomas geprüft ward. Er sah beim Hersagen mit einer unbehaglichen Empfindung auf ihr Profil, das so stumpf und doch so scharf aussah, wie ein wachsamer Hund, der, scheinbar in stummer Ruhe, im nächsten Augenblick aufspringen und bellen wird. Manchmal stockte ihm das Gedächtnis, dann verzog sich ihr Mund, ihre Augenbrauen wurden spitz, als lausche sie auf das, was nun zutage kommen werde. Auf dem Felde aber war ihre Selbstbeherrschung plötzlich gesprengt. Sie umtanzte die beiden, indem sie, ohne sich zu unterbrechen, mit großer Geschwindigkeit, sonderbar betont, alle Formen sämtlicher fünf Deklinationen hersagte und bei der letzten Form mit plötzlichem Rucke stehenblieb, die Zungenspitze langsam hin und her bewegte und, ihrer Richtung folgend, abwechselnd auf ihren Vater und auf Thomas schielte. Thomas starrte sie an wie ein Wunder. – Sie hatte sich schon vor Wochen ein Verzeichnis der Bücher verschafft, die man in der untersten Klasse des Gymnasiums braucht, und sogleich begonnen, die lateinische Grammatik auswendig zu lernen. Sie wollte dies Geheimnis um keinen Preis lüften und sagte: »Ich weiß noch viel mehr, aber ich sage nicht, woher.« Durch ein paar rasche Kreuzfragen ihres Vaters war die Sache bald geklärt. Und Ursula tat Thomas leid, wie sie nun so schlicht dastand, mit halb enttäuschtem, stummem Gesicht, auf dem noch eben die Röte der Freude lag, und mehr noch, als ihr Vater, der sie aufmerksam betrachtete, plötzlich unvermittelt hinzufügte: »Höre, Ursula, du solltest besser acht auf deine Kleidung geben; es hängt alles so an deinem Körper, du siehst beinah verwahrlost aus.« – Das tat sie nun in Wahrheit nicht; Frau Elisabeth würde den Worten widersprochen haben. Daß ihre Kleider schlotterten, schien unvermeidlich, da sie in den Jahren der Entwicklung war.

Sie lernte von nun an eifrig mit, und da sie begabter war als Thomas und eine leichtere Fassungskraft besaß, so stellte der Justizrat auch unwillkürlich höhere Forderungen an ihn, verweilte nicht mehr so lange bei einer Erklärung und sagte: »Ursula hat es doch gleich begriffen!« Und er fragte, ob sie nicht später studieren wolle, was sie erfreut bejahte. Doch den Gedanken ihrer Schauspielerei wollte sie darum nicht aufgeben; und beides vereinigte sich in ihrer Vorstellung recht wohl, indem es ihr nicht allzu schwierig schien, tagüber sich mit wissenschaftlichen Arbeiten zu beschäftigen und abends dann immer noch in den größten Rollen aufzutreten. – »Thomas ist dann unser Theaterrechtsanwalt!« fügte sie hinzu, da sie vermeinte, er wolle Jurist werden; das hatte er ihr kürzlich einmal gesagt, nur um ihre Fragerei loszuwerden und um zugleich in ihren Augen zu steigen. – »Möchtest du Jurist werden?« fragte der Justizrat überrascht. Thomas nickte, indem er dachte: Ich brauche es ja noch nicht gleich zu werden! – Er wußte nicht, welche Freude er mit diesem scheinbaren, ihm aufgedrungenen Wunsche seinem Vater antat. Von dem Augenblick an heftete der Justizrat wärmere Blicke auf ihn; Thomas begann sich wohler zu fühlen, wenn er mit ihm zusammen war; und doch beschlich ihn oft eine stumme Traurigkeit, wenn er bedachte, wie nun alles anders sei als früher, und wie es immer mehr anders werden würde.

Der Herbst war angebrochen; in graue kalte Dämmerung ging es nun hinaus; unabsehbar nebelig und trostlos lag das Flachland, und die öden Häuser an der Landstraße sahen aus, als seien sie gestorben. Wie Thomas sich fürchtete vor diesen Häusern! Nackt und unbeschützt ragte eines in gemessener Entfernung von dem anderen, erst nur in seinen Umrissen sichtbar, allmählich deutlicher vortretend in dem Nebel. Kleine Handlungen und Bäckereien lagen in ihrem Erdgeschoß, verwaschene Schilder starrten über den Türen, und Glocken von unnennbarem, ödem Wimmern unterbrachen die Stille, wenn die Menschen, schon geschäftig in der Frühe, aus und ein gingen. Dieselben Gestalten mit denselben kleinen Hundewagen schlichen an jedem Morgen um die gleiche Zeit um die gleichen Ecken, das ganze Leben erschien so trostlos, daß es unbegreiflich war, wie man es trotzdem aushielt. Und um dieselbe Zeit ging der Justizrat zu Hause in sein Arbeitszimmer und Thomas in die Schule. Um dieselbe Stunde erwartete ihn am Nachmittag der Turnlehrer in dem Garten, und während er versuchte, an den Geräten die vorgeschriebenen Übungen zu machen, sah er hoch oben im Himmel die Scharen ferner Vögel, die das Land verließen. Abends war er so müde, daß er sich nur auf sein Bett freute und den Weg durch die Zimmer, durch den langen Gang wie jeden anderen machte, ohne an etwas anderes zu denken als an die erledigten Aufgaben. Und wenn er wirklich um sich sah, so erschien ihm alles nüchterner als früher; er wußte nicht, woran das lag. Maos Bild hatte er seither nicht wieder gesehen; mehrere Male wollte er den dunklen Raum aufsuchen, aber am Tage hielt ihn die Furcht zurück, sein Vater könne dazukommen und ihn schelten – und sie lebten doch jetzt so gut zusammen! –, und nachts erwachte er nicht mehr aus seinem Schlafe. Hätte ihn wenigstens die angestrengte Arbeit und die Gewißheit, daß er vorwärtskam, gefreut! Aber er tat alles wie für einen anderen. – So war er im tiefsten Innern traurig, so traurig, wie er noch nie in seinem Leben war; und um so größer war seine Trauer, als es nichts gab, was alles hätte ändern können. Das Haus schien wie gestorben – ebenso wie jene dort draußen auf der Landstraße – und er grübelte und sann, welch schreckliches Geheimnis hier verborgen lag.

Noch einmal hatte er eine nächtliche Vision. Da stand er oben auf dem Turm, und – als seien die letzten Zeiten nicht gewesen, so lag das Haus dort unten vor ihm, wie in den Tagen seines reichsten Glückes. Nagende Sehnsucht hinterließ ihm dieser Traum, und die schweren Massen, die auf seiner Seele lagen, wurden leichter, denn irgendeinen Ausweg, so fühlte er, mußte es in diesem Irrsal geben. In leisen Wogen flutete der alte Glaube zurück in ihn. – Wenn ich nun wirklich auf den Turm stiege und hinabsähe – zweifelnd sah er über den Garten weg empor zu ihm. Der ragte unerschütterlich wie immer. Der hatte sich nicht geändert; durch alle Jahrhunderte hatte er stumm auf das Haus herabgeblickt, auf das Leben in der Tiefe, hatte gesehen, wie alles sich langsam veränderte, bis nun seit zwei Jahrhunderten auch das Haus in unveränderlicher Ruhe zu ihm aufsah. Und vielleicht hatte er noch Mao selbst gesehen, wie er durch den Garten schritt. Schutzsuchend blickte Thomas zu ihm auf. Seine Hoffnung ward immer stärker, und am nächsten freien Vormittag machte er sich auf den Weg, vom Haus ab bis zur nächsten Straßenecke hinkend, denn es konnte ihn vielleicht jemand vom Fenster sehen; er hatte gelogen, sein Fuß schmerze ihn, denn turnen wollte er diesen Nachmittag nicht. Wie er um die Ecke gebogen war, hinkte er noch immer, er wußte selber nicht warum. Schon bei der nächsten Gasse hatte er die Richtung verloren. Er mußte fragen, und man wies sie ihm. Eng war die Straße; sie gehörte zum ältesten und innersten Teil der Stadt, den Thomas, dessen Schule und Spazierwege nach anderer Richtung lagen, kaum kannte, nur jenseits des Gartens hinter Büschen, Lattenzaun und Wasser in größerer Tiefe ahnte. Alte Häuser mit Erkern gab es hier, mit Fenstern, die nie geöffnet zu werden schienen, hinter denen man dunkle, dickwandige Räume ahnte. Schlecht und holperig war das Pflaster, und aus den Türen drangen abgestandene Gerüche. Die Straße lag ganz im Schatten, und doch war blauer Himmel, und die Sonne schien auf Giebeln und Dächern. – Vor einem Torweg, dessen Flügel weit nach innen geöffnet waren, gab es ein Hindernis; ein großer Wagen, beladen mit Fässern, ward von starken Pferden stampfend herausgezogen. Gleichgültig blickte Thomas hinein und hinkte weiter, aber mit einem Male blieb er stehen, ging in seiner gewöhnlichen Gangart zurück und trat leise in den Hof ein. – Jenseits des kleinen, unscheinbaren Gartens ragte in größerer Höhe eine dunkelgraue lange Mauer, auf deren Rücken ein schwarzer Lattenzaun sich dehnte; und hoch darüber legte sich über die Buschreihen hinweg in der Ferne ein bekanntes Dach. Er schritt noch weiter in den Hof hinein. Da gewahrte er mit einem Male dort, wo der Lattenzaun nach rechts hin endete, eine große Wand, die er noch nie im Leben gesehen hatte. In ihrer Mitte lag eine einzige, radgroße Fensteröffnung. Er stand einige Augenblicke wie gebannt, dann wandte er sich wieder auf die Straße, mit schnelleren Schritten und mit froherem Herzen, denn er dachte, nun werde er von dem Turm herab noch ganz andere Dinge sehen. – Endlich lichtete sich der Weg, und plötzlich reckte sich der Turm vor ihm, wie ein Riese, der im nächsten Augenblick auf ihn zuschreiten konnte. Fremd und abweisend stand er da, er schien gar nicht derselbe, der sonst so altbekannt-vertraulich zu ihm herübersah, wenn er am Fenster seines Schlafzimmers stand. Er dachte, er müsse gleich wieder umkehren. Und doch, wie er nun emporschaute zur Spitze, die Galerie erkannte und das riesige Rund in seiner Mitte, kam er ihm wieder als sein guter Freund vor. Er versuchte die Eingangstür zu öffnen, erst leise, dann mit aller Kraft, aber sie öffnete sich nicht. Ein Herr, der vorüberging, bedeutete ihm, er müsse hinübergehen zum Küster und den Schlüssel holen. Thomas hatte geglaubt, der Turm würde sich ihm – und nur ihm – ganz von selber öffnen, und nun stand die Wirklichkeit um ihn. Mit innerem Zögern ging er hinüber, entrichtete sein Trinkgeld und wartete mit leisem Mißbehagen an der Tür, bis der Küster mit dem Schlüssel zurückkam. Dann hielt er das große geschnörkelte Ding in seiner Hand – er fühlte, wie schrecklich dieses Ganze sei – aber nun mußte er hinauf.

Mit Mühe öffnete er, langsam drehte sich die dicke, eisenbeschlagene Tür, und jetzt stand er, abgeschlossen von der Welt, im feuchten, kühlen Innern. Eine schmale Steintreppe führte in fortwährenden Wendungen empor; rastlos schritt er aufwärts und sah öfters in die Höhe; er meinte, es müsse doch endlich einmal hohl werden über ihm, denn er konnte sich nicht denken, daß es immer so weiter gehe. Endlich war die Treppe zu Ende.


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