Friedrich Huch
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Friedrich Huch

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Zehntes Kapitel

Thomas' Leben floß gleichmäßig dahin; durch nichts gestört, ging es seinen ruhigen Gang; er besuchte das Gymnasium nun bereits das dritte Jahr. Wenn er aus der Schule kam, so freute er sich auf das gute Mittagessen, und in den Wochen vor den Ferien waren seine Gedanken schon nicht mehr daheim, sondern draußen an der See, denn in den letzten Jahren war der Justizrat mit seiner Familie viel gereist. Überhaupt war das Leben zu Hause freier als in früherer Zeit. Die Zahl der Dienstboten war erhöht, der Justizrat gab glänzende Gesellschaften, zu denen seine Frau große Toilette machen mußte; er arbeitete mit ungeheurem Eifer, er war ein berühmter Advokat, das Leben war mühevoll und anstrengend, aber der unmittelbare, schnelle und glänzende Erfolg spornte zu erhöhten Bemühungen, erhielt ihm seine ungewöhnliche Kraft und Frische. – »Wer so viel arbeitet wie ich,« pflegte er zu sagen, »hat auch das Recht, sein Leben mehr zu genießen als andere. Ich zehre nicht von ererbtem Gut, das mir in den Schoß gefallen ist, ich zehre von den Zinsen eines Kapitals, das ich mir selbst verdanke, und das sitzt hier!« Damit deutete er auf seine Stirn. Und dann sah er wohl zu Thomas hinüber und fuhr fort: »Und du, mein Sohn, wenn ich dir einmal ein Vermögen hinterlasse, so kann ich ruhig sein in dem Gedanken, daß du es nicht tatenlos vergeudest, sondern daß du weißt, was du deinem Vater und dir selber schuldig bist.«

Weshalb sagt er das nur immer wieder? dachte Thomas manchmal, denn das war ja alles selbstverständlich, und wenn man es einmal aussprach, war es doch genug. Er war längst mit dem Gedanken vertraut, daß er einmal dasselbe Fach ergreifen werde wie sein Vater und daß er später seine Praxis übernahm. – »Und wenn du dann einmal heiratest«, scherzte der Justizrat, »und ich dann noch am Leben bin und rüstig, so kaufe ich meinem jungen Kompagnon ein hübsches, elegantes Häuschen.« – Dann lachte Thomas, kurz und leise, ohne Freude, aber auch ohne Abneigung gegen solche Vorstellung. – »Hast du vielleicht schon eine kleine Braut?« – Diese Frage fand Thomas etwas abgeschmackt, aber er wußte, daß er seinem Vater eine Freude machte, wenn er antwortete: »Wer weiß?« – Dabei sah er im Geiste irgendein weißes Kleid aus seiner Tanzstunde. Ursula hatte einmal erzählt, die Eltern einer Mitschülerin hätten sich bereits als Kinder in der Tanzstunde gern gemocht und später auch richtig geheiratet. Dergleichen komme öfter vor, als man denke. Nun liebte Thomas zwar niemand, aber weshalb sollte es ihm nicht ähnlich gehen? Das Leben ging ja doch so, wie es wollte, und schob einen vorwärts, das hatte er nun schon lange an sich selbst gefühlt. Und zufrieden war man dabei auch, geradeso wie andere Leute. An die Vorstellung des eleganten kleinen Häuschens gewöhnte er sich sogar ganz gern, und er erzählte zuweilen mit achtlosem Stolz davon in der Schule. Der Gedanke, das alte Heimathaus zu verlassen, war nicht so schrecklich. Er war fast an ihn gewöhnt. Denn wie oft hatte sein Vater schon davon gesprochen, daß er nur eine günstige Gelegenheit abwarte, es zu verkaufen. Thomas wußte nicht mehr, wann dies zum erstenmal geschah. Es mochte schon ein Jahr darüber hingestrichen sein. Ganz früher sprach der Onkel Matthäus davon, und Thomas lächelte, wenn er daran dachte, wie er damals so felsenfestes Zutrauen zu dem Hause hatte, zu der Bude, wie der Onkel sie nannte, die abgebrannt werden sollte. Deutlich erinnerte er sich, wie er ihn damals im Geiste vor sich sah, vergeblich ein brennendes Zündholz an die glatten Mauerkanten haltend. Überhaupt, welche ungeheuerlichen Vorstellungen hatte er sich von ihm gemacht! Als etwas Entsetzliches, Übermenschliches war er ihm erschienen, dieser gutmütige, polternde Herr, der noch immer seinen Bart viereckig trug, nur daß er jetzt allmählich grau zu werden begann, womit ihn der Justizrat neckte, während er seinerseits behauptete, sein Bruder färbe sich. Und er sprach so komisch breiten Dialekt, geradeso wie seine Frau. Thomas sah es gar nicht so ungern, wenn die beiden zu Besuch kamen; er zog dann seine allerfeinsten braunen Stiefel an, die er sehr fest schnürte, ordnete sorgfältig das seidene Band an seinem Halse, für das er eine besondere, elegante Art des Bindens erfunden hatte, und war zufrieden, wenn der dicke Vetter recht plump neben ihm erschien, wenn die straffgescheitelte Tante Hermine, deren Augenbrauen mit der Zeit ganz zu verschwinden drohten, ihn prüfend musterte und sich an seine Mutter wandte mit den Worten: »Wie ein junger Lord sieht er aus, dein Thomas!« Das sagte sie jedesmal, jedesmal, wie eine Maschine. – »Hast du eigentlich deine Frau in der Tanzstunde kennengelernt?« fragte er einmal unvermittelt den Onkel Matthäus. – »Was der Junge für Einfälle hat! Und deine Frau' sagt er! Was meinst du überhaupt damit?« – Onkel Matthäus lachte herzlich. Da schnellte ein innerlicher Jähzorn in Thomas wie ein Pfeil empor, sank aber schon im Aufflammen in Nichts zusammen, ohne daß er überhaupt begriff, was ihn hervorgerufen; er lächelte nur und schwieg.

In letzter Zeit kam Onkel Matthäus häufiger, und Thomas hörte, wie er seinem Vater vorredete, die Pflichten gegen das Gemeinwohl gingen den persönlichen Interessen voran; ein solch großes Privatgrundstück, das sich wie ein riesiger Klotz hineinschiebe mitten in den stets wachsenden Zentralverkehr der Stadt, müsse ihr nutzbar gemacht werden. Würde einem überdies ein vorteilhaftes Kaufgebot gemacht, so sei es eine Torheit, dasselbe auszuschlagen.

Wieder der Hausverkauf! dachte Thomas und entfernte sich gelangweilt. Da redeten und redeten sie immer darüber, und niemals kam ein Resultat zutage.

Aber eines Tages war es dennoch da. Der Justizrat verspätete sich zum Mittagessen, und als er endlich den Saal betrat, sah sein Gesicht merkwürdig verheißungsvoll und beinah etwas feierlich aus. – »Jetzt ratet einmal, was ich weiß!« sagte er zu Ursula und Thomas, in einem Tone, wie er sprach, als sie noch kleine Kinder waren. – »Das Haus ist verkauft!« rief Ursula rasch, während Thomas dasselbe fühlte und sein Herz schneller schlug. – Vielleicht ist es etwas ganz anderes! dachte er aber unwillkürlich, denn sein Vater schwieg und lächelte, als ob Ursula falsch geraten hätte. – »Nun, Thomas, und du?« – Thomas schwieg; noch ehe er hätte etwas sagen können, hörte er die sanfte Stimme Frau Elisabeths; und nun war alles bestätigt: Das Haus war verkauft, es gehörte nicht mehr ihnen.

Es herrschte ein kurzes Schweigen, dann fragte Ursula: »Wo ziehen wir nun hin?« und schlug gleich darauf selbst ein neues Haus vor, das sie irgendwo gesehen hatte und das ihr gut gefiel, ohne daß sie den Namen der Straße anzugeben wußte. Da sagte Frau Elisabeth: »Zerbrecht ihr euch schon jetzt den Kopf darüber? Macht es euch denn gar keinen Eindruck weiter?« – »Ich sage ja gar nichts!« antwortete Thomas trotzig und schwieg wieder. –

Zu oft war über den Verkauf des Hauses geredet worden, zu oft hatte der Justizrat erklärt, die Summen, die zur Erhaltung des alten Bauwerks jährlich ausgegeben würden, seien ungeheuer, und die Unterhandlungen der letzten Wochen rückten das Ganze in nahestes Tageslicht. Aber schon früher hatten ähnliche Unterhandlungen stattgefunden, die dann nie zu einem Ergebnis führten; etwas, das eintreten konnte, aber niemals eintrat, war so gut wie gar nicht da, und als es nun wirklich doch eintrat, wirklich doch da war, da stand es vor Thomas' Seele als etwas immer noch Unfaßbares, greifbar deutlich zugleich und spukhaft wesenlos, wie nur die plötzliche wirklichste Wirklichkeit es sein kann. Nicht schmerzlich war ihm der Gedanke, aber er hatte das ganz dunkle Gefühl, als trage er selbst irgendwie die Schuld, daß alles so gekommen war. Wenn er aber die anderen reden hörte, so empfand er deutlich, daß niemand außer ihm selber auf einen solchen Gedanken kommen konnte, ja daß man ihn verlacht hätte, wenn er dergleichen äußerte.

Was sollte eigentlich mit dem Hause geschehen, wenn es nun leerstand? Nur durch Andeutungen hatte er bis jetzt davon gehört.

»Ist es wahr, daß der Garten umgehauen werden soll?« fragte er einmal seine Mutter und sah sie an mit einem Blick, der sie an frühere Jahre erinnerte. – »Nein«, antwortete sie und legte leise ihre Hand auf seinen Kopf, »es wird alles bleiben, wie es ist.« – »Das Haus wird auch nicht abgerissen?« fragte er weiter. Frau Elisabeth schwieg einen Augenblick, im Zweifel einer Antwort, dann sagte sie abermals: »Es wird alles so bleiben, wie es ist.« Und Thomas fragte nicht weiter; er fühlte nicht, daß sie ihm die Wahrheit verheimlichte, die er ja doch früh genug erfahren mußte; er dachte auch nicht darüber nach, daß ihre Worte im Widerspruch standen zu dem Straßendurchbruchsplan, von dem der Onkel Matthäus redete, er fühlte sich nur erleichtert bei dem Gedanken, daß das Haus bestehen blieb, so wie es war, und daß der Stadtrat sich die Sache anders überlegt habe.

Er gewöhnte sich nun wirklich an den Gedanken, daß sie alle das Haus verlassen würden, und die früheren unklaren Gefühle traten zurück vor der neuen Wirklichkeit, die bald alles beherrschte.

Ursula kümmerte sich nicht viel um das Schicksal des Hauses. – »Ich denke, es sollte abgerissen werden?« fragte sie einmal Thomas erstaunt, und als er dies verneinte, schwieg sie einen Augenblick fast etwas enttäuscht, setzte aber im nächsten hinzu: »Es ist auch eigentlich besser, daß es bestehen bleibt. Es hat doch immerhin einen gewissen bauhistorischen Wert und gibt dem Markte ein eigenartiges Gepräge; es ist zwar nicht ganz einheitlich im Stil, aber gerade das macht es interessant.« – Ursula redete zuweilen etwas gelehrt; sie besuchte die oberste Klasse der Töchterschule und übersah von dieser Warte aus die Menschen und die Dinge. »Wo werden wir nun hinziehen?« fragte sie einmal wieder bei Tisch und betonte, daß man sich bald um diese Frage kümmern müsse, da es sonst eines Tages geschehen könne, daß man ganz ohne Wohnung sei. – »Kümmere du dich nur um deine Schularbeiten!« versetzte der Justizrat unwirsch, »und rede kein so dummes Zeug. Dich unterzubringen werden wir wohl immer noch einen Platz finden.« – Da schwieg sie beleidigt und nahm sich vor, künftighin zu tun, als ginge sie die Sache gar nichts an.

Wegen dieser Wohnungsfrage hatte der Justizrat schon verschiedene Aussprachen mit seiner Frau gehabt. Er wollte unbedingt ein ganz neu gebautes elegantes Haus im Villenviertel haben, während sie eine unbestimmte Abneigung dagegen empfand. Daß ihr Mann den alten Sitz verkaufte, billigte sie; aber ihr bangte vor dem Gedanken, in ein ganz neues Haus zu ziehen, mit dem sie nichts verknüpfte, das an einer Stelle stand, wo kurz zuvor noch Wiese oder anderes unbebautes Terrain gewesen war. Das war so, als solle sie ein ganz neues Leben anfangen, und sie fühlte sich nicht jung und kräftig mehr! Er wiederum begriff dergleichen nicht, behauptete, sie sei altmodisch und empfindsam, man gewöhne sich an alles; eine ganz neue, junge, frisch geschaffene Umgebung verjünge den Menschen, man solle kein Ding halb tun, ein neues Haus sei wie ein Symbol der Familie selbst, die in ihren Kindern frisch beginne, und man kaufe doch auch keine alten Kleider, wenn die getragenen nicht mehr taugten. – Anfangs versuchte sie entgegenzureden, aber dann gab sie es auf, und es war ihr eine wirkliche Beruhigung, daß auch Thomas es als selbstverständlich voraussetzte, daß sein Vater ein neues Haus kaufen werde. »Natürlich im vornehmsten Viertel!« sagte Ursula, »das sind wir unserem Ansehen schuldig!« Dasselbe dachte der Justizrat, und Thomas hatte nie daran gezweifelt. Wieder war es der Onkel Matthäus, der eingriff. Er wußte sofort das passende Haus, das einzige, das in Betracht käme. Der Justizrat sah es an und klopfte seinem Bruder am nächsten Tage auf die Schulter: »Ein guter Geschäftsmann bist du, Matthäus, aber Geschmack hast du nicht. In solch ein Haus mag sich ein reich gewordener Schnapsfabrikant setzen, ich danke bestens dafür!«


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