Friedrich Huch
Mao
Friedrich Huch

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In der folgenden Zeit liefen viele Anerbieten ein, sie wurden gesichtet, die günstig scheinenden zur näheren Auswahl zusammengelegt, unter ihnen abermals eine Auswahl getroffen, und eines Tages erklärte der Justizrat wiederum bei Tisch, er wisse etwas Neues; Ursula hielt es diesmal unter ihrer Würde, auf seinen Scherz einzugehen.

So war die Zeit der Ungewißheit wenigstens vorbei, und Frau Elisabeth, die unter ihr am meisten gelitten und, um sie zu beenden, ihrem Manne endlich zugeredet hatte, jenes Haus, das ihm gefiel, wirklich zu kaufen, atmete erleichtert auf. – »Heute nachmittag«, sagte der Justizrat, »wollen wir alle hinausgehen und es uns gründlich ansehen.« – »Wieviel hat's gekostet?« fragte Ursula. Aber ihr Vater sagte wieder, das gehe sie nichts an, worauf sie etwas hochtrabend entgegnete, sie hoffe, daß es wenigstens nicht hypothekarisch belastet sei.

Am Nachmittag wanderten sie wirklich alle hinaus. – »Thomas«, sagte Frau Elisabeth, »du weißt, ich kann es nicht leiden, wenn du für dich allein gehst. Du gehörst doch zu uns; schämst du dich, daß du Eltern hast?« – Das war wieder ganz so gesprochen, als wenn er ein kleines Kind wäre. – »Wenn ich doch lieber allein gehen mag!« – »Wenn du mit uns gehst, bist du eben nicht allein«, sagte sein Vater. Das war ein Befehl, und Thomas kam ihm sogleich nach.

Jetzt ging er mürrisch nebenher. Dieses ganze Wohnungansehen war so albern! Als wenn ein Tier besichtigt würde! In bester Laune hatte er noch seinen Hut aufgesetzt, nun war mit einem Male alle gute Stimmung dahin; es war ihm ganz gleichgültig, ob er das Haus sah oder nicht. Er war so gereizt und wortkarg, daß der Justizrat plötzlich stehenblieb und sagte: »Nun habe ich es satt; du kannst nach Hause gehen, wir brauchen dich nicht.« – Da drohte ihn auf einmal irgend etwas zu überwältigen, mit der größten Anstrengung beherrschte er sich und drängte seine Tränen zurück. Seine Mutter faßte ihn am Ärmel und sagte im Weiterschreiten: »Thomas, gib dir Mühe, sei vernünftig.« – Merkwürdig, dachte sie, was für feine Nerven er doch hat, daß ein hartes Wort so heftig auf ihn wirkt. – Jene Aufwallung verging so schnell, wie sie gekommen war; Frau Elisabeth zog ihn ins Gespräch. – – »Thomas, pfeif nicht«, bemerkte Ursula; »mußt du dich denn immer in Extremen bewegen?«

»Dies ist also die Straße«, sagte Frau Elisabeth endlich, »und dort hinten ist das Haus; habt ihr es euch so vorgestellt?« – »Ja«, sagte Ursula sofort, obwohl sie nicht gleich wußte, ob ihre Mutter das rechte oder das linke meine.

Sie blieben nun vor dem Neubau stehen, der, etwas zurückgezogen von der Straße, wie eine große leere Schachtel dastand. Das Dach war platt; das war das erste, was Thomas auffiel, was er schön fand. Dann sah er den feingegliederten Fries, der es in seiner Höhe umzog, und dann die schmalen Linien, die die Fenster, welche noch nicht da waren, nach außen hin abgrenzten. Alsdann übersah er das Ganze. Irgend etwas tat ihm wohl, wenn er die Höhe und die Breite zusammen ansah. – »Du hast Sinn für Proportionen«, sagte der Justizrat, »paß nur auf, wie das weitergeht!« Sie schritten durch das weitgeöffnete, niedrige, mit Farbe bespritzte Gittertor die kleine Steintreppe hinan, die zum Hauptportal hinaufführte, und traten in den Vorplatz. Durch hohle Türöffnungen sah man nach drei Seiten in lauter leere, sehr helle Räume. Hämmern schallte von oben herab. Jedes Zimmer stand, wie der Justizrat seiner Frau mit lauter Stimme erklärte, mit dem Vorplatz in unmittelbarer Verbindung, und sie waren, soweit es anging, auch wieder unter sich verbunden. Sie traten in den nächsten Raum ein. Eine Türöffnung, die fast die ganze Wandfläche einnahm, führte in den linksbenachbarten, eine andere, ähnliche, aber kleinere, nach rechts, und gegenüber blendete ein riesiges Fensterviereck. Die Wände zeigten noch keine Tapete, und Ursula beschwerte sich über den schlechten Fußboden. – »Dies könnte das Wohnzimmer werden«, wandte sich der Justizrat an Frau Elisabeth, »und das nebenan das Eßzimmer; oder dieses das Eßzimmer und das nebenan das Wohnzimmer; oder noch besser: Dieses mein Arbeitszimmer, weil es so viel Licht hat, ich lasse dann einfach eine doppelte Tür nach dem Vorplatz machen, der Raum nebenan kann Eßzimmer bleiben, und das Wohnzimmer« – er ging mit schnellen Schritten voran, verschwand, und seine Stimme schallte laut von irgendwoher: »Das Wohnzimmer könnte hier sein!« – »So kommt doch!« setzte er nach einer Pause etwas ungeduldig hinzu, und Frau Elisabeth erschien in der Türöffnung, die Hand auf Thomas' Schulter gelegt. »Es geht in den Garten hinein!« setzte er hinzu, indem er aus dem Fenster deutete. »Elisabeth, so äußere dich doch auch einmal!« – Sie nahm sich zusammen und sagte: »Ja, das könnte ein wunderschönes Wohnzimmer werden; und die Aussicht auf den Garten« – sie trat zum Fenster, kehrte aber gleich wieder zurück und fuhr fort: »Das kann alles sehr schön werden, jetzt ist es ja noch etwas unfertig.« – »Drüben ist noch ein fünfter Raum, wenn du den vielleicht lieber als Wohnzimmer hättest!« Er schritt wieder voran, und diesmal klangen alle Schritte lauter, denn Frau Elisabeth beeilte sich, ihm mit Thomas zu folgen. Dann wanderten sie wieder in den verlassenen zurück. Plötzlich stürmte etwas die Treppe hinunter. Es war Ursula, und sie rief: »Ich bin oben auf dem Boden gewesen, aber ich konnte nicht aufs Dach hinauf; die Leiter ist noch nicht da. Mein Schlafzimmer ist wunderschön, es hat einen Balkon. Man kann von da allen Leuten in die Fenster sehen.« – Sie lief wieder hinauf, die anderen folgten unwillkürlich, in den ersten Stock, wo sie Arbeiter am Boden und an den Wänden beschäftigt vorfanden. Ursulas Balkonzimmertraum ward zerstört, ihr Vater sagte, dieser Raum würde das Schlafzimmer ihrer Eltern. – »Was meinst du, Elisabeth, wenn wir es ganz in Grau und glattem Silber hielten?« Thomas horchte auf. – »Dazu passen unsere Möbel nicht«, meinte Frau Elisabeth. – »Die alten kämen selbstverständlich nicht hinein; überhaupt mit den alten Möbeln werden wir hier kaum etwas anfangen können; es wird eine furchtbar teure Sache werden, aber ich sage mir: Wenn schon, denn schon. Wenn ich bedenke, daß der größte Teil doch nichts mehr taugt, daß mindestens die Hälfte weggeworfen, alles übrige aber neu bezogen, poliert, gestrichen werden müßte, und daß nachher doch alles nicht wie neu aussieht, und plötzlich, so wie letzte Woche, irgendwo ein Bein bricht, wenn man sich hinsetzen will: Mir ist schon lieber, ich gebe auf einmal viel Geld aus, als so nach und nach.« Frau Elisabeth sträubte sich gegen diesen Gedanken: » Laß uns nach unten gehen », sagte sie »ich kann das Gehämmer nicht mehr ertragen.«

Auf dem Nachhauseweg ging Thomas wieder allein; er hatte die Ermahnung von vorhin vergessen; die neuen Eindrücke waren zu stark. Namentlich an das Grau und das glatte Silber im Schlafzimmer seiner Eltern mußte er denken.

Die Fertigstellung des Hauses schritt vorwärts. Tapetenmuster wurden ausgesucht, und es zeigte sich, daß der Justizrat nicht sehr sicher in seinem Geschmacke war. Was seine Frau vorschlug, gefiel ihm auch nicht, denn sie wählte stets einfache, unauffällige Dinge, und so entschloß er sich endlich, die ganze Frage der Inneneinrichtung Fachleuten zu übertragen, die mehr Erfahrung, Geschmack und Sicherheit in der Zusammenstellung aller Dinge hatten. – »Eins muß zum anderen stimmen«, sagte er; »eine braune, großgeblümte Tapete paßt wohl hier in unser altes Eßzimmer, wo alle Möbel sowieso durch ihr Alter dunkel geworden sind, aber für ein Zimmer, in dem alles aus gebeiztem Eichenholz ist, paßt sie nicht.«

Thomas sah das neue Haus mit den neuen Tapeten wieder, und sie gefielen ihm ausnehmend wohl. Er hatte so etwas überhaupt noch nie gesehen, solche schlanken, kerzengeraden Stengelblumen, solche schöngewellten Linien, die die Wände unter dem Plafond umzogen, solche bunten und doch einfachen und vornehmen Muster, die fast zu flimmern schienen. Die Fenster waren nun auch eingesetzt und hatten große, einzige dicke Scheiben in ihren Flügeln, und man konnte sie mit einem kleinen Drehen an den polierten Wirbeln öffnen, anders als zu Hause die riesigen Fenster mit den vielen dünnen grünlichen Scheiben und dem morschen Holz, von dem die weiße Farbe abgesprungen war. Und wie er erst die Zeichnungen der neuen Möbel sah, erfaßte ihn eine ordentliche Ungeduld, daß alles möglichst schnell vollendet werde. – Die Zeit des Umzuges rückte näher und näher.

Frau Elisabeth wunderte sich über Thomas. Sie hatte gefürchtet, der Wechsel, die Trennung von dem alten Hause würde ihm sehr schwer werden, und nun sah sie, daß er kaum etwas zu fühlen schien. Sie selbst hatte dieses Haus nie sehr geliebt, aber nun, wo sie es verlassen sollte, fühlte sie doch stark, daß sie durch das lange Wohnen mit ihm verwachsen war. Wie mußte es erst Thomas gehen, der in ihm geboren war, der in ihm seine ganze Kindheit durchlebte! Sie schwieg, denn sie dachte: Besser für ihn, wenn er jetzt darüber hinwegkommt, ohne es zu merken; später wird der Schmerz schon nachkommen.

Einmal kam Thomas dazu, wie sie kleine, viereckige, verblaßte und verdunkelte Papierstücke von verschiedenen Farben zusammenlegte. – »Was ist das?« fragte er. – »Das sind kleine Stücke aus unseren alten Tapeten«, sagte sie, »die ich herausgeschnitten habe, damit du einmal später eine Erinnerung hast.« – Thomas sah zerstreut darauf hin und meinte: Solche Tapeten würden wirklich nicht in das neue Haus passen; Papa hat ganz recht. – »Thomas«, sagte Frau Elisabeth, »tut es dir gar nicht leid, daß wir nun bald das Haus verlassen?« – Sie sah ihm eindringlich in die Augen. Da stieg es wieder in ihm empor, wie damals auf der Straße. – »Es muß ja doch so sein«, sagte er mit trockener, fast ungeduldiger Stimme. Er las in den Augen seiner Mutter einen stillen Vorwurf, und das ärgerte ihn beinah. – Wie soll man denn nun eigentlich sein? dachte er; kann man es ihnen denn niemals recht machen? –

»Thomas«, sagte seine Mutter ein andermal, »bald wirst du nicht mehr in dem schönen großen Garten sein können; weshalb sitzt du immer hier oben und liest Geschichten? Du wirst es noch einmal bereuen, später, wenn alles anders ist. Ich weiß doch, wie du an dem Garten hängst; später wirst du ihn dir oft zurückwünschen. Thomas, ich rede mit dir, lies doch nicht, wenn ich mit dir spreche.« – Er erhob sich mürrisch, nahm sein Buch unter den Arm und ging in den Garten. – Wenn sie weiß, dachte er, daß ich an all dem so hänge, weshalb läßt sie es dann zu, daß alles verkauft wird an fremde Leute? Sie nehmen es mir weg und machen mich noch aufmerksam darauf, wie schön es ist und wieviel ich verliere, wenn ich es nicht mehr habe.

Halb in Trotz sah er umher. »Es ist mir ja ganz gleichgültig«, sagte er halblaut, »ob ich von hier fortgehe oder nicht; meinetwegen können sie nach ein paar Jahren auch das nächste Haus wieder verkaufen, es ist mir ganz gleichgültig, sie müssen es selbst verantworten, was sie tun. – So ein Baum«, setzte er heftiger hinzu, indem er an den alten Fliederstamm herantrat, worin er sich einst einen Sitz gezimmert, dessen Reste noch zu sehen waren – »was ist denn so ein Baum anders als ein anderer Baum? Versteht er mich etwa, wenn ich mit ihm rede?«

Eine plötzliche Wut erfaßte ihn, und er trat mit aller Kraft mit dem Absatz seines Stiefels gegen den Stamm, daß die morsche Rinde splitterte. Seine Lippen zitterten. Schweigend, unbeweglich stand der Baum, als sei ihm nichts geschehen. Abermals überlief ihn eine Welle, aber mitten in der Bewegung blieb er regungslos, wie erstarrt zwischen Entschluß und Tat. Er fühlte mit einem Male überhaupt nichts mehr und war plötzlich matt. Was ist das? dachte er und schloß die Augen. Aber die Schwäche verging, und wie er sie wieder öffnete, wußte er sich nicht zu besinnen auf das, was eben erst geschehen war. – Habe ich im Stehen geträumt? dachte er verwirrt; aber da fiel sein Blick auf die abgetretene Rinde; er nahm sie und fügte sie, so gut es gehen wollte, wieder in den Stamm.


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