Friedrich Huch
Mao
Friedrich Huch

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Am nächsten Morgen erwachte er in aller Frühe und wunderte sich über die gelbe Helligkeit im Zimmer. Sein Vater lag im Bett, neben ihm standen fünf brennende Kerzen; in der Hand hielt er ein Buch und las. Wie lange mochte er wohl schon gelesen haben? Und was las er? Thomas dachte, daß es ein böses Buch sei, ein schlimmes. Durch einen Spalt der Vorhänge schimmerte die Morgenröte, fern und still. Nicht der leiseste Laut war vernehmbar, bewegungslos blickte der Justizrat in das Buch vor seinen Augen. Zwischen Decke und Kissen hindurch sah Thomas auf ihn hin wie von einer fernen Warte. Was dachte jetzt wohl sein Vater? Ob Thomas es wohl verstehen würde, wenn er es ihm sagte? Und ob er wohl später einmal dasselbe denken würde? – Die Lichter waren tief herabgebrannt, zarte Zäune krönten sie im Rund, wie kleine Galerien die Spitzen ferner schornsteinartiger, weißer Türme. Jetzt schlug er eine Seite um, es war die erste Bewegung, die Thomas vernahm in dem schweigenden, kalten Morgen. Die Kerzen wehten leise, hie und da bildeten sich Breschen in den Galerien, die Stäbe fielen nieder und zerlösten sich.

Auf einmal sah der Justizrat mit einer raschen Wendung des Kopfes zu Thomas hinüber, und gleich darauf blies er fünfmal in schneller, kurzer Folge, sprang mit leichtem Satze aus dem Bette, trennte die Gardinen, daß kaltes, helles Licht hereinfiel, und weckte Thomas, der sich schlafend stellte. Mit ödem Gefühl erhob er sich; als sie später allein im halbhellen Saal ihr Frühstück nahmen, saß er mit ganz verschlossenem Herzen, ja mit Verstocktheit, und nahm sich vor, wenn sein Vater von Mao zu reden begänne, ihm mit keiner Silbe zu antworten. Aber offenbar hatte der Justizrat das Bild schon lange wieder vergessen, denn er gedachte seiner mit keinem Worte. Thomas betrachtete ihn langsam wieder mit seinen Tagesaugen, und nun fühlte er sich nur noch befangen vor ihm.

Sie schritten zum Haus hinaus, die noch unbelebte Straße hinauf, die zum Stadttor führte; an Alexanders Haus vorbei, dessen oberes Stockwerk verhängt war, während im unteren der Diener die Fenster öffnete. Da oben lagen sie alle zu Bett, die ganze elende Familie! Thomas stellte sich die lange Fensterlinie als ein einziges Schlafzimmer vor, mit einem einzigen, viel Ellen breiten Bett, darin lag die gesamte Gesellschaft, wie strangulierte Füchse, mit spitzen Schnauzen und heraushängenden Zungen, die säuberlich auf dem hochgezogenen weißen Deckbett glänzten.

Der Justizrat ließ ihm aber keine Zeit zu solchen Betrachtungen; er mußte all seine Gedanken anspannen, wie sein Vater ihn nun in die Anfangsgründe des Lateinischen einführte, die verschiedensten Abschweifungen machte und doch immer gleich wieder zur Hauptsache zurückkehrte, während Thomas' Gedanken sich dann jedesmal in Nebel verlieren wollten. Zwischendurch deutete er mit dem Stock auf diesen und jenen Baum, fragte nach dem Namen, und es zeigte sich, daß Thomas nicht das geringste wußte, wenn jene Bäume nicht auch zufällig daheim im Garten standen. – Sie schritten die Landstraße hinab; vor ihnen und zu beiden Seiten lag das Flachland; kleine ziegelrote Dörfchen in Nähe und Ferne, ernste Wälderstreifen am Horizonte, alles überschimmert von dem nebeligen Schein der Frühsonne. Ein frischer, kühler Wind drehte die riesigen Flügel der Mühlen, die weithin verstreut lagen, und summte verloren in den Telegraphenstangen, die sich den Landweg hinabzogen. Auf einmal erblickte Thomas den Mond am Himmel, glanzlos weiß, durchbrochen, wie eine Scheibe halb aufgetauten Eises. Und ohne daß er wußte, wie es kam, war ihm, als sei es das entwichene verblaßte Licht des Nachtgestirnes, das als Töne durch das Holz der Telegraphenstangen wehte – verworren, alt und heimatlos. Eine tiefe Traurigkeit ergriff ihn mehr und mehr, eine verwehte, dumpfe Sehnsucht. Wieder dachte er an Mao. Oder hatte er schon die ganze Zeit an ihn gedacht? – Er wußte es nicht. – Sein Vater sagte, er sei zerstreut, und fügte hinzu, er habe nun für heute morgen genug gelernt, außerdem müsse er frisch sein für die Schule, morgen würden sie weiter fortfahren.

Als sie zu Hause anlangten, saß Ursula erst am Frühstückstisch. Es war die Zeit, wo man sich zum Schulgang rüstete. – »Siehst du,« sagte der Justizrat, »wie schön es ist, frühmorgens aufzustehen. Was haben wir beide alles zusammen gesprochen und gesehen, während deine Schwester noch im Bette lag und schlief! Der Tag ist so kurz oder so lang, wie man ihn sich macht. Wie wundervoll war es da draußen in der Morgensonne!« – So sprach sein Vater, und er hatte nicht den kranken Mond gesehen, der einsam und verlassen am Himmel stand.

Als Thomas zur Schule ging, fand er ihn nicht mehr; zu viel Häuser ragten um ihn herum, vielleicht war er auch gar nicht mehr da.

Am Abend brachte er seinem Vater die verlangte schriftliche Arbeit, am nächsten Morgen ward sie mitgenommen und durchgesprochen.

So ging Thomas nun jeden Tag mit seinem Vater in der Frühe hinaus, und machte Fortschritte in den Wissenschaften; denn der Justizrat hatte eine frische, lebendige Art zu lehren, das Gelehrte in ihm wachzuhalten und durch Kreuz- und Querfragen zu befestigen. Wenn sie dann heimkamen und durch die hohe, dämmerige Diele die niedrigen, breiten Treppen emporschritten, so war es Thomas zuweilen, als beginne sich leise etwas Fremdes zwischen ihn und etwas anderes zu schieben, etwas anderes, das er nicht mit Namen nennen konnte, aber das unzertrennbar mit dem Hause verbunden war.

Eines Abends saß er allein in seinem Zimmer und starrte auf die Wand, an der einst sein Bett gestanden hatte, auf den Fleck, wo einst Maos Bild hing. Er zauberte sich seine Züge vor die Seele, es wollte nicht gelingen; er konnte sie nur noch ahnen, aber nicht mehr sehen. Eine große Unruhe erfaßte ihn. Er wollte und mußte Maos Bild sehen. Wo war es? Grübelnd starrte er auf das dunkle Viereck an der Wand. – Dieselbe Nacht erwachte er an einem Traum: Er hatte ihn gesehen, groß, seinen ganzen Körper, mit einer Deutlichkeit, die über den gemalten Schein hinausging. Aufrecht hatte er gestanden und mit traurigen Augen unbeweglich auf ihn geblickt. – Wo hatte Thomas ihn gesehen? Mit seiner ganzen Kraft dachte er nach; und plötzlich stand der Raum vor ihm – jenes geheimnisvolle Zimmer, in dem der riesige Kamin stand, dessen Schlot als schwarzes Loch nach oben führte.

Thomas kämpfte mit einem Entschluß; endlich erhob er sich leise, schlich zu dem Tisch an seines Vaters Bette, tastete, bis er eine Kerze fand und Zündhölzer, und verließ den Raum.

Kalte Nachtluft stand in dem leeren Gange, seine Füße gingen wie auf Eis; aus Vorsicht hatte er sie unbeschuht gelassen. Schwarzgrau blickten die leeren Fenster aus der Höhe nieder, der Gang lag wie in Totenstarre.

Jetzt bin ich der einzige, der wach ist! dachte er und erschien sich selber wie ein Geist; er wunderte sich, daß er gar keine Furcht empfand. Dann ging er weiter, setzte Fuß vor Fuß, und obgleich er fühlte, daß er vorwärts schritt, schien es doch, als ginge er immer auf derselben Stelle.

Jetzt erst zündete er seine Kerze an. Der nächste Türwirbel blinkte tückisch schon von weitem, als erwarte er ihn lange. Thomas streckte seinen Arm aus, und wie er das kalte Messing berührte, war seine Furcht dahin. Jetzt stand er in dem Eßzimmer. Auch hier war es nicht geheuer. Die Reste des Abendtees standen noch auf dem Tische, die Stühle waren verschoben, es hatte den Anschein, als ob noch eben Menschen hier gesessen und beim Geräusch der Türklinke sehr schnell und sehr behutsam sich auf den Zehen in die Mauer zurückgezogen hätten und unsichtbar nun spähten, was da käme. Mißtrauisch blickte er auf die Wände. Innerlich eilend schritt er doch langsam durch den Raum, und wie er die nächste Tür jetzt öffnete, fühlte er sich halb in Sicherheit. Aber auch nicht lange.

Er war im Vorzimmer; nach allen Seiten führten Türen; es schwirrte von unhörbaren Tritten. Schnell und leise trat er in den Wohnraum.

Von weitem warf der hohe Spiegel schweigend sein eigenes Bild zurück; er sah sich aus der Ferne, im weißen Nachtkleid, die Kerze in der Hand. Er mußte an dem Spiegel vorbei. Zögernd schritt er nach vorn, sein Bild kam ihm lautlos entgegen. Nun stand er dicht vor ihm, er fürchtete sich vor seinen eigenen Augen, die ihm fremd und geisterhaft entgegenblickten. Die Stille summte ihm im Ohr – da knackte es laut hinter ihm. Das Blut jagte ihm zum Herzen, jäh starrte er in die Dämmerung, die sich allmählich vor seinen Blicken etwas lichtete. – Totenstille lag um ihn. – War es das alte geschnörkelte Sofa, der große dunkle Sessel, der wie erstarrt dort in der Ecke wuchtete, oder war es das Haus selbst, das sich dehnte? Die große Achse fiel ihm wieder ein, die es ungesehen durchzog. Unter seinen nackten Sohlen strich es leise wie mit Fingerspitzen. – Schnell ging er durch die nächste Tür, am Schreibtisch seines Vaters vorbei, und endlich öffnete er zögernd die letzte.

Er war am Ziel; dies war der Raum, in dem er Mao sah. Fast leer gähnte er wie ein ungeheurer hohler Würfel. Sein Licht flackerte und warf ungewisse Schatten.

»Mao,« sagte er halblaut, »bist du da?« – Fremd schlugen seine Worte an sein Ohr. – Er lauschte. – Totenstille antwortete ihm.

»Mao«, sagte er, »hast du mich gerufen?« – Unbeweglich lag der Raum.

Da schritt er auf einen hohen, dunklen, flachen Schrank zu und öffnete:

Mao blickte ihm entgegen.

Das Licht entfiel seiner Hand und verlosch, er riß das Bild zu sich und preßte es mit beiden Armen im Dunkel an seine Brust. Alle Furcht, alle Angst war zergangen, er war geborgen und geschützt, heimisch und heimlich war das Unheimliche, die Nacht, die ihn mit Schrecken füllte, mütterlich und gnadenvoll.

Maos Bild begann im Wappenschilde unter dem höchsten Giebel zu ergrimmen, Traumklänge strahlten von ihm aus, unerreichbar schwebte es in höchsten Fernen, in weißer Glut, stille Lichter blinkten aus Tausenden von Fenstern; ohne daß er das Bannwort sprach, war die Zauberformel Wirklichkeit geworden: Die Welt verschwand, indem das Haus zur Welt ward, beherrscht von Maos nächtlichem Gestirn.

So kauerte er einsam in der Nacht, in tiefster Dunkelheit, allein mit einem stummen, geheimnisvollen Wesen, das ihm das teuerste auf der Weit war, im Herzen des alten Hauses, dessen langsam sterbende Seele noch einmal aufflackerte und in ihm menschliche Gestalt gewann, in ihm, der es nicht wußte, der seinen unverstandenen Schmerz und seine Todesahnung in das Sinnbild eines verschollenen Knaben trug, das ihm zum Höchsten wurde, und der doch fühlte in halbaufgetanen Bildern, daß über alles das hinaus riesenhaft ein anderer, tieferer Schmerz wehte über dem Abgrund einer verklungenen Welt, deren Schein noch ahnungsvoll aus der Tiefe zuckte.


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